Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Schrift“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 14 (1889), Seite 628631
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Schrift. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 14, Seite 628–631. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Schrift (Version vom 20.05.2021)

[628] Schrift (hierzu Beilage: „Schrifttafeln der wichtigsten Sprachen etc.“). Den Zweck der S., Mittelungen in die Ferne zu machen oder ihnen eine lange Dauer zu sichern, erreichen unzivilisierte Völker durch symbolische Geräte, z. B. durch Kerbhölzer für Schuldverschreibungen, durch die Tättowierung, die ebenfalls zur Beurkundung von Schulden, dann zur Volljährigkeitserklärung, zur Verewigung tapferer Thaten und zu noch andern Zwecken dient, u. dgl. Auch in Europa haben sich manche Überreste solcher Gebräuche erhalten. Die Inkas in Peru hatten eine ganz ausgebildete

[I]

Schrifttafeln der wichtigsten Sprachen.

[II]

[III]

[IV]

Die Entwickelung unsrer Schrift.

[629] Knotenschrift (s. Quipu), durch die sie ihre Mandate allen Beamten in ihrem Reich mitteilten. Bei den verschiedensten Stämmen ist man aber auch auf bildliche Darstellungen historischer Ereignisse gestoßen, und diese Bilderschrift, anfangs Ideenmalerei, pflegt sich je länger, je mehr an die Sprache anzuschließen. So hatten die Azteken in Mexiko eine ganze, leider durch die spanischen Eroberer vernichtete Litteratur, die in einer reinen Bilderschrift abgefaßt war, und fingen sogar, als die Missionäre sie zur Niederschrift des Vaterunsers veranlaßten, an, die Laute der Sprache in einer Art von Rebusschrift zu bezeichnen, indem sie z. B. für das lateinische Pater noster folgende Symbole gebrauchten: ein Fähnchen, aztekisch pan, dann ein Stein = tete, eine Kaktusfeige = nosch, wieder ein Stein = tete. Auch die Chinesen bedienten sich zuerst einer von den Ureinwohnern ihres Landes überkommenen Knoten-, dann einer von oben nach unten laufenden Bilderschrift, worin z. B. die Sonne durch eine Zeichnung der Sonne, ein Berg durch drei Spitzen, „fest, sicher“ durch einen kleinen Kreis auf hohem Untersatz ausgedrückt wurde. Durch Verkürzung der Bilder, Verbindung derselben mit Strichen und völlige Zusammensetzung entstand aus dieser schon im 3. Jahrtausend v. Chr. üblichen S. nach und nach eine völlige Wortschrift, in der jedes Wort sein besonderes Zeichen hatte. Nach und nach verloren die Zeichen ihre Bildlichkeit, indem man sie der Bequemlichkeit halber immer mehr abkürzte; zugleich kam die Rebusschrift auf, indem man das Zeichen für ein bestimmtes Wort auf ein andres gleichlautendes übertrug, dann aber ein sogen. Klassenzeichen beifügte, um seinen Begriff näher zu bestimmen. So gibt es ein Zeichen für pe, „weiß“; mit demselben Zeichen kann aber auch pe, „eine Cypressenart“, ausgedrückt werden, wenn man das Klassenzeichen für „Baum“ beifügt. Da die chinesische Sprache aus einer nicht großen Anzahl einsilbiger Wörter besteht, welche oft die verschiedensten Bedeutungen in sich vereinigen, so hilft hier die S. der Undeutlichkeit des mündlichen Ausdrucks ab; ja, sie kann den 500 Mill. Einwohnern Chinas als Reichssprache dienen, obschon sehr viele derselben kein Chinesisch verstehen. Freilich ist sie sehr schwer zu lernen, da sie an 100,000 Zeichen zählt, wovon indessen jetzt nur 8–10,000 nicht ganz selten und nur 2–3000 in gewöhnlichem Gebrauch sind. Schon in ihrer ältesten Periode ist auch die Hieroglyphenschrift der Ägypter eine Kombination von Haupt- und Klassen- oder Determinativzeichen; nur haben die Zeichen, wenigstens auf den Monumenten, ihrer dekorativen Bestimmung wegen den bildlichen Charakter niemals abgestreift, während allerdings die schon früh aus den Hieroglyphen entstandene abgekürzte hieratische Schriftart, noch mehr die spätere Kursivschrift, Demotisch genannt, gar nichts Bildliches mehr haben.

Außer der Schaffung von Determinativzeichen, wodurch z. B. das Bild für nefel, „Laute“, auch Fohlen, Jüngling, Jungfrau, Rekrut, Feier bedeuten kann, je nachdem das Determinativzeichen eines Pferdes, Mannes, einer Frau, eines Kriegers oder einer Flamme daneben steht, haben die Ägypter aber auch den weitern Schritt zur Silben- und von da zur reinen Lautschrift gemacht, indem sie einen Reihe von Bildern nur noch eine Silbe oder Konsonantengruppe des betreffenden Wortes oder nur seinen Anfangsbuchstaben ausdrücken ließen. So wurde das Bild des Adlers (ahom) gebraucht, um den Buchstaben a, das des Löwen (labo), um den Buchstaben l auszudrücken. Doch blieb daneben, namentlich in der Denkmälerschrift, wohl aus künstlerischen Gründen stets die alte Schriftart im Brauch, und erst die Phöniker machten den weitern Schritt zur reinen Lautschrift, indem sie eine Reihe von wahrscheinlich 22 solcher Buchstabenzeichen auswählten und damit alle Wörter ihrer Sprache ausdrückten. Wahrscheinlich sind sie auch die Erfinder der Namen für diese Zeichen gewesen, die sich in übereinstimmender Weise bei den Griechen und Hebräern finden (z. B. griechisch alpha, hebräisch aleph) und von der Form derselben hergenommen scheinen. Da diese Zeichen, wie sie in alten phönikischen Inschriften vorliegen, eine große Ähnlichkeit mit gleichbedeutenden Zeichen der hieratischen S. der Ägypter haben, so nimmt man jetzt nach E. de Rougé in Übereinstimmung mit der von dem Geschichtschreiber Tacitus mitgeteilten Tradition des Altertums ziemlich allgemein an, daß die phönikische S. aus Ägypten stamme, und zwar ist nach de Rougé diese Entlehnung etwa in das 9. Jahrh. v. Chr. zu setzen. Wuttke leitet dagegen die phönikische S. aus der Keilschrift der Assyrer und Babylonier ab, welche jedoch nach ihm aus ägyptischen Anregungen entstanden ist; ähnlich Deecke in der „Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft“, Bd. 31 (Leipz. 1877), dessen Zusammenstellungen jedoch von dem englischen Assyriologen Sayce widerlegt worden sind. Die meisten Forscher sehen aus guten Gründen in der Keilschrift (s. d.) eine Erfindung Mesopotamiens; jedenfalls hat sie sich selbständig aus einer bloßen Bilder- und Rebusschrift zu einer syllabischen und zuletzt bei den alten Persern zu einer wenn auch noch nicht ganz vollständigen Lautschrift entwickelt. (s. die Schrifttafel). Die chinesische S. ist ebenfalls wenigstens zu einer Silbenschrift entwickelt worden von den Japanern, deren Alphabet, Katakana genannt, aus einer unbeträchtlichen Anzahl von Silbenzeichen besteht, die aus Bruchstücken chinesischer Zeichen entstanden sind. Was nun das phönikische Alphabet, die Mutter fast aller Alphabete der neuern Kulturvölker (s. die Tafel „Entwickelung unsrer Schrift“), betrifft, so ist dies ebenfalls eine Silbenschrift, aber mit der Besonderheit, daß nur die Konsonanten einer Silbe bezeichnet, die Vokale dem Leser zur Ergänzung überlassen werden, ganz natürlich in einer semitischen Sprache, welche die Konsonanten als die eigentlichen Träger der Bedeutung eines Wortes behandelt und durch die Vokale nur gewisse Schattierungen dieser Grundbedeutung ausdrückt. Das phönikische Alphabet wurde daher auch von den übrigen semitischen Völkern mit geringen Veränderungen übernommen und namentlich zu verschiedenen Zeiten das aramäisch-syrische, hebräische, arabische und himjaritische (südarabische) Alphabet daraus gebildet; das arabische wurde dann mit unwesentlichen Veränderungen auch dazu gebraucht, um Persisch, Afghanisch, Hindustani, die jetzt in Ostindien verbreitetste Sprache, und Türkisch damit zu schreiben. Aus dem spätern syrischen Alphabet ist das der uigurischen Türken, aus diesem das Alphabet der Mandschu, aus diesem entlich das mongolische Alphabet entstanden, so daß hiermit das phönikische Alphabet bis in den äußersten Nordosten Asiens gedrungen ist. Von dem himjaritischen Alphabet stammen das äthiopische, libysche und andre semitische Alphabete Nordafrikas ab; aus einer alten Form des aramäisch-syrischen entstand schon früh die Zend- und Pehlewischrift in Iran, und wahrscheinlich stammt auch das alte Sanskritalphabet, in seiner gangbarsten Form Devanagari (s. d. und die Tafel) genannt, von ihm ab. Die älteste Sanskritschrift wurde dann ihrerseits [630] die Mutter des Pâli-Alphabets der Buddhisten und der meisten für die jetzigen Sprachen Indiens üblichen Alphabete: Bengali, Gudscherati, Telugu, Kanaresisch, Sindhi etc.; ja, sie gelangte mit dem Buddhismus nach Tibet und nach den Inseln und dem Festland von Hinterindien, wo sie freilich am stärksten verändert wurde. Bei allen Umwandlungen hat die phönikische S. in ihrer Wanderung nach Osten, durch Asien, immer die Eigentümlichkeit beibehalten, vorzugsweise die Konsonanten zu bezeichnen und die Vokale nur durch Beifügung von Strichen, Punkten oder sonstigen untergeordneten Zeichen auszudrücken; dagegen wurde sie in ihrem Vordringen nach Westen, durch Europa, alsbald zur reinen Lautschrift entwickelt, in welcher die Vokale ebensogut besondere Zeichen haben wie die Konsonanten.

Daß das griechische Alphabet aus Phönikien stammt, berichten uns nicht nur die Griechen selbst, sondern es sprechen dafür auch die echt phönikischen Namen der griechischen Buchstaben (z. B. Alpha = hebräisch und phönikisch Aleph; Gamma = Gimel, „Kamel“) und die Form der ältesten griechischen Schriftzeichen. Gleich bei der ersten Herübernahme der phönikischen S. wurden aber vier phönikische Zeichen für im Griechischen nicht vorkommende Laute in die Vokalzeichen Α, Ε, Ι, Ο verwandelt und gleichzeitig ein wahrscheinlich in Anlehnung an das sechste Zeichen (s. die Tafel) entstandenes Vokalzeichen Υ beigefügt. So entstand ein Alphabet von 23 Zeichen, das mit Υ endigte. Der phönikische Ursprung des ältesten griechischen Alphabets zeigt sich ferner noch darin deutlich, daß es in der ältesten Zeit wie die semitschen Alphabete von rechts nach links geschrieben wurde, woraus sich nach einer Übergangsperiode, in der man abwechselnd links- und rechtsläufig schrieb (s. Bustrophedon), die spätere Sitte, rechtsläufig zu schreiben, entwickelte. Schon früh wurden jedoch an dem ältesten griechischen Alphabet, das man aus den auf den Inseln Kreta, Melos und Thera gefundenen Inschriften kennt, in den meisten griechischen Staaten gewisse Veränderungen vorgenommen, um sie dem Genius der griechischen Sprache noch mehr anzupassen. Von den zahlreichen phönikischen Zischlauten war schon von Anfang an einer zur Bezeichnung des griechischen Doppellauts Ζ = ds verwendet worden. Einen zweiten ließ man später ganz fallen, und ein dritter, das griechische Ξ, wurde zur Bezeichnung des Doppellauts ks verwendet. Außerdem beseitigte man das Zeichen für w (Digamma) und das sogen. Koppa (das 6. und 17. Zeichen der Tafel) und erfand für die zwei im Phönikischen nicht vorhandenen Laute f und ch das Φ und Χ und für den Doppellaut ps das Zeichen Ψ und hängte diese drei neuen Zeichen an das Ende des alten Alphabets an. Auch regte sich das Bedürfnis nach einer Bezeichnung der gedehnten Vokale, und so wurde aus dem alten Hauchzeichen das Zeichen für langes e, Η, aus dem Zeichen für kurzes o durch Anhängung zweier Haken das Zeichen für langes o, Ω, gewonnen, das nun den Schlußstein des ganzen Alphabets bildete. Zum Abschluß gelangten diese Änderungen durch den unter dem Archon Eukleides (403 v. Chr.) gefaßten Beschluß der Athener, das auf die angegebene Weise entstandene sogen. ionische Alphabet von 24 Zeichen von Staats wegen einzuführen, ein Beispiel, dem bald alle andern Griechen nachfolgten, während früher, wie die Inschriften zeigen, eine große Ungleichheit geherrscht hatte. Zu einer Zeit, als ein Teil der erwähnten Neuerungen, aber noch nicht alle, durchgeführt waren, und zwar offenbar schon sehr früh, erhielten die Latiner, Etrusker und andere Völker Italiens ihre Alphabete von den in Unteritalien angesiedelten Griechen. Das älteste Alphabet der Latiner und speziell der Römer bestand in seiner gewöhnlichen Form aus 20 Zeichen, die wie in dem ältesten griechischen Alphabet mit A begannen und mit V endigten. Dabei hatte H seine Bedeutung als Hauchlaut behauptet, auch die zwei k-Laute, K und Q, waren erhalten geblieben; aber F, das phönikische Vau und altgriechische Digamma, hatte sich nur in der Bedeutung eines f behauptet, das Θ, das Ξ und das eine s waren ganz verschwunden, und das griechische Γ hatte sich nur in der Geltung eines k behauptet, während Π und Ρ ihre Form verändert hatten. Sehr früh kam hierzu das Χ = x. Ferner wurde das Z verdrängt, und seine Stelle nahm das aus C umgebildete G ein; aber um das Jahr 100 v. Chr. wurden aus dem griechischen Alphabet Υ als y und Z aufs neue eingeführt und an den Schluß des Alphabets gesetzt, das nun aus 23 Buchstaben bestand. Mit dem Christentum und der römischen Zivilisation fand das lateinische Alphabet seit dem Beginn des Mittelalters und schon früher bei der großen Mehrzahl der europäischen Völker Eingang. Wo sich frühere Schriftarten vorfanden, verdrängte es dieselben; diese frühern Schriftarten, nämlich die alten Alphabete der Germanen (Runen), Gallier, der Walliser in England u. a., sind übrigens, wie die neuern Forschungen gelehrt haben, samt und sonders Ableitungen aus dem griechischen Alphabet. In späterer, schon christlicher Zeit aus dem griechischen Alphabet zurechtgemachte Schriften sind die gotische, die von dem bekannten Verfasser der gotischen Bibelübersetzung, Ulfilas, herrührt (4. Jahrh.), die armenische und georgische, die koptische in Ägypten und die cyrillische in den slawischen Ländern. Letztere, von dem Slawenapostel Cyrillus (9. Jahrh.) herrührend, ist die Mutter der russischen S., die auch bei den meisten südslawischen Völkern im Gebrauch ist. Die lateinische S. erfuhr im Mittelalter nach Zeit und Ort viele Wandlungen und wurde durch die Trennung des U und V, dann, namentlich in Deutschland und England, durch die Bildung des doppelten V = W um zwei neue Buchstaben vermehrt, zu denen sich im Deutschen noch die Zeichen für die Umlaute ä, ö, ü gesellten, kehrte aber später in den meisten Ländern wieder zu einer der römischen S. genäherten Form zurück, wobei außer dem V, U, W auch das erst aus dem 16. Jahrh. stammende J sich behauptete. Nur in Deutschland, teilweise auch in Dänemark und Schweden, blieb man (abgesehen von dem I, i) bei der zur Zeit der Einführung des Buchdrucks üblichen sogen. gotischen oder Frakturschrift stehen. Die so entstandene Ungleichheit wird sich nur beseitigen lassen, wenn man auch in Deutschland wieder zu den Antiqua zurückkehrt (vgl. Schreibkunst). Die Entstehung der Antiqua und ihre allmähliche Umwandlung in die jetzige deutsche S. zeigt die Tafel, Seite IV: „Entwickelung unsrer Schrift“ (vgl. auch Paläographie). Vgl. Steinthal, Die Entwickelung der S. (Berl. 1852); Kirchhoff, Studien zur Geschichte des griechischen Alphabets (4. Aufl., das. 1887); Fr. Müller, Reise der Novara, linguistischer Teil (Wien 1867); Brugsch, Über Bildung und Entwickelung der S. (Berl. 1868)[WS 1]; Wuttke, Entstehung der S. (Leipz. 1872, Abbildungen dazu 1873); Lenormant, Essai sur la propagation de l’alphabet phénicien (2. Aufl., Par. 1875, 2 Bde.); Fabretti, Paläographische Studien (deutsch, Leipz. 1877); Burnell, Elements of South-Indian palaeography [631] (2. Aufl., Lond. 1878); „Alphabete des gesamten Erdkreises aus der k. k. Hof- und Staatsdruckerei in Wien“ (2. Aufl., Wien 1876); Faulmann,[WS 2] Das Buch der S. (die Alphabete aller Völker, 2. Aufl., das. 1880); Derselbe, Illustrierte Geschichte der S. (das. 1880); J. Taylor, The alphabet, an account of the origin and development of letters (Lond. 1883, 2 Bde.).

Anmerkungen (Wikisource)