MKL1888:Schreibkunst
[626] Schreibkunst, die Kunst, Gedanken mittels durch Übereinkunft festgestellter Zeichen (Buchstaben) sichtbaren und dauernden Ausdruck zu geben, ist in den Ländern mit europäischer Kultur seit Anfang des 16. Jahrh. so allgemein geworden, daß sie nicht mehr als Kunst im höhern Sinn des Wortes, sondern nur noch als eine Fertigkeit angesehen wird. Von dem gewöhnlichen Schreiben, wobei es auf leichte Schreib- und Lesbarkeit der Schriftformen hauptsächlich ankommt, unterscheidet sich die eigentliche Schönschreibkunst oder Kalligraphie, welche neben Deutlichkeit vorzugsweise ästhetischen Effekt hervorzubringen strebt. Sie verlangt einen höhern Grad von Fertigkeit, ein richtiges Verständnis für schöne Formen und eine dem jeweiligen Zweck entsprechende harmonische Anordnung des Stoffs. Zur Schönschreibkunst gehört deshalb auch die Ausführung solcher Buchstaben, deren Formen, über die Grenze des Notwendigen hinausgehend, in ihren eignen Zügen ornamentartig ausgeschmückt oder von geschwungenen Linien und andern Verzierungen umgeben sind. Derartige Schriften, welche nur gezeichnet werden können, sind Zierschriften, ihre Darstellung Schriftmalerei. Mit kleinen Malereien, d. h. wirklichen Gemälden, in Verbindung gebrachte Buchstaben sowie die Malereien zum Schmuck der Bücher überhaupt, wie sie im Mittelalter (besonders im 12. Jahrh.) üblich waren, heißen Miniaturen. Der erste Anfang der S. ist ebenso in Dunkel gehüllt wie der Ursprung der Sprache. Die ältesten Schriftdenkmäler reichen bis einige Jahrtausende v. Chr. und zeigen die S. schon in hoher Vollendung. Man schrieb anfangs auf Stein, Holz, Metall, Leder, dann auf Papyrus, mit Wachs überzogene Holztäfelchen, auf weichen Thon, später auf Pergament; seit Anfang des 14. Jahrh. schreibt man meist auf Papier. Die Schriftzeichen wurden, je nach dem Material, mit Hammer und Meißel eingehauen, mit hartem Griffel eingeritzt, mit Formen eingeprägt oder mit dem Pinsel, zugeschnittenem Schreibrohr und Federkielen farbig aufgetragen. An die Stelle der Federkiele sind mit dem zweiten Viertel unsers Jahrhunderts die Stahlschreibfedern getreten. Neben der gewöhnlichen Schreibschrift unterscheidet man noch die Stenographie (s. d.), die sich sehr kurzer, und die Geheimschreibkunst (Kryptographie), die sich besonders verabredeter (geheimer) Zeichen (s. Chifferschrift) bedient, während die eigentliche Schreib- oder Kurrentschrift („laufende Schrift“) die bekannten 24–26 Buchstaben des Alphabets (s. Schrift) in Anwendung bringt, und zwar teils als Großbuchstaben (zur Hervorhebung von Wörtern und Satzanfängen), teils als Kleinbuchstaben, eine verkürzte Form der Großbuchstaben. Die Schreibschrift strebt vorzugsweise Geläufigkeit an, verbindet daher die Buchstaben eines Wortes miteinander und zerfällt der Form nach, entsprechend den zwei Hauptklassen der Druckschrift: Antiqua und Fraktur (s. Schriftarten), in die runde lateinische (Antiqua-) und die spitze sogen. deutsche Schrift. Besondere [627] Arten der erstern sind die spezifisch italienische Schrift, bei welcher die Haarstriche dick und die Grundstriche dünn sind, und die Rundschrift mit ihren meist runden und außergewöhnlich starken Zügen. Die Grundlage der deutschen Schreib- wie Druckschrift ist die sogen. Kanzleischrift, eine größere, eckige und stark verschnörkelte deutsche Schrift, welche sich im Mittelalter aus den lateinischen Buchstaben entwickelte, jetzt aber nur noch als Zierschrift hier und da in Anwendung kommt.
Die Fertigkeit im Schreiben wird erreicht durch praktische, vom Leichten zum Schwierigen fortschreitende Übung unter gleichzeitiger theoretischer Belehrung über die Schreibwerkzeuge und die Buchstabenformen. Je mehr eine zweckentsprechende Theorie die Übungen unterstützt, desto schneller und nachhaltiger ist der Erfolg. Den einfachen, klaren Zügen der Antiquaschrift haben anscheinend schon in der altrömischen Kunstepoche bestimmte Vorschriften für die Proportionen ihrer Formen zu Grunde gelegen. Ende des 15. Jahrh. fingen die Italiener Felix Felicianus und Lukas Paciuolus wieder an, die Formen der Antiqua-Großbuchstaben durch Anlegen von Kreisen und Linien auf geometrische Verhältnisse
Fig. 1. | Fig. 2. |
zu stützen (Fig. 1). Während dieser Fortschritt in Italien das Verständnis für die klassischen Formen der altrömischen (lateinischen) Buchstaben wieder herbeiführte und dadurch auch die Entwickelung einer reinern Form der Schreibschrift begünstigte, waren in Deutschland die zu Anfang des 16. Jahrh. von Albrecht Dürer („Underweisung der Messung“, Nürnb. 1525) versuchte Nachahmung jener Richtung und seine zu wenig systematische Anwendung einheitlicher geometrischer Formen (kleine Quadrate, Fig. 2) auf die gotische Schriftform (Fraktur, damals Textur genannt) nur vorübergehend von Erfolg. In Frankreich waren zu gleicher Zeit die ähnlichen Bestrebungen Geoffroy Torys von dauernderer Wirkung. England blieb unbeeinflußt, doch wurde hier wie in Frankreich zu Ende des 16. Jahrh. für den Buchdruck schon vielfach die Antiqua anstatt der Fraktur angewandt. Die zu jener Zeit, gleichwie in Deutschland, so auch in Frankreich und England übliche spitze Schreibschrift wurde von der runden lateinischen Form der Schreibschrift Italiens in Frankreich gegen Ende des 16. Jahrh., in England um die Mitte des 17. Jahrh. verdrängt. In Frankreich wurde die landesübliche „escriture françoise“ oder „escriture ronde“ (eine der jetzigen Rundschrift ähnliche, in den m-Strichen aber scharfeckige Schrift) rundlicher gestaltet und für den gewöhnlichen Gebrauch ein Mittelding zwischen dieser und der italienischen (lateinischen) Schrift, die als Schreibschrift zu steife „escriture italienne bastarde à la française“ (jetzt „écriture bâtarde“ genannt), gebildet. In England entstand an Stelle der altenglischen spitzen Schrift eine von allen überflüssigen italienischen Anhängseln befreite, reine, vollendet schöne lateinische Schriftform, welche bald auch in Frankreich als die heute noch so benannte „englische“ Schrift allen andern vorgezogen wurde. Schweden, Norwegen und Dänemark befinden sich noch zum Teil im Übergangsstadium von der spitzen zur runden (lateinischen) Schrift, jedoch ist die Umwandlung nahezu vollzogen. Auf Deutschland blieben jene Fortschritte fast ohne Einfluß, weil den in Schnörkelwesen verfallenen deutschen Schreibmeistern das Verständnis dafür mangelte. Für die Schulen sind zwar gute Versuche gemacht, aber nicht mit der erforderlichen Energie allgemein durchgeführt worden, so daß die deutschen Elementarschulen nach fast zahllosen Regelzusammenstellungen die Buchstabenformen lehren. Der Schreibunterricht wie die Schrift selbst haben deshalb in Deutschland den Zusammenhang mit dem allgemeinen Entwickelungsgang der Schrift verloren. Diese Isolierung wird unterstützt von denjenigen, welche falschem Patriotismus die spitzen Schriftzüge und die sogen. Frakturform der Druckschrift für etwas eigentümlich Deutsches ausgeben, während beides nur Überbleibsel sind. Eine Ausnahme von der Regel macht nur die Schule der sogen. Germanisten, welche, von den Anregungen der Brüder Grimm u. a. ausgehend, sich der lateinischen Schrift bedienen. Die Methodik der S. entbehrt von den ersten deutschen Schreibmethoden des 15. und 16. Jahrh. an bis zu den Alphabetsammelwerken unsers Jahrhunderts einer den Zweck und das Wesen der Buchstabenformen gehörig berücksichtigenden, umfassenden und einheitlich umgestaltenden Behandlung. In neuester Zeit hat F. Soennecken die in Deutschland nur von wenigen benutzt gewesene Rundschrift durch entsprechend
konstruierte, breit abgeschnittene Stahlfedern methodisch zu gestalten gesucht. Dieselbe war in Italien schon seit dem 15. Jahrh. gebräuchlich und dort im 16. Jahrh. allgemein angewendet, am meisten ist sie aber in Frankreich verbreitet, wo sie Ende des 15. Jahrh. als écriture financière aufkam, später écriture ronde und in der nach rechts geneigten Form écriture bâtarde genannt wurde. S. auch Schrift. Vgl. Mettenleiter, Schriftenmagazin (mit Hildebrandt, 2. Aufl., Erfurt 1881); Derselbe, Kleines Schriftenmagazin (das. 1882, 2 Bde.); Soennecken, Die Rundschrift (Bonn 1876); Derselbe, Das deutsche Schriftwesen (das. 1881).