Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame/VII
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 510–512
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
VII.


Viele Dichter und Denker, verehrte Frau, haben das große Räthsel der Liebe zu lösen versucht,

Worüber schon manche Häupter gebrütet,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perrückenhäupter und tausend and’re
Arme, schwitzende Menschenhäupter –

und wie verschiedenartig klingen die Lieder der alten Sappho und des neuen Mirza-Schaffy, wie anders empfindet Schiller’s Thekla die Liebe, wie anders die Heine’schen Salondamen Angélique, Diane, Hortense!

Von allen neuen Dichterworten über die Liebe hat wohl keines eine größere Verbreitung gefunden, als die bekannten Verse:

Mein Herz, ich will dich fragen,
Was ist denn Liebe? sag’!
Zwei Seelen und ein Gedanke,
Zwei Herzen und ein Schlag.

Ein sehr gebildetes Mädchen aus dem alten Massalia, dem heutigen blutrothen Marseille, bekehrt durch diese Zauberformel einen wilden Tectosagen zu frommeren Sitten, und seitdem ist diese „Marseillaise“ der Liebe auf allen Clavieren und in allen Herzen heimisch geworden. Zuerst vernahm man sie in einem auf allen Bühnen erfolgreich aufgeführten Schauspiel: „Der Sohn der Wildniß.“

Warum ich Ihnen gerade heute vom „Sohn der Wildniß“ spreche? Sie glauben vielleicht, ich wolle die Zeit moderner [511] Culturbarbarei ironisch beleuchten! In der That, jene bildungsfähigen Tectosagen erscheinen in einem sehr milden friedlichen Licht, wenn man sie mit den Kindern der großen „Mutter der Civilisation“ vergleicht, den Parisern von 1871! In jenen Wäldern gab es noch keine Petroleumspritzen; jene Wilden raubten nur Schafherden, aber nicht Staatspapiere, schlachteten gelegentlich vereinzelte Opfer ihren Göttern, aber sie würgten nicht Tausende für die namenlosen Götzen confuser Begriffe. Ja, die neuen Kämpfe der Pariser und Versailler erinnern an die Kämpfe der tätowirten Söhne der Wildniß, und verglichen mit den Gräueln dieser Straßen- und Kirchhofgefechte erscheint das Skalpiren als ein gründlich harmloses Vergnügen.

Nein, wir wenden zugleich mit dem trauernden Genius der Menschheit unsere Augen ab von diesen Orgien und Bluthochzeiten, bei denen „Weiber zu Hyänen werden und mit Entsetzen Scherz treiben“. Jene Verse aus dem „Sohn der Wildniß“ sollen uns an einen deutschen Dichter erinnern, der in diesem an blutigen Opfern und großen Todten so reichen Jahre auch dahingeschieden ist.

Friedrich Halm heißt er bei den Musen des Parnasses, Freiherr Münch von Bellinghausen bei den sterblich redenden Menschen, in den Wiener Staatskanzleien, in der Hofbibliothek, in dem Hofburgtheater.

Es ist nicht immer ihr Bestes, wodurch die Dichter berühmt werden; aber sind sie es einmal geworden, so kommt auch ihr Bestes zu Ehren in der Schätzung der Menge. Jene Verse über die Liebe erfreuen sich einer beneidenswerthen Volksthümlichkeit, aber sie geben durchaus nicht den Maßstab für Friedrich Halm’s dichterische Bedeutung. Auch zweifeln wir, daß sie auf eine bärenhäutige Kraftnatur einen solchen Eindruck machen konnten, wie auf einen modernen Salonmenschen im Frack, wenn er, am Clavier stehend, einer singenden Parthenia das Blatt umwendet und, vom Feuer ihrer Blicke getroffen, empfindet, daß die Liebe „zwei Seelen und ein Gedanke“ sei – bis dieser eine Gedanke in Gestalt einer schöngestochenen Verlobungskarte der Welt offenbar wird.

Sie sind glücklicher Weise nicht alt genug, Madame, um sich der Zeiten zu erinnern, in denen Friedrich Halm’s erstes Drama „Griseldis“ eines der beliebtesten deutschen Bühnenstücke war. Nicht nur auf den großen Hof- und Stadttheatern erregte dies Schauspiel ein seltenes Aufsehen; auch auf den kleinsten Provinzbühnen kam es zur Darstellung. Ich selbst besinne mich, es in einem ostpreußischen Kreisstädtchen gesehen zu haben, in dem Saale eines Amtshauses, das auf den Trümmern einer alten Ordensburg errichtet war. Unvergeßlich bleibt mir die handfeste Griseldis, die sich in jedem Zwischenacte durch ein Gläschen Schnaps von Neuem für das Märtyrerthum stärkte, welches der grausame Junker Percival, ein Ahnherr der späteren Lords vom „Turf“, über sein liebendes Weib verhängte.

Heutzutage ist die strenge Kritik einig darin, diesem erfolgreichen Drama das Recht der Existenz abzusprechen. Ein Gatte, der sein Weib quält, um eine Grille seiner Eitelkeit zu befriedigen, eine Gattin, welche mit unglaublicher Anmuth und Resignation erträgt, was der Wille ihres Herrn und Gebieters über sie bestimmt, eine lebendige Illustration der Worte Schiller’s:

Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden,
Das harte Dulden ist ihr schweres Loos –

das sind nicht Helden eines Dramas, welche unserer Sympathien gewiß sein dürfen. Verletzend wirkt das Komödienspiel mit den heiligsten Empfindungen, und wenn Griseldis am Schlusse sich von Percival scheidet, wenn sie sich weigert, länger „der Willkür Spiel, der Laune Ball“ zu sein, so stimmen wir ihr zwar freudig bei, können aber in ihrem Entschlusse keinen Ersatz dafür finden, daß wir fünf Acte hindurch das Ballspiel der Willkür und der Laune mit ansehen mußten.

Und dennoch, wie erklärt sich trotz Allem der Erfolg des Stückes? „Rien ne réussit que le succès,“ sagen die Franzosen und haben die Wahrheit des Spruchs in neuester Zeit auf ihre Kosten erfahren. Es ist unglaublich, was Alles durch den Erfolg genießbar wird und wie er selbst das Urtheil der klügsten Leute zu benebeln vermag. Ist ein Dichter oder eine Dichtung Mode geworden, so mögen noch so viele geistig tapfere Männer innerlich dagegen raisonniren oder auch kritisch dagegen auftreten – die Mode läßt sich nichts abkämpfen, bis sie eines schönen Tages ganz von selbst sich in Dunst auflöst.

Halm’s „Griseldis“ wurde indeß nicht blos von der Gunst des Tages emporgetragen; sie hatte Vorzüge, welche den Erfolg rechtfertigten. Im Jahre 1835, als sie zuerst auf dem Wiener Burgtheater erschien, führten in Deutschland Raupach, Houwald und andere Dichter von etwas blasser Färbung das dramatische Scepter. Gegen ihre Jamben, welche wie die leblosen Gespenster der blut- und lebensvollen Verse Schiller’s gemahnten, stachen diejenigen von Friedrich Halm durch dramatische Frische und Kraft ab, ohne des einschmeichelnden lyrischen Zaubers zu entbehren. Was ein poetisches Talent vermochte, um einen spröden und mißliebigen Stoff durch die Behandlung anziehend zu machen, das war von Friedrich Halm in glänzender Weise geschehen – und wenn die rührenden Scenen, in welchen das demüthige Köhlermädchen sein edles Herz ausschüttet, auf die Schnupftücher wirkten, auch bei denjenigen Vertreterinnen des schönen Geschlechts, welche nicht gesonnen waren, solche Demuth nachzuahmen, so wirkte doch nicht minder die Anmuth und der Schwung der Verse auf jedes für poetische Anregung nicht unempfindliche Gemüth. Wer konnte dem hinreißenden Zauber innigen Gefühls widerstehen, wenn die verbannte Griseldis scheidend dem Gatten die von echter dichterischer Begeisterung eingegebenen Worte zuruft:

Leb’ wohl, mein Percival! Dies Herz voll Liebe
Wird nie vergessen, wie du es beglückt.
Gedenken wird es dein, wenn mein Gedächtniß
Hindämmernd längst verging in diesen Räumen;
Denn das Gewes’ne gleicht dem dürren Blatt,
Leicht weggeweht im Wirbel der Minuten,
Du aber lebe frohe Tage hin!
Mit seinem vollsten Strahlenglanz umgebe
Der Himmel segnend deine hohe Stirn;
Ganz überschütten soll er dich mit Lorbern
Und Kränze zahllos häuf’ er auf dein Haupt;
In edeln Sprossen grüne dir dein Name
Und ein geliebt’res Weib mag mich ersetzen.
O lächeln will ich, lächeln unter Thränen,
Wenn sie dich mehr beglückt; denn mehr dich lieben
Kann keine, keine auf dem Erdenrund.

Zu einem bedeutenderen Stoffe wandte sich Friedrich Halm in seinem „Adepten“; denn der Fluch des Goldes ist ein uraltes und ewig neues Thema der Dichtung. Doch gelang es ihm nicht, für dies mehr im Stile des „Faust“ und der Byron’schen Dichtwerke gehaltene Drama die allgemeine Theilnahme zu gewinnen. Auch „Imelda Lambertazzi“ und mehrere andere Dramen, denen man das Urbild spanischer Dichtweise anmerkte, machten nicht wie „Griseldis“ den beflügelten Rundgang über die deutschen Bühnen. Erst der „Sohn der Wildniß“ (1842) hatte wieder einen durchschlagenden Erfolg – kein erster Liebhaber, der nicht den muskelkräftigen Ingomar, keine erste Liebhaberin, welche nicht die zartsittige und doch so unternehmungslustige Parthenia gespielt hätte! Auch hier handelte es sich wie in „Griseldis“ um ein psychologisches Experiment: Liebe und Bildung zähmen die rohe Naturkraft, und der gebändigte Wilde wird ein wackerer Bürger der guten Stadt Massalia – vielleicht ein solcher Philister, wie der Waffenschmied Myron, sein Schwiegervater durch des Schicksals Willen wie durch der eroberungslustigen Parthenia erzieherische Talente. Auch in diesem Stoff lag etwas von jener „Dressur“, die in „Griseldis“ unangenehm berührte! Dort zeigte der Ehemann dem ungläubigen Hofe die treffliche Dressur seiner Gattin, die jedem seiner Winke gehorcht – hier führt triumphirend die Schöne von Marseille den Bären der Wildniß am seidenen Bande – und mancher hartherzige Splitterrichter mochte des Goethe’schen Verses gedenken: „Jetzt ist der Lümmel zahm!“ Aber auch der „Sohn der Wildniß“ war reich an poetischen Schönheiten. Die sichere Führung der Handlung und der Adel des Ausdrucks ließen den wohlgezogenen Liebling der Kamönen, den Zögling classischer Bildung nicht verkennen.

Und wieder verging mehr als ein Jahrzehent, ehe Halm einen neuen glänzenden Erfolg zu verzeichnen hatte. O Madame – die Stationen auf den Etappenstraßen des Ruhmes liegen oft weit auseinander und rücken erst in den Augen der Nachwelt näher zusammen. Manches Stück von kräftiger Haltung, wie „Sampiero“, hatte Halm gedichtet; doch der männliche Ton patriotischer Begeisterung, den er hier angeschlagen hatte, fand kein Echo in weiteren Kreisen – nach wie vor galt Halm für einen sentimentalen Poeten von weichlichen Neigungen, von etwas süßlichem Beigeschmack; denn seine Heldin Parthenia hatte in der That etwas Verbildetes und antik Gouvernantenhaftes.

Da erschien „der Fechter von Ravenna“ (1854), ein Drama [512] von schwunghaft patriotischem Geiste beseelt. Der Dichter hatte sich nicht genannt; man rieth auf Grillparzer, und ein bairischer Schullehrer Bacherl, der denselben Stoff in ähnlicher Scenenfolge, aber in unmöglichen Versen behandelt hatte, machte dem Verfasser des „Fechters von Ravenna“ seine Lorbeeren streitig, und wurde in München sogar als der legitime Autor des Stücks von dem Theaterpublicum verherrlicht. Dieser „Fechter von Ravenna“ ist Halm’s bestes Werk und sichert ihm dauernden Nachruhm. Die Charakteristik des Cäsarenwahnsinns im „Caligula“, der damaligen römischen Sitten in den Gladiatoren der Fechterschule und dem römischen Blumenmädchen Lyciska war voll Mark und Kraft; der Ausdruck deutschnationaler Gesinnung voll erhebenden Schwungs; die dramatische Gliederung und Entfaltung der Handlung verrieth eine kundige Hand und war in stylvollen Linien gehalten; auch fehlte es dem Drama nicht an tragischer Größe, wenngleich das Heldenthum einer Mutter, die den andersgesinnten, dem Vaterlande ungetreuen Sohn tödtet, für unser modernes Empfinden immer etwas Befremdendes hat.

Friedrich Halm’s spätere Dramen hatten nicht den gleichen Erfolg. Ein romantisch duftiges, aber wunderliches Schauspiel, „Wildfeuer“, dessen Heldin ein als Knabe erzogenes und ihres Geschlechts unkundiges Mädchen ist, machte trotz anziehender Einzelnheiten keinen wohlthuenden Gesammteindruck. „Iphigenie in Delphi“, eine Dichtung von edler Einfachheit und klassischem Adel, konnte wegen des antiken Stoffes nicht Fuß auf den Bühnen fassen und auch „Begum Sumro“, von allen Stücken Halm’s dasjenige, welches trotz seines indischen phantastischen Hintergrundes die meisten Beziehungen zu den politischen Fragen der Gegenwart hat, machte nicht die Runde über die deutschen Bühnen.

Friedrich Halm ist ein Dramatiker von feinem künstlerischen Sinn, von vorwiegender Neigung für gewagte Probleme, in der Einfachheit der Anlage, in dem poetischen Duft der Diction an das Vorbild Grillparzer’s erinnernd; aber mit größerer Vorliebe für die weichen Linien des Stils. Er ist ein Dichter von vornehmer Haltung, der aber doch große volksthümliche Wirkungen erzielt hat. Seine tragische Muse war Frau Rettich, die ihm die Gestalten seiner Dichtung so lebensvoll verkörperte; für sie schrieb „Thusnelde“; ihr widmete er den „Fechter von Ravenna“ mit dem zueignenden Sonett:

„Begünstigt das Geschick ein redlich Streben,
So fügt es, daß auf unserm rauhen Pfad
Ein freundliches Gemüth dem Wand’rer naht,
Erquickend Trost und Beistand ihm zu geben.

So sah ich meine Pfade Dich umschweben
Und pflegen meiner Lieder junge Saat,
Und wenn er schüchtern vor die Menge trat,
Des Dichters Traum verkörpern und beleben!

Ich gab das Wort; Du liehst ihm Fleisch und Blut,
Der Anmuth Zauber und der Wahrheit Gluth,
Und leg’ dies Lied ich huld’gend vor Dir nieder.

Ist mir zu Muth fast, große Künstlerin,
Als reicht’ ich nicht ein Weihgeschenk Dir hin.
Als gäb’ ich Deine Gabe nur Dir wieder.“

Im Salon der Frau Rettich entfaltete Halm die feine Liebenswürdigkeit seines Wesens, während er bei mehr amtlicher Begegnung vielleicht diesem oder jenem als ein zugeknöpfter Bureaukrat erscheinen mochte. Doch auch auf seinem Bureau in der Bibliothek der Burg konnte er in lebhaftem Gedankenaustausch alles Bureaukratische abstreifen. Noch heute tönen mir die Elegien im Ohr, die er mir über den Geschmack und das Publicum der Gegenwart vorklagte; seine Anschauung von den Zuständen unserer Literatur war eine verzweifelte; er meinte, daß unsere Dichtung keine Würdigung mehr finden könne. Und doch übernahm er als Generalintendant nach Laube’s Abgang das Steuerruder des Burgtheaters und mußte alsbald aus den scharfen Kritiken seines Vorgängers erfahren, daß schon in den ersten drei Wochen dies Institut unter seiner Leitung in tiefen Verfall gerathen sei.

Noch erinnere ich mich, verehrte Frau, eines Abends im Salon der Frau Rettich, welche nicht blos eine hervorragende Künstlerin, sondern auch eine geistreiche Frau war, und aus ihrem Salon ein „bureau d’esprit“ gemacht hatte. Es war ein schöner anregender Abend – aber wenn ich seiner gedenke, ergreift mich Wehmuth über die Vergänglichkeit des Irdischen. Es sind nur Schatten, die jetzt vor meiner Seele schweben! Dahingeschieden ist der Dichter selbst, dessen hohe Gestalt so stattlich die Gesellschaft beherrschte; dahingeschieden ist seine tragische Muse; auch der wackere Jean Paul Oesterreichs, der so gemüthreich aus den großen Augen sah, Adalbert Stifter, weilt nicht mehr unter den Lebenden. Soll uns Schiller’s Spruch trösten:

„Wenn der Leib in Staub zerfallen,
Lebt der große Name noch!“

Ach, der großen Namen sind so viele und immer schwächer wird das Gedächtniß der alternden Zeit!