Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 5 (1886), Seite 735737
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Erdbeben. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 735–737. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Erdbeben (Version vom 17.10.2023)

[735] Erdbeben, Erschütterungen der Erdoberfläche, je nach der Stärke bald nur ein Erzittern oder schwaches, wellenförmiges Schwanken, bald heftige Stöße, welche Gebäude vernichten, und mit welchen unterirdisches Getöse, Spaltenbildungen, Bergstürze, Hebungen ganzer Landstriche, Wogenbildungen an der Meeresküste, plötzliches Zurückweichen des Meers und springflutartiges Eindringen in das Land, Hervortreten von Wasser und Schlamm aus neuentstandenen Spalten verbunden sein können. Die Erde als Ganzes betrachtet, sind die E. eine alltägliche [736] Erscheinung (man ist berechtigt, jährlich mehrere Tausend einzelner Stöße anzunehmen), nur sind sie ungleichmäßig verteilt, insofern sie in gewissen Gegenden sehr häufig sind, andre nur selten betreffen, doch ohne daß man annehmen dürfte, es gebe eine für E. vollkommen intakte Gegend. In Berücksichtigung, daß Nachrichten über den Eintritt von E. uns nur aus einem verhältnismäßig kleinen Teil der Erde zukommen können und unter diesen Orten sicher gerade solche fehlen, an denen nach aller Analogie die E. häufig sein dürften, muß eine Statistik der E. (Perrey, Kluge, Schmidt, Falb u. a.) durchaus unvollständige Resultate liefern. Wenn daher Perrey und Falb ihre Zusammenstellungen über die Häufigkeit der E. benutzen, um nachzuweisen, daß das Maximum des Eintritts der E. mit bestimmten Jahreszeiten oder gewissen Konstellationen der Gestirne, namentlich des Mondes und der Sonne, zusammenfalle, so ist eine solche Hypothese schon wegen der mangelhaften statistischen Begründung hinfällig. Ebenso entbehrt die Behauptung des Zusammenhanges der E. mit barometrischen Minima der Begründung durch Beobachtungen. Dagegen bleibt der Wert solcher Zusammenstellungen um so weniger zweifelhaft, je mehr sie sich nicht nur auf das Datum des Eintritts beschränken, sondern eine möglichst vollständige Schilderung aller begleitenden Erscheinungen geben. So publiziert Fuchs alljährlich eine Übersicht nach den Tagesblättern, und in den meisten Ländern, so besonders in der Schweiz, Belgien, Österreich, England, Italien, Nordamerika, Japan und in einigen deutschen Ländern (Baden, Hessen, Sachsen), haben sich besondere vom Staat oder von Privatgesellschaften niedergesetzte Kommissionen die Aufgabe gestellt, über jedes eintretende E. das genaueste Detail zu sammeln. Die Beobachtung unterstützen sollen besondere Instrumente, die Seismometer (Bewegungsmesser), teils elektrische Registrierapparate, bei welchen der Schluß des Stroms durch den Stoß veranlaßt wird, teils einfache Vorrichtungen, deren Erwerbung und Beobachtung jedem ermöglicht ist (vgl. Seismometer). Durch die Arbeiten der Neuzeit und einige wenige brauchbare Beschreibungen älterer E. ist ein gutes, aber immerhin noch sehr bescheidenes Material zu einer wissenschaftlichen Behandlung der E. allmählich gewonnen worden; es bleibt aber die Häufung brauchbarer Beobachtungen die nächste Hauptaufgabe in der Erdbebenfrage. – Untrügliche Anzeichen der E. gibt es nicht, und alles, was ältere Arbeiten über solche berichten, ist irrtümlich und bezieht sich auf zufälliges Zusammentreffen ursachlich fremdartiger Erscheinungen. Die neuerdings namentlich von Falb geübte Prophezeiung von E. auf bestimmte Daten beruht, wie namentlich Hörnes behauptet hat, auf einer unhaltbaren Hypothese.

Die E. sind Erschütterungen, welche von einem im Innern der Erde gelegenen Ort (Zentrum) ausgehen. Die sich fortpflanzende Bewegung wird in dem senkrecht über dem Ausgangsort gelegenen Teil die Erdoberfläche zuerst erreichen (Epizentrum) und hier einen von unten nach oben gerichteten Stoß (sukkussorische Bewegung) erzeugen. An den Orten, die auf der Erdoberfläche vom Epizentrum entfernt liegen, kommt die vom Zentrum ausgehende Erschütterung um so später und in um so schrägerer Richtung an, je größer die Entfernung vom Epizentrum ist. Hier kann die Erschütterung nur noch zum Teil sukkussorisch sein, zum Teil wird sie in seitlicher Richtung verlaufen (undulatorische Bewegung). Hierzu kommen aber für alle diese Orte auch seitlich vom Epizentrum ausgehende undulatorische Schwingungen, welche um so mehr den Charakter der ganzen Erschütterung bestimmen werden, je weiter die betreffenden Orte vom Epizentrum entfernt liegen, während das Vorwiegen sukkussorischer Bewegung auf die Nähe des Epizentrums hinweist, welches selbst rein sukkussorisch erschüttert wird. In einzelnen Fällen und an einzelnen Objekten kann sich auch eine drehende (rotatorische) Bewegung erzeugen, dann nämlich, wenn die undulatorische auf Gegenstände stößt, welche aus mehreren untereinander nicht genau in der Schwerpunktsachse befestigten Teilen bestehen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erdbebenwelle ist eine verschiedene, von der Qualität und der Heftigkeit des Stoßes sowie von dem Gesteinsmaterial, in welchem sie sich abspielt, abhängige. Durch einen jähen Wechsel des Gesteins, etwa beim Auftreten fester Felsen, umgeben von lockern Sanden, können inselartige Ruhepunkte innerhalb eines erschütterten Gebiets entstehen. Experimentell hat Mallet die Fortpflanzungsgeschwindigkeiten bei Erschütterungen gefunden: für Sand zu 251,5 m, für gelockerten Granit zu 398 m, für festen Granit zu 507,5 m in der Sekunde, Zahlen, welche sich, wie ein Vergleich mit der unten gegebenen Tabelle zeigt, nicht allzuweit von den bei E. beobachteten Fortpflanzungsgeschwindigkeiten entfernen. – Liegt das Epizentrum im Meer, so entstehen Wasserbeben, welche von Schiffen, die sich über dieser Stelle oder doch in der Nähe derselben befinden, als sukkussorische Stöße, als Erzittern der Wasserfläche empfunden werden. Zu unterscheiden davon sind die Flutwellen, welche durch Übertragung der E. auf die Meere entstehen, und von denen namentlich die an das südamerikanische E. vom 13. Aug. 1868 sich anknüpfende durch Hochstetter gut studiert ist. Die folgende Tabelle stellt die Resultate hinsichtlich des Wegs, welchen die Welle durchlief, und der Geschwindigkeit der Fortpflanzung zusammen:

Von Arica bis Ent­fernung Zeitdauer Geschwindigkeit in der Stunde
Kilom. Stunden Min. Kilom.
Valdivia 2634 5 527
Newcastle 13690 16 2 592
Chathaminseln 10240 15 19 668
Insel Oparo 7526 11 11 672
Honolulu 10350 12 37 820

Flutwellen sind ferner durch das E. von Iquique 1877 (Geinitz) erzeugt worden sowie durch das E., welches auf die furchtbare Eruption des Krakatoa 1883 zurückführbar ist. Bei dem letztgenannten E. wurde auch erstmalig die Mitleidenschaft der Atmosphäre in einer die ganze Erde mehrmals umziehenden Luftwelle nachgewiesen (Förster, Lockyer). Von besonderer Wichtigkeit, namentlich auch bezüglich der Frage nach der letzten Ursache der E., ist die Untersuchung, von welchem Ort innerhalb der Erde die E. ausgehen. Verbindet man die Punkte der Erdoberfläche, welche gleichzeitig erschüttert werden, durch Linien (Homoseisten), so werden diese Kurven das Epizentrum konzentrisch umgeben und durch ihre Form einen Rückschluß auf die Form des Epizentrums selbst erlauben. Kreise weisen auf einen Punkt oder doch Kreis (zentrale E.), Ellipsen auf eine Ellipse oder Linie (lineare E.) als Epizentrum hin. Das Epizentrum wird aber im allgemeinen der Form nach dem Zentrum entsprechen. Die Tiefe des Zentrums unter dem Epizentrum hat zuerst Mallet zu bestimmen gesucht, indem er die Richtung der zahlreichen Risse und Spalten, welche das neapolitanische E. vom [737] Dezember 1857 hinterließ, konstruktiv verband und den Durchschnittspunkt innerhalb der Erde berechnete. v. Seebach hat versucht, die Tiefe des Ausgangspunktes aus guten Zeitbestimmungen des Eintrittes der E. auf der Erdoberfläche abzuleiten, eine Methode, welche namentlich von v. Lasaulx ausgebaut und mehrfach angewandt, allerdings von mehreren in der Natur wohl nicht zutreffenden Voraussetzungen (punktuelles Zentrum, gleichförmige Fortpflanzungsgeschwindigkeit u. a. m.) ausgeht, aber in ihrer leichten Anwendbarkeit, namentlich auch auf weniger schwere E., die keine oder doch nur wenige Risse erzeugen, große Vorteile besitzt. In der folgenden Tabelle sind die gewonnenen Tiefenzahlen zugleich mit den Fortpflanzungsgeschwindigkeiten für sieben gut untersuchte E. gegeben:

Erdbeben Datum Tiefe des Zentrums Fortpflan­zungs­geschwin­digkeit in der See
Kilom. Meter
Rheinisches Erdbeben 29. Juli 1846 39 567,6
Neapolitanisches Erdbeben 15. Dez. 1857 5–15 259,7
Erdbeben von Sillein 15. Jan. 1858 26 206,0
Mitteldeutsches Erdbeben 6. März 1872 14–21 742,0
Erdbeben v. Herzogenrath 22. Okt. 1873 5–17 360,2
24. Juni 1877 27 474,8
Westdeutsches Erdbeben 26. Aug. 1878 9 302,2

Auffallend ist das Resultat (bei der geringen Anzahl der untersuchten E. freilich kein für alle E. zwingender Beweis), daß das Zentrum ziemlich flach unter der Erdoberfläche liegt.

In der Frage nach den Ursachen der E. ist als größter Fortschritt, welchen die Neuzeit gebracht hat, anzusehen, daß man sich mehr und mehr gewöhnt hat, in den E. nur ein Symptom zu erblicken, welches verschiedene, ihrem Wesen nach weit auseinander liegende Ursachen haben kann. Die meisten der Geologen, welche sich neuerdings mit der Erdbebenfrage beschäftigt haben, unterscheiden drei Arten von E.: 1) Einsturzerdbeben, Folgen unterirdischer Auswaschungen. Starke Wirkungen an den betreffenden Orten, aber, dem gewöhnlich ganz flach liegenden Zentrum entsprechend, kein großes Erschütterungsgebiet sind der allgemeine Charakter dieser E. Obgleich in einer sehr vulkanischen Gegend sich abspielend, werden auch die E., welche Ischia 1881 und 1883 betroffen haben, auf Unterwaschungen durch Thermen zurückgeführt (Palmieri, v. Lasaulx). Volger, Mohr u. a. erblicken im Einsturz von Hohlräumen die einzige Ursache aller E. 2) Den vulkanischen E. erkennt die neuere Schule nur eine geringe Bedeutung und einen durchaus lokalen Charakter zu, ausnahmslos geknüpft an erumpierende Vulkane und ihre nächste Umgebung, während in frühern Zeiten von allen Geologen, neuerdings immer noch von einigen, auf den Vulkanismus alle oder doch die größte Anzahl der E. zurückgeführt wurden. Man sah in den E. die „Reaktion des Erdinnern gegen die schon erkaltete Kruste“ (v. Humboldt), und namentlich Falb hat neuerdings die Hypothese eines innern glutflüssigen Meers mit Gezeiten, durch die Konstellationen der Sonne und des Mondes mitunter zu Springfluten gesteigert, ausgebaut. Daß die Fundierung dieser Hypothese durch die Statistik der E. eine mangelhafte sei, wurde schon oben betont; auch ist bei wirklich gut untersuchten E., wie wir sahen, der Ausgangspunkt überaus flach liegend gefunden worden, so daß man, in Verfolgung der Falbschen Hypothese, der Erdkruste eine sehr unwahrscheinliche geringe Stärke zuschreiben müßte, weil nur an der Grenze zwischen fester Kruste und flüssigem Kern der Anschlagspunkt der Flutwellen und damit der Herd der E. liegen könnte. 3) Die weitaus meisten E. mit den größten Erschütterungsgebieten werden neuerdings als tektonische bezeichnet. Süß hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, und zahlreiche Beobachtungen haben seine Sätze bestätigt, daß sich E. längs bestimmter Linien (Erdbebenlinien) zahlreicher abspielen, und daß diese Linien großen Kettengebirgen entweder parallel liegen (Longitudinal-E.), oder zu der Gebirgslängsachse rechtwinkelig verlaufen (Transversal-E.). In Übereinstimmung mit den neuern Ansichten über die Gebirgsbildung (s. Gebirge) werden diese E. als Signale einer an die fortdauernde Gebirgsstauung geknüpften Zerreißung und Verschiebung der gespannten Teile der Erdkruste gedeutet und stehen in weitaus den meisten Fällen mit alten Dislokationslinien in Verbindung, so daß sich an tektonischen E. reiche Gegenden (Schüttergebiete) unterscheiden lassen, denen an E. arme Gebiete gegenüberstehen, in welchen sich keine E. oder doch nur kleine Einsturzerdbeben abspielen.

Vgl. Hoff, Chronik der E. und Vulkanausbrüche (Gotha 1840); O. Volger, Untersuchungen über das Phänomen der E. in der Schweiz (das. 1856–57); Mallet, On earthquakes (Boston 1858); Derselbe, The great Neapolitan earthquake (Lond. 1862); E. Kluge, Die E. von 1850 bis 1857 (Stuttg. 1861); Falb, Grundzüge einer Theorie der E. und Vulkanausbrüche (Graz 1871); v. Seebach, Das mitteldeutsche E. vom 6. März 1872 (Leipz. 1873); Fuchs, Vulkane und E. (das. 1875); Schmidt, Studien über E. (2. Aufl., das. 1879); Hörnes, Erdbebenstudien (Wien 1878); Derselbe, Die Erdbebentheorie Falbs (das. 1881); Toula, Über den gegenwärtigen Stand der Erdbebenfrage (das. 1881); Heim, Die E. und deren Beobachtung (Zürich 1880); Roth, Über die E. (Berl. 1882); v. Lasaulx, Artikel „E.“ in Kenngotts „Handwörterbuch der Mineralogie, Geologie und Paläontologie“ (Bresl. 1882); Fuchs’ jährliche Berichte im „Neuen Jahrbuch für Mineralogie“ (Stuttg.) 1866–72, von da ab in Tschermaks „Mitteilungen“ (Wien). Perreys Zusammenstellungen von E. erschienen Paris, Dijon, Lyon 1841–74.


Ergänzungen und Nachträge
Band 17 (1890), Seite 300303
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[300] Erdbeben (hierzu Karte „Verbreitung der Erd- und Seebeben“). Die neuere Seismologie beschäftigt sich in erster Linie mit dem mechanischen Charakter der Erdbebenwellen und sucht durch instrumentelle Messung einzelner Erderschütterungen sowie durch experimentelle Beobachtungen die verschiedenen seismischen Elemente festzustellen. Die Erdrinde unterliegt, wie man jetzt weiß, mehreren Bewegungen, welche sich in vier Klassen einteilen lassen: 1) plötzliche und heftige Erderschütterungen; 2) Erderzittern, Bewegungen, welche wegen zu geringer Amplitude unsrer Aufmerksamkeit entgehen; 3) Erdpulsierungen, Bewegungen von langer Periode, und 4) Erdoszillationen, Bewegungen von langer Periode und großer Amplitude. Die beiden letzten, bei denen es sich wahrscheinlich nicht um eigentliche Wellenbewegung handelt, kommen hier nicht in Betracht. Die Erscheinungen, welche die Erderschütterungen begleiten, hat J. Milne untersucht, indem er verschiedene Mengen von Dynamit in Höhlen von wechselnder Tiefe explodieren und Gewichte bis zu 850 kg schwer aus Höhen bis zu 13 m niederfallen ließ. Die mit verschiedenen Seismographen beobachteten Wirkungen gestatteten, wichtige Folgerungen in Bezug auf die Bodenbewegungen zu ziehen. In weichem, feuchtem Boden kann man Schwingungen von großer Amplitude und langer Dauer erzielen, in losem, trocknem Boden ruft eine Dynamitexplosion eine Störung von großer Amplitude, aber kurzer Dauer hervor. Die Phasen der normalen und transversalen Bewegung sind vom Abstand des Seismographen vom Erschütterungszentrum abhängig. Zwei Punkte des Bodens, die nur wenige Meter voneinander entfernt sind, sind nicht synchronisch in ihrer Bewegung, die Erdbebenbewegung ist also wahrscheinlich keine einfach harmonische. Die Art der Bewegung, ob nach innen oder nach außen gerichtet, hängt wahrscheinlich von der Intensität der ursprünglichen Störung und von der Entfernung der Beobachtungsstation vom Zentrum der Erregung ab. Die Amplitude der normalen Bewegung verhält sich umgekehrt wie der Abstand vom Erschütterungszentrum. In dem Maß, wie die Störung ausstrahlt, nimmt die Schwingungsperiode zu, bis sie schließlich gleich der Periode der transversalen Bewegung wird. Eine Erdpartikel erreicht gewöhnlich ihre größte Geschwindigkeit während der ersten Bewegung nach innen. Die Intensität ist gleich , wo V die größte Geschwindigkeit, a die Amplitude bedeutet. Die Intensität nimmt beim Ausstrahlen zuerst schnell, dann langsam ab. In verschiedenen Bodenarten, bei ungleichen Intensitäten der ursprünglichen Störung und bei verschiedenen Beobachtungssystemen lagen die Geschwindigkeiten zwischen ca. 210 und 70 m in der Sekunde. Die große Differenz dieser Bestimmung der Geschwindigkeit zwischen Milne einerseits und Mallet und Abbot anderseits

[Ξ]

VERBREITUNG DER ERDBEBEN UND SEEBEBEN.
[Nebenkarte links:] Seismisches u. eruptives Gebiet der Azoren.
[Nebenkarte rechts:] Seismische Zone des St. Pauls Felsens und des äquatorialen Gebietes.

[301] rührt wohl von der Natur des Gesteins her, der Intensität der ursprünglichen Erschütterung und der Art der Welle, die beobachtet wurde. Milne fand, daß die vertikale freie Oberflächenwelle die schnellste Geschwindigkeit habe, dann die normale, und am langsamsten war die transversale Bewegung. Die größte Anzahl von Wellen in einem gegebenen Zeitraum tritt ein, wenn die Amplitude gering ist, umgekehrt ist bei großer Amplitude in weichem Boden die Zahl der Wellen am geringsten. Die Periode ist an einer Station nicht konstant, ebensowenig das Verhältnis der Periode an zwei Stationen. Je kleiner die Amplitude, um so kürzer die Periode. Die größte Projektionskraft haben Wellen in weichem Boden, in welchem auch die größte Beschleunigung beobachtet wird. Von den beiden Bewegungskomponenten wird die vertikale am seltensten bemerkt, da sie nur dann wahrnehmbar ist, wenn der Ursprung der seismischen Störung in der Nähe der Beobachtungsstation liegt. Dieselbe ist jedesmal kleiner als die horizontale Komponente; im Mittel ist das Verhältnis beider wie 1 : 6. Ein Gleiches gilt von der Periode und Dauer der vertikalen Bewegung im Verhältnis zur horizontalen. Durch Zusammensetzung der drei rechtwinkeligen Komponenten eines vom Seismographen gelieferten Erdbebendiagramms läßt sich die Bewegung eines Erdpartikels an einem Modell darstellen. Fig. 1–3 geben eine Vorstellung von dem Weg, den der Boden bei einer Erderschütterung beschreibt.

Das E. beginnt mit leichten Erzitterungen, während der 3. Sekunde tritt zuerst eine ziemlich bedeutende horizontale Bewegung zusammen mit einer beträchtlichen vertikalen hervor. In der 9. Sek. erreicht die vertikale Bewegung ihr größtes Ausmaß: 1,3 mm, die horizontale hingegen 5 mm, bei einer Schwingungsperiode von 1,5 Sek. für beide. Die größte horizontale Bewegung von 7,3 mm erscheint von der 33.–34. Sek. mit einer vollen Periode von 2 Sek. Nach der 71. Sek. hört die vertikale Bewegung völlig auf, die Störungen beschränken sich ganz auf die horizontale Ebene. Aus diesem Modell kann man zugleich die gewöhnliche Reihenfolge der Phänomene bei einem typischen E. entnehmen; es beginnt mit einer Reihe von leichten Erzitterungen, gefolgt von einem oder mehreren Stößen, die durch mehr oder minder unregelmäßige Bodenschwingungen getrennt sind und schnell aufeinander folgen, zuletzt kommen wieder zitternde Schwingungen, die rasch abnehmen. Die wesentliche Vorbedingung für Erzeugung des Schallphänomens ist nach G. Knott eine hinreichend ausgeprägte vertikale Bewegung mit äußerst kurzer Periode, die seiner Ansicht nach stets vorhanden ist, wenn sie auch vom Seismographen nicht immer verzeichnet wird, während J. Milne die dem eigentlichen E. vorausgehenden Schwingungen als die Ursache ansieht, die eine zu kurze Periode

Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 3.
Fig. 1–3. Bewegung einer Erdpartikel während des Erdbebens zu Tokio, 15. Jan. 1887, dargestellt durch einen Kupferdraht nach den drei rechtwinkeligen Komponenten des Erdbebendiagramms. Die Zahlen geben die Sekunden an von 0–72. Nach S. Sekiya (viermalige Vergrößerung der vertikalen und horizontalen Bewegung).

haben, als daß sie von den Instrumenten wiedergegeben werden könnten. Als wichtigstes Resultat seiner Erdbebenbeobachtungen in Japan konnte J. Milne den Umstand verzeichnen, daß 84 Proz. aller Stöße auf dem Meeresboden oder an der Küste des Pacific ihren Ursprung haben, daß die Intensität im W. fast 31/2mal so groß ist als im S., daß das Maximum der E. mit dem Minimum der Temperatur zusammenfällt, und daß 11,2 Proz. mehr E. bei Niedrigwasser eintreten als bei Hochwasser. Dieses Ergebnis führt ihn zu dem Schluß, daß die primäre Ursache der E. eine der Erde endogene ist, und daß exogene Phänomene, wie die Anziehung von Sonne und Mond und Schwankungen im Gleichgewicht der Atmosphäre, nur eine sekundäre Rolle in der Erzeugung der seismischen Erschütterungen spielen.

Zu einem besondern Zweig der Erdbebenkunde hat sich in den letzten Jahren das Studium der leisen Erzitterungen des Bodens herausgebildet, die Mikroseismologie. Durch Beobachtung sehr empfindlicher [302] geodätischer und astronomischer Instrumente ist zuerst die Aufmerksamkeit auf diese leisen, vibrierenden Schwingungen gelenkt worden. George und Horace Darwin fanden bei ihren Beobachtungen, welche sie im Cavendish-Laboratorium zu Cambridge anstellten, um die regelmäßigen Variationen in der Richtung der Schwerkraft aufzufinden, daß es unmöglich sei, die mikroseismischen Schwingungen von denen zu trennen, welche von der Anziehung des Mondes herrührten. Das Ergebnis ihrer Untersuchungen war, daß der Boden, auf dem wir leben, sich in unaufhörlichen leisen Vibrationen befindet. Am besten sind wir durch Bertelli und de Rossi mit dem mitroseismischen Zustand Italiens bekannt; zu den Apparaten, welche von beiden angewandt worden, gehören außer dem Mikroseismograph und dem Normaltromometer auch das Mikrophon. Die mikroseismischen Bewegungen Italiens zeigen Perioden hoher Aktivität, die ca. zehn Tage dauern. Solche Perioden heißen seismische Stürme. Dieselben sind durch Perioden relativer Ruhe getrennt. Im W. zeichnen sie sich durch große Regelmäßigkeit aus, ausgeprägte Maxima lassen sich im Frühjahr und Herbst erkennen. In der Mitte oder am Schluß einer solchen Periode tritt gewöhnlich ein E. ein. Wegen der engen Beziehungen dieser Stürme zu barometrischen Depressionen werden zum Unterschied von denen, welche bei hohem Luftdruck eintreten, diese letztern „baroseismische“ Stürme genannt, die erstern „vulkanoseismische“. Nach Beobachtungen sind die Beziehungen dieser Stürme zu Luftdruckschwankungen besonders ausgeprägt zur Zeit einer vulkanischen Eruption. Der Charakter der mikroseismischen Bewegung ist nicht konstant; die Richtung der Pendelschwingungen ist an jedem Punkt verschieden, aber überall vom Verlauf der Thäler und Gebirge abhängig. Die Monatskurven der mikroseismischen Störungen zeigen für verschiedene Städte Italiens einen ähnlichen Verlauf

Fig. 4. Monatskurven der mikroseismischen Störungen.

(Fig. 4). Das Maximum fällt ungefähr mit dem Wintersolstitium zusammen, das Minimum etwa mit der Sommersonnenwende; in dieser Hinsicht zeigen die Kurven eine gute Übereinstimmung mit Mallets Kurve der Erdbebenperiodizität. Ein Vergleich zwischen dem Mittel der tromometrischen Bewegungen und dem mittlern Luftdruck läßt eine große Übereinstimmung in dem relativen Werte der Bewegungen erkennen. Eine andre merkwürdige Beziehung besteht zwischen dem Sinken des Luftdrucks und der entsprechenden Zunahme der mittlern tromometrischen Bewegung. In diesem Umstand sieht Bertelli eine Bestätigung der Annahme, daß die expansive Kraft der im Innern der Erdrinde eingeschlossenen Gase einer der Hauptfaktoren des tellurischen Vulkanismus sei. Die gegenteilige Ansicht vertreten A. Forster und J. Milne. Ersterer spricht der mikroseismischen Bewegung überhaupt den Wellencharakter ab und weist auf die Beziehung zwischen der Intensität der mikroseismischen Bewegung und der Windstärke hin. Ebenso läßt Milne nur eine Beziehung zu den Luftdruckschwankungen, dem barometrischen Gradienten und vor allem dem Wind gelten. Sehr nützlich können Untersuchungen dieser Art noch für die Bergwerke werden; in denjenigen von Anzin verwendet man Tromometer und Mikroseismographen, um dem Eintreten schlagender Wetter rechtzeitig vorbeugen zu können. Ein Vergleich der Diagramme der Intensität der mikroseismischen Bewegung, des Luftdrucks und der Gasentwickelung zeigt deutliche Beziehungen dieser drei Phänomene zu einander.

Nicht nur das Festland, sondern auch die vom Meer bedeckten Teile der Erdrinde sind seismischen Erschütterungen unterworfen: den E. stehen die Seebeben gegenüber. Seebeben sind Erschütterungen, deren Ursprung im Meeresboden liegt, und die sich, auf die ozeanische Wassermasse übergehend, in derselben als Elastizitätswellen fortpflanzen. In gleichem Maß wie bei den E. ist die Stärke und Art der Erschütterung, Dauer und Zahl, Richtung und Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Stöße sowie die Ausdehnung und Gestalt des Schüttergebiets eine verschiedene. Was die Intensität und Art des submarinen Erdstoßes anbetrifft, so ist es bald nur ein leises Zittern, welches dieselbe im Schiff hervorbringt, und welches auch wohl als Erschütterung bezeichnet wird, die jedoch nicht stärker ist, als wenn die Ankerkette ausläuft oder ein schwerer Gegenstand über Deck gerollt wird; bald macht sich eine stoßende Bewegung an Deck bemerkbar, wodurch das Schiff ins Schwanken gerät, Masten und Raaen erzittern und das Steuerruder hin- und herstößt, so daß das Schiff demselben nicht gehorcht; bei noch stärkern Stößen werden selbst schwerere Gegenstände umgeworfen und Leute in die Höhe geschleudert; endlich die schrecklichsten Stöße können Schiffe entmasten und schwere Beschädigungen anrichten, das ganze Schiff gerät in Konvulsionen, als ob es in Stücke fallen wolle. Nach dem Gefühl und Effekt kann man auch bei Seebeben undulatorische und sukkussorische Bewegungen unterscheiden. Letztere vermögen das Schiff je nach der Richtung, in der dasselbe zu ihnen steht, emporzuheben, auf die Seite zu stoßen oder in der Fahrt aufzuhalten. Bei den meisten und gerade den heftigsten Seebeben wird weder in der eigentlichen Tiefsee noch in flachen Meeren das Wasser in irgend einer Weise affiziert, oder es werden nur eigentümliche Wasserstrahlen bis zu geringer Höhe emporgeworfen. In einigen Fällen sind Seebeben mit einer ungewöhnlichen Wellenerregung des Meers verbunden und von einer einzelnen hohen See begleitet. Temperaturveränderungen des Wassers deuten auf unterseeische vulkanische Ausbrüche. Magnetische Störungen sind sowohl bei denjenigen Seebeben beobachtet, in deren Gefolge Flutwellen auftraten, als auch bei solchen, welche von denselben nicht begleitet waren. Von andern Erscheinungen stehen sicher nur die Schallphänomene [303] mit den Seebeben in ursachlicher Verbindung. In einigen wenigen Fällen läßt sich eine lineare Fortpflanzung des submarinen Stoßes nachweisen, in den weitaus meisten Beispielen ist es jedoch ein vertikal von unten nach oben gerichteter Stoß, von dem das Schiff getroffen wird. Die submarinen E. haben demnach in vieler Hinsicht Ähnlichkeit mit einer gewissen Klasse von E., welche, wie diejenigen der Insel Ischia, eine hohe Intensität des Stoßes und enge Beschränkung des Schüttergebiets als charakteristische Eigentümlichkeiten an sich tragen. Die sogen. Erdbebenflutwellen stehen in keinem genetischen Zusammenhang mit den Seebeben: Seebeben werden durch seismische Erschütterung des Meeresbodens verursacht. Erreichen die Erdbebenwellen die Grenzfläche des Meeresgrundes und der ozeanischen Wassermasse, so werden sie gebrochen und treten in das elastische Medium des Wassers über. In demselben verbreiten sich die Wellen mit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Schalles im Wasser und machen sich, sobald sie auf ein andres Medium, z. B. einen Schiffskörper, treffen, als Stoß bemerkbar. Hat die wellenerregende Erschütterung aufgehört, so endet auch die Stoßwelle im Wasser. An der Oberfläche des Meers kann die kurze, intensive Stoßwelle keinerlei Oberflächenwellen hervorrufen, nur die senkrecht zur Meeresfläche gerichteten Stöße durchbrechen die gespannte kapillare Oberflächenhaut des Wassers und werfen kleine Strahlen auf. Die mit den unterseeischen E. häufig gleichzeitig auftretenden Flutwellen verdanken ihre Entstehung gewaltigen submarinen Eruptionen. Die geographische Verbreitung der seismischen u. vulkanischen Phänomene über die drei großen Ozeane veranschaulicht die beifolgende Karte. Im Atlantischen Ozean lassen sich mehrere Gebiete erkennen, in denen die Äußerung der seismischen Energie eine besonders rege ist. Zu beiden Seiten des Äquators vom 16. bis 31.° westl. L. liegt eine Zone, die durch einen völlig erdbebenfreien, ungefähr 3° breiten Raum in zwei Unterabteilungen getrennt ist; die östliche größere ist als äquatoriale Region bezeichnet, während die westliche zum größern Teil östlich des St. Pauls-Felsens liegt, nach dem sie die seismische Zone des St. Pauls-Felsens heißt (s. Karton auf der Karte). Die Azoren bilden ein zweites Zentrum, in dem die seismischen und vulkanischen Kräfte in voller Thätigkeit sind; ein drittes liegt in der westindischen und Virginentiefe. Submarine E. und Eruptionen kommen im allgemeinen in allen Meerestiefen vor, in der Flachsee wie in der Tiefsee, auf den unterseeischen Rücken wie in den eigentlichen Depressionsgebieten. Die Häufigkeit und Intensität in der Äußerung der seismischen und eruptiven Kräfte ist nicht von der Entfernung von thätigen oder erloschenen Vulkanen abhängig. Es gibt habituelle Stoßgebiete und ganz seebebenfreie Meeresteile; außerdem treten Seebeben vereinzelt und zerstreut über den Ozean auf. Die Verbreitung der Seebeben im Indischen Ozean und im Pacific bestätigt im wesentlichen die im Atlantic gewonnenen Resultate. Vgl. „Transactions of the Seismological Society of Japan“; J. Milne, Earthquakes and other earth movements; Rudolph, Submarine E. und Eruptionen (Stuttg. 1887).


Jahres-Supplement 1891–1892
Band 19 (1892), Seite 266269
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[266] Erdbeben. Die Seismologie als Wissenschaft ist erst wenige Jahrzehnte alt. Alle frühern Untersuchungen über E. hatten den Zweck, auf statistischer Grundlage die zeitliche und örtliche Verbreitung der Erderschütterungen nachzuweisen. Gegenwärtig sind weniger die E. in ihrer Gesamtheit als jede einzelne Erschütterung Gegenstand eines besondern Studiums, indem man die Grundsätze der Dynamik und physikalische Untersuchungsmethoden zu Grunde legt; indem man in den mechanischen Charakter einer Erdbebenwelle immer tiefer eindringt, steht zu hoffen, daß es gelingen wird, die Natur der E. aufzudecken und in jedem einzelnen Fall die Ursache derselben aus den besondern Verhältnissen der Erde darzulegen. Die Bedeutung der experimentellen Untersuchungen für das Erdbebenstudium dargethan zu haben, ist das Verdienst von Mallet, wenn es ihm selber auch noch nicht gelang, ein geeignetes Instrument zu konstruieren. Begründet wurde die experimentelle Erdbebenkunde erst vor etwa 10 Jahren durch die seismologische Gesellschaft, welche sich auf Veranlassung von John Milne in Tokio (Japan) bildete. Es gibt wohl nur wenig Länder, in denen die Gelegenheit zum Studium aller Erdbebenphänomene so günstig ist wie gerade in Japan. Da die Untersuchungen von Milne nicht bloß ein wissenschaftliches Interesse boten, sondern auch in ihrer Anwendung praktische Zwecke verfolgten, so wurde von Staats wegen ein seismologisches Institut gegründet, in welchem die Experimente in größerm Umfang und mit geeigneten Mitteln fortgesetzt werden konnten. Dieses ist mit dem meteorologischen Institut in Tokio verbunden und steht unter der Leitung des Direktors des letztern. Durch die vereinigten Bemühungen von Milne, Gray und Ewing haben die Seismometer jetzt eine solche Vervollkommnung erfahren, daß es leicht ist, mit Hilfe eines Horizontalpendelseismometers die Bewegung eines Erdpartikelchens während eines Erdbebens zu verfolgen. Auch in den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat man das systematische Studium der seismischen Erscheinungen nunmehr in Angriff genommen. Bei der ungeheuern Ausdehnung des staatlichen Gebietes und der relativ geringen Anzahl von E. kann die Beobachtung solcher nicht eine so intensive sein wie in Japan. Die vom Direktor der geologischen Aufnahme der Vereinigten Staaten eingesetzte Erdbebenkommission hat in anbetracht der genannten Umstände vorgeschlagen, von der Aufstellung von Seismometern und Seismographen abzusehen, dafür aber eine große Anzahl von kleinern Stationen über das ganze Gebiet hin zu errichten, die mit Seismoskopen ausgerüstet sind. Man ging dabei von der Ansicht aus, daß es im Interesse der geologischen Untersuchung und beim gegenwärtigen Standpunkt der Seismologie am wünschenswertesten ist, für ein gegebenes E. das Epizentrum, die Tiefe [267] desselben und den Zeitpunkt des Beginns der Erschütterung möglichst genau zu bestimmen. Das weit ausgedehnte Netz von Telegraphenlinien und die allgemeine Anwendung der Einheitszeit würden diese Art der Untersuchung sehr begünstigen. Nur für Kalifornien, das in stärkerm Maße von E. heimgesucht wird, sind mehrere Stationen ersten Ranges vorgesehen; eine derselben soll im Lick-Observatorium auf dem Mount Hamilton errichtet werden, um in erster Linie die Einwirkung der mikroseismischen Bewegungen auf die astronomischen Beobachtungen feststellen zu können. In Italien, der Heimat der Erdbebenkunde, ist infolge der Katastrophe von Casamicciola 28. Juli 1883 der seismologische Beobachtungsdienst durch königliche Verordnung neu organisiert worden. Auf Vorschlag einer Kommission, der unter andern de Rossi, Palmieri, Rossetti, Silvestri und Tacchini angehören, ist ein vollständiges Netz von Beobachtungsstationen errichtet worden, das sich über ganz Italien nebst den dazu gehörigen Inseln ausdehnt. Für Sizilien und die umliegenden Inseln ist der Ätna als der geeignetste Punkt ausersehen, auf dem eine Station ersten Ranges errichtet werden soll; die gleiche Bedeutung hat für die Insel

Fig. 1. Karte der Verbreitung der Erdbeben in Italien (nach Taramelli).

Ischia der Epomeo, an dessen Fuß in Casamicciola eine Station bereits in Thätigkeit ist. Der Vesuv bildet den Mittelpunkt für die Phlegräischen Felder am Nordrande des Golfes von Neapel; für die erloschenen Vulkane des zentralen Italien ist eine vierte Station in Latium vorgesehen, eine fünfte soll in Venetien in der Nähe der Euganeen, einer alten Vulkangruppe am Fuß der Alpen, in Thätigkeit treten. Diese fünf Stationen erster Ordnung werden von einer größern Anzahl von Beobachtungspunkten untergeordneter [268] Bedeutung umgeben werden. Die Beobachtungen erstrecken sich nicht bloß auf die seismischen Erscheinungen, sondern umfassen in gleicher Weise die eruptiven Vorgänge wie alle Veränderungen, welche an den Thermalquellen sich bemerkbar machen. Als erste Frucht dieser erneuten Thätigkeit ist die Übersicht zu verzeichnen, welche Taramelli von der Verbreitung der E. in Italien geliefert hat. Auf Grund derselben ist es möglich, das ganze Gebiet in bestimmte seismische Provinzen zu zerlegen; die beigedruckte Karte (Fig. 1, S. 267) läßt in sechs verschiedenen Schattierungen die seismische Intensität der verschiedenen Gegenden erkennen.

Vergleicht man diese Karte der Verbreitung der E. mit einer geologischen Karte der betreffenden Gegend, so tritt vor allem die innige Beziehung hervor, welche

Fig. 2. Die peripherische Linie der Liparen (nach E. Sueß).

zwischen den Erderschütterungen einerseits und der Gesteinsart sowie dem Relief des Bodens anderseits besteht. Mittelpunkte hoher seismischer Thätigkeit finden sich im N. bei Siena, Florenz und in dem alluvialen Gebiete der Pomündungen. Ein andres Zentrum liegt in Umbrien, das weiter südlich in den Abruzzen mit der höchsten Erhebung der Apenninen zusammenfällt. Neapel und Melfi sind zwei vulkanische Zentren, zwischen denen die Zone von Benevent und Ariano liegt, in welcher verhältnismäßig junge Gesteine in metamorphosiertem Zustand vorkommen; die südliche Fortsetzung dieser Zone bildet die Gegend von Potenza. Die südwestliche Halbinsel Kalabrien bildet mit der gegenüberliegenden Spitze von Sizilien eine zusammengehörige und einheitlich gebaute Zone (Fig. 2).

Die Westküste der Halbinsel wird von Gneis- und Granitmassen umsäumt, die zum Meer steil abgebrochen sind. Im N. ist es der Monte Cocuzzo, der landeinwärts vom Längenthal des Crati von der Gebirgsmasse der Sila getrennt wird. Gegen S. sind die aus Gneis bestehenden Höhen des Kap Vaticano und die granitischen Klippen der Scylla abgesunkene Bruchstücke des Aspromonte, welcher sich mit schroffem Abfall über dieselben erhebt. Aus Granit besteht auch die Nordostspitze von Sizilien, alles Trümmer eines einst zusammenhängenden Gebirgskerns, dessen hauptsächlichster Bruchrand gegen die Liparischen Inseln gerichtet ist. Dieser Bruchrand war 1783 einige Monate hindurch der Sitz einer heftigen seismischen Thätigkeit; die Erschütterungen pflanzten sich gegen S., W. und N. fort, aber nur wenig gegen O. über den Bruchrand hinaus. Diese Zone ist jedoch nur ein Teil einer großen Kurve, welche fast im Kreisbogen die Liparischen Inseln gegen S. und O. umgibt. Dieselbe verläuft östlich vom Monte Cocuzzo durch das Cratithal, dann längs der Dislokation des Aspromonte und jenseit der Straße von Messina zum Ätna. Außer dieser peripherischen Linie ist in derselben Gegend eine Anzahl andrer Stoßlinien bekannt, welche strahlenförmig von den Liparen ausgehen, und auf denen die Erschütterungen meistens von den Liparen nach außen, und zwar bis an oder auch über die peripherische Linie gerichtet sind. Der Schnittpunkt dieser Stoßlinien südlich von Stromboli, der gleichzeitig als Mittelpunkt der peripherischen Erdbebenlinie angesehen werden kann, fällt nun mit einer Gruppe von kleinen Inseln innerhalb der Liparen zusammen, welche die Trümmer eines einzigen mächtigen Kraters ausmachen. Von dieser Gruppe gehen drei radiale Linien aus, die mit Ausbruchsstellen der Liparen besetzt sind. Es liegt nahe, diese radialen Vulkanlinien mit den radialen Stoßlinien in Verbindung zu bringen, und zwar in der Weise, daß man annimmt, der von der peripherischen Linie abgegrenzte Raum sinkt schüsselförmig ein, dabei entstehen radiale Sprünge, welche gegen die Liparen konvergieren und in der Nähe des Zentrums mit vulkanischen Ausbruchsstellen besetzt sind.

Wie wenig ausgebildet die Seismologie als exakte Wissenschaft ist, beweist der Umstand, daß die Seismologen über die wichtigsten Begriffsbestimmungen durchaus nicht einig sind, so z. B. in betreff des bedeutendsten seismischen Elements der Intensität eines Erdbebens. Geht man von der Voraussetzung aus, daß die Zerstörung eines Gebäudes proportional der Beschleunigung ist, die durch den Erdbebenstoß in einer mit der Erdoberfläche verbundenen Masse erzeugt wird; nimmt man ferner an, daß die Bewegung bei einer Erdbebenwelle eine einfache harmonische ist, so ist die Intensität , wobei Amplitude, Periode der größten Welle ist, die Geschwindigkeit bedeutet. Mechanisch läßt sich die Intensität als der Zerstörungseffekt definieren oder als die größte, von dem Impuls herrührende Beschleunigung. Um einen absoluten Wert der Erdbebenintensität zu erhalten, müßte man in Bruchteilen der Beschleunigung der Schwerkraft ausdrücken; einfacher ist es jedoch, die Werte von [269] in Millimetern pro 1 Sekunde zu geben. Setzt man diese als Äquivalent der Intensitätsgrade nach der Skala von Rossi-Forel, so ist

Skala   Intensität
I. = 20 mm pro 1 Sekunde
IX. = 1200 1

Danach ließe sich die absolute Intensität eines Erdbebens in Zahlen ausdrücken. Milne und Gray definieren dieses Element als die Maximalbeschleunigung, andre setzen die Intensität gleich dem Energiebetrag auf die Flächeneinheit der Wellenstirn. Geht man von einem analogen Fall der Schallwellen aus, so kann die Menge der Energie, welche quer durch die Flächeneinheit einer Ebene übertragen wird, die parallel zu der Stirn einer fortschreitenden Welle ist, als das mechanische Maß der Strahlung angesehen werden. Der algebraische Ausdruck für diese Größe ist , wo , , die oben angegebene Bedeutung haben und die Dichte des Materials bezeichnet, durch welche die Fortpflanzung stattfindet. Die seismometrischen Messungen haben nun ergeben, daß die Amplitude und Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erdbebenwelle an der Erdoberfläche von Punkt zu Punkt wechseln, doch muß man annehmen, daß in der Tiefe infolge der größern Homogenität und Elastizität des Materials die einzelnen Wellenelemente konstanter sind. Ist die Fläche eines Teils der Wellenstirn, ein Längenmaß rechtwinkelig zu , so bezeichnet die Energie, welche erforderlich ist, um Wellen in dem Volumen zu erzeugen. Setzt man für die Masse des Volumens den Buchstaben , so kann man für obige Formel schreiben , wenn die Maximalgeschwindigkeit gesetzt wird. Das heißt, die Arbeit, welche dazu gebraucht wird, um Wellen von harmonischem Typus zu erzeugen, ist gerade so groß wie die Arbeit, welche dazu nötig ist, um der ganzen Masse, durch welche die Welle sich erstreckt, die Maximalgeschwindigkeit zu erteilen. Ist die letztere von einem Erdpartikel bekannt, so kann man die bei einem E. entwickelte Energie berechnen. Als Beispiel diene das E. vom 15. Jan. 1887, welches in Japan über 30,000 engl. QM. Landes erschütterte. Wählt man eine Masse von 150 Pfund auf den Kubikfuß und eine Kubikmeile als Volumeneinheit, so wären 2,500,000,000 Fußpfund Energie nötig, um diese Masse in Schwingungen zu bringen, was man bezeichnen kann als den mechanischen Wert einer Kubikmeile E. Setzt man den Fall, daß 100 QM. mit einer mittlern Tiefe von einer Meile in einem gegebenen Augenblick erschüttert würden, so würde der Energiebetrag Fußpfund repräsentieren. Diese Energie würde erzeugt durch den Fall eines Gesteinswürfels von 1000 Kubikfuß, der unter der Wirkung der Schwerkraft etwa 166 Fuß fällt und dessen Gewicht 75 Mill. Ton. beträgt.

Auch in der Frage nach der Ursache der so häufig bei E. beobachteten magnetischen Störungen gehen die Ansichten auseinander. So wurde in der Nacht vom 11.–12. Juli 1889 auf der Sternwarte zu Berlin eine Niveaustörung an zwei NS. gerichteten Höhenniveaus beobachtet. Der Verlauf einer vollständigen Schwingung fand dabei höchst eigentümlich in der Weise statt, daß die ganze Dauer derselben 19″ betrug, wovon 5″ auf die eigentliche hin und her gehende Schwankung kamen, während die übrigen 14″ eine relative Ruhe eintrat. Diese Störung wird mit der Erschütterung in Verbindung gebracht, welche 12. Juli 3 Uhr 15 Min. vormittags in Wjernoje in Taschkent stattfand. Eine Bestätigung hat diese Ansicht durch die Beobachtungen erhalten, welche auf der Pawlowsker Sternwarte an den magnetischen und elektrischen Registrierapparaten gemacht wurden. Beide Berichte ergänzen sich und lassen über die Deutung der Beobachtungen als mechanische Erschütterungen keinen Zweifel. Auf dem Observatorium des Parc St.-Maur bei Paris wurden gelegentlich auch Störungen des Magnetographen bemerkt, doch ist man hier zu der Ansicht gekommen, daß die Störungen der magnetischen Instrumente wenigstens in der Mehrzahl der Fälle nicht von einer mechanischen Übertragung der Erschütterung herrühren. Man beobachtet auf dem Observatorium einen bifilar aufgehängten Kupferdraht, dessen Bewegungen photographisch aufgenommen werden. Bei zwei E. der letzten Zeit ist an diesem Draht nicht die geringste Ablenkung bemerkt worden.