Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Fabriken“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Fabriken“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 5 (1886), Seite 995997
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: [[{{{Wikisource}}}]]
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Fabrik
Wiktionary-Logo
Wiktionary: Fabrik
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Fabriken. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 995–997. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Fabriken (Version vom 29.05.2024)

[995] Fabriken (v. lat. fabrica, „Werkstätte“), Anstalten des gewerblichen Großbetriebs, in welchen gleichzeitig und regelmäßig eine Mehrzahl von Arbeitern außerhalb ihrer Wohnung in geschlossenen Räumen beschäftigt wird. Die Produktion beruht stets auf systematischer Arbeitsteilung der Leistungen der technischen Handarbeiter und in der Regel heute auch auf der Anwendung von Maschinen. Die Fabrikindustrie ist erst in der neuern Zeit entstanden; zu ihrer großen wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung, wie wir sie bei allen Kulturvölkern wahrnehmen, ist sie erst infolge der großen wissenschaftlichen und technischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte gelangt. Sie hat die gewerbliche Produktion außerordentlich gesteigert, die Gewerbsprodukte sind zahlreicher, mannigfaltiger, billiger geworden, die Maschine leistet, was früher der Mensch leisten mußte, und schwächere Arbeitskräfte, die sonst nicht verwertet werden konnten, finden in dieser Industrie ihren Erwerb, zahlreiche Gewerbsprodukte, die eine unbedingte Voraussetzung unsrer Produktion sind, und ohne die wir unsre Existenz kaum noch denken können (z. B. die der Maschinenindustrie), sind nur durch Fabrikindustrie herstellbar. Doch wie jeder große Fortschritt, so hat auch dieser seine Schattenseite. Die Entwickelung der F. hat bereits auf vielen Gebieten dem frühern Handwerksbetrieb ein Ende gemacht und droht denselben noch weiter zu verdrängen (s. Gewerbebetrieb), sie hat die Klassengegensätze verschärft, indem bei ihr immer eine kleine Zahl Unternehmer einer großen Zahl von Lohnarbeitern gegenübersteht, welchen mit wenigen Ausnahmen die Aussicht auf eine selbständige wirtschaftliche Existenz verschlossen ist. So ist denn mit ihr die industrielle Arbeiterfrage als das große und schwierige Problem des 19. Jahrh. entstanden. Übrigens geben die großen Vorteile des allen gesetzlichen Maßregeln und der Kontrolle leichter als das Handwerk zugänglichen fabrikativen Betriebes wieder die Mittel an die Hand, um die mit ihm verbundenen Übelstände zu mildern und die Lage der Lohnarbeiter besser zu gestalten, als es bei Kleinbetrieb und Handarbeit überhaupt nur möglich wäre. (Vgl. Arbeiterfrage, Industrielle Arbeiterfrage und Fabrikgesetzgebung.)

Von der Fabrikindustrie läßt sich scharf trennen die Hausindustrie, d. h. diejenige gewerbliche Produktion, [996] bei welcher die Arbeiter in ihren eignen Räumen für größere Unternehmer neue Produkte des Massenkonsums herstellen. Dieselben arbeiten teils in ihrer Wohnung, teils in einer besondern Werkstätte, in der Regel mit eignen Werkzeugen und Geräten, allein oder auch mit Hilfspersonen (Familienangehörigen oder Fremden). Die hausindustrielle Thätigkeit ist entweder ausschließliche Berufsarbeit oder nur ein Nebenerwerb, das letztere namentlich auf dem Lande. Die Hausindustrie zeigt verschiedene Formen mit mannigfachen Übergängen. Die Hauptform ist heute, daß ein größerer Unternehmer, der entweder noch selbständiger Fabrikant ist oder nur „Fabrikkaufmann“, den Arbeitern das Rohmaterial liefert, Art und Form der Produkte vorschreibt und für die fertigen den verabredeten Stücklohn zahlt. Sehr häufig wird der Verkehr zwischen ihm und den Arbeitern durch Mittelspersonen („Faktor“, „Fercher“, „Fabrikverleger“) besorgt, die entweder lediglich Mandatare des Unternehmers sind, oder auch auf eigne Rechnung handeln in der Weise, daß sie den Arbeitern die Waren zum bedungenen Stücklohn abnehmen, dem Unternehmer die Auswahl aus denselben überlassen und die von diesem nicht gewählten auf eigne Rechnung verkaufen. Seltener ist es, daß die Arbeiter auch den Rohstoff liefern (z. B. Strohflechterei, Holzschnitzerei) oder, in dem ausschließlichen Dienst eines Unternehmers stehend, von diesem außer dem Rohmaterial auch noch einen Teil der Arbeitsinstrumente (Webstühle, Nähmaschinen etc.) geliefert erhalten. Der Fabrikindustrie gegenüber hat die Hausindustrie zunächst sozialpolitische und ökonomische Vorteile und Nachteile. Die Vorteile sind: Die Arbeiter sind nicht von ihrer Familie getrennt; die Eltern können ihre Kinder überwachen, die Frauen können für den Haushalt sorgen, die Mädchen stehen unter der Kontrolle der Eltern. Der Arbeiter entscheidet ferner selbst über die Dauer seiner Arbeitszeit, die Arbeitsart schädigt nicht, wie das in F. möglich ist, die Gesundheit, sofern nur die Arbeiter vorsichtig sind. Es kann auch ein Wechsel in der Arbeit stattfinden, bei der ländlichen Hausindustrie namentlich auch mit landwirtschaftlicher Arbeit. Dabei gestattet sie weiter, ohne Gefahren für die Personen und das Familienleben, die Verwendung aller produktiven Kräfte der Familie für den Erwerb. Endlich wird bei der ländlichen Hausindustrie die Massenkonzentration von Arbeitern an einem Ort vermieden. Die Nachteile sind: Da die hausindustrielle Bevölkerung und ihre Arbeit weniger obrigkeitlich kontrolliert werden kann, so ist hier eine übermäßige gesundheitsschädliche Verwendung von Kindern schwerer zu verhindern als bei der Fabrikindustrie. Ferner ist die Ausbeutung von Lohnarbeitern durch Unternehmer und namentlich durch die Mittelspersonen in einem hohen Grad möglich: die Nachtseiten der Isolierung der Arbeiter (Unfähigkeit zur Beurteilung der allgemeinen Geschäftslage, geringere Widerstandskraft gegen Lohnherabsetzungen etc.) kommen hier zur Geltung; ungünstige Konjunkturen des Waren- oder Arbeitsmarktes werden stets ihre Lage verschlechtern, günstige dagegen ihnen nur selten den entsprechenden Vorteil bringen, daher leicht Lohnverringerungen und dauernd niedrige Löhne. Die Folge ist die häufige allgemeine Erscheinung der übermäßigen Anspannung der Arbeitskräfte bei geringem Verdienst. Das führt dann zu Veruntreuungen des Materials, zu schlechterer Arbeit und gefährdet die Erwerbsquelle der Arbeiter. Diese Übelstände steigern sich, wenn die Fabrikindustrie als Konkurrentin der Hausindustrie auftritt. Diese kann sich bei freier Konkurrenz mit der Fabrikindustrie nicht halten, wenn durch Anwendung der Arbeitsteilung oder durch Benutzung von kostspieligen Maschinen das gleiche Produkt in F. mit geringerm Kostenaufwand herstellbar ist. Historisch ist in einer Reihe von Gewerben die Hausindustrie die ältere Betriebsform, sie hat aber der Fabrikindustrie seit dem vorigen Jahrhundert vielfach weichen müssen. Entsteht ein Kampf zwischen beiden, so hat derselbe gewöhnlich sehr traurige Folgen für die hausindustriellen Arbeiter, welche nicht rechtzeitig ihren bisherigen Erwerb aufgeben; ihr Einkommen verringert sich trotz immer stärkerer Anspannung ihrer Arbeitskräfte stetig und reicht bei übermäßiger Anstrengung nicht einmal mehr zur Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse. Zwar ist dieser Kampf heute noch nicht beendet, aber unrichtig ist die Ansicht, daß die Hausindustrie überhaupt keine Zukunft mehr habe. Sie ist durchaus anwendbar und auch der Fabrikindustrie gegenüber in beschränktem Maß dauernd konkurrenzfähig: 1) wo keine größern kostspieligen Maschinen technisch anwendbar sind, die Arbeit also wesentlich Handarbeit mit einfachen Werkzeugen, resp. Geräten ist, oder wo allenfalls nur kleine, nicht kostspielige Maschinen, z. B. Nähmaschinen, zur Verwendung kommen; 2) wo keine Arbeitsteilung die Produktionskosten erheblich verringern kann oder zwar Arbeitsteilung mit dieser Wirkung möglich ist, aber keine unmittelbare Aufeinanderfolge der verschiedenen Verrichtungen und kein Zusammenwirken der verschiedenartigen Arbeiter in demselben Raum geboten ist. Diese Voraussetzungen treffen bei einer Reihe von Gewerbszweigen zu, namentlich bei der Stroh- und Korbflechterei, Holzschnitzerei, Handschuhnäherei, Steinschneiderei, Handstickerei, Spitzenklöppelei, bei der Jacquard- und andrer Weberei, bei der Fabrikation von künstlichen Blumen, Putzwaren, Kleidungsstücken, bei manchen Zweigen der Bijouterie und Tabletterie, ferner bei der Uhren-, Zigarren-, Kleineisen- und Stahlwarenfabrikation etc. Daher erklärt sich die Erscheinung, daß die Hausindustrie in neuerer Zeit auf einigen Gebieten (z. B. Zigarren-, Uhrenindustrie, Holzschnitzerei etc.) sogar gegen früher an Ausdehnung gewonnen hat. Eine weitere scheint namentlich auch auf dem Gebiet der Kunstindustrie möglich zu sein, wenn hier zur Förderung derselben die richtigen Maßregeln, kunstgewerbliche Fachschulen und Lehrwerkstätten, getroffen werden.

Schwieriger und für gesetzliche und administrative Maßnahmen kaum durchführbar ist die strenge Scheidung von Fabrikindustrie und Handwerk. Will man das Handwerk heute noch als dritte Art der Fabrik- und Hausindustrie gegenüberstellen, so bleibt nichts übrig, als dazu alle gewerblichen Unternehmungen zu rechnen, die nicht fabrik- noch hausindustrielle Unternehmungen in dem oben angegebenen Sinn sind. Für die besondern Maßregeln, welche zum Schutz des „Handwerks“ gefordert werden, dürfte die Größe des Betriebes das allein mögliche Merkmal zur Unterscheidung bilden, wie denn die österreichische Gewerbeordnung von 1859 und das französische Gesetz vom 22. März 1841 alle Betriebe zu den F. rechnen, in welchen mehr als 20 Arbeiter beschäftigt sind. (S. Handwerk und Gewerbebetrieb.) Vgl. G. Schönberg in seinem „Handbuch der politischen Ökonomie“ (2. Aufl., Tübing. 1885; Bd. 2: Abt. „Gewerbe“, dort auch weitere Litteratur); Roscher, System der Volkswirtschaft, Bd. 3, § 112 ff.; Derselbe, Über Industrie im großen und kleinen, in seinen „Ansichten der Volkswirtschaft“, Bd. 2, S. 101 ff.; O. Schwarz, Die Betriebsformen [997] der modernen Großindustrie (in der „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, Bd. 25); H. Grothe, Der Einfluß des Manchestertums auf Handwerk und Industrie etc. (Berl. 1884).