Leipzig (Meyer’s Universum)

CXXXXVII. Carrik-o-Reede Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band (1837) von Joseph Meyer
CXXXXVIII. Leipzig
CXXXXIX. Roveredo
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LEIPZIG

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CXXXXVIII. Leipzig.




Es gibt welthistorische Namen, welche wie Signal-Feuerthürme aufgerichtet stehen in der Sahara der Vergangenheit, und die, wenn der Odem der Zeit Alles verweht, und der Staub der Jahrtausende Alles in Nacht und Vergessenheit begräbt, dem Forscher den Pfad bezeichnen, welchen die Menschheit wandelte. Ein solcher Name ist Leipzig. Gleich Marathon und Salamis ist er der Erbe der Ewigkeit.

Und wer, in Dem ein Herz für’s Herrlichste schlägt, welcher Deutsche zumal, könnte ohne innere Bewegung der Zeit denken, die Leipzig’s Namen die Weihe für alle Zukunft gab? Wohl ein arger Zauberer ist der Laut für Viele. Wetterwolken jagt er über männliche Stirnen, und manches bleiche Antlitz überzieht er glühend roth und mit finsterm Ernste: die Feuer auf den Bergen sind ja erloschen und verflogen sind die Jugendträume vom Wiederfinden eines verlornen Paradieses. – Aber wenn auch! Er bleibt doch der größte Tag Deutschland’s durch alle Zeiten, der große Säetag zukünftiger Aerndte.


Leipzig, der Ort Leipzig, ist neueren Ursprungs. In dem sumpfigen Winkel, der die Flüßchen Barde und Pleiße vor ihrer Vereinigung trennt, hatten die Sorben-Wenden, welche diese Gegend bewohnten, im zehnten Jahrhundert ein schlechtes Dörfchen, das sie, nach den vielen Linden, die da wuchsen, Lipia (Lindenhain) nannten. Heinrich der Vogler, der die wendischen Stämme unterwarf, und eine Menge Burgen im Sachsenlande erbaute, hat wahrscheinlich auch hier eine solche errichtet, und man führt, jedoch nicht mit Sicherheit, den Besitz städtischer Rechte auf diese Zeit zurück. Als Stadt mit Mauer und Thoren erscheint sie in den Urkunden des zwölften Jahrhunderts; auch mit Marktrecht; doch war sie damals, und blieb es noch längere Zeit, nur kleine Landstadt. Erst im vierzehnten Jahrhundert, als sie bei dem veränderten Gange des Handels für den Verkehr zwischen Nord und Süd als Speditions- und Niederlagsort Wichtigkeit bekam, als Erfurt’s Größe sank, und sie mit einwandernden Erfurter Kaufleuten einen großen Theil der über jenen Platz gegangenen Geschäfte an sich zog: nahm Leipzig rasch zu an [22] Volk, Umfang und Wohlstand. Zu Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts bekam es (den günstigen Umstand der Religionsverfolgungen in Böhmen, weshalb 3000 Studenten auswanderten, benutzend) Universität, bald darauf Meßrecht, und als die Grundpfeiler der alten Hansa niederstürzten, als das Band, welches die ältern deutschen Handelsstädte zusammengehalten hatte, sich auflöste, gelang es Leipzig, von den Trümmern so viel zu erhaschen, als seine geographische Lage, in der Mitte Deutschland’s und von schiffbaren Strömen fern, nur irgend gestattete. Seit dem dreißigjährigen Kriege, von dessen Drangsalen es seinen guten Theil trug, hat sich Leipzig stets im Aufblühen erhalten. Nach dem siebenjährigen Kriege ebnete es seine Festungswerke, Mauern und Wälle, und wandelte sie in einen weiten und prächtigen Kranz der herrlichsten Gartenanlagen um. Die Begüterten und Reichen suchten nun häufig für ihre Wohnungen das Freie, und in den Vorstädten, welche noch bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts meistens aus unansehnlichen, barackenähnlichen Häusern bestanden, stiegen Palläste auf, und reiheten sich die stattlichsten Wohnungen allmählich zu prächtigen Straßen an einander. Auch im Innern der Stadt trat gleichzeitig vortheilhafte Aenderung ein. An die Stelle der alten Häuser von Fachwerk entstanden nach und nach große, steinerne Gebäude, und so groß war die Umwandlung binnen einem halben Jahrhundert, daß zu Anfang des jetzigen mit Recht Leipzig als eine der schönsten Städte Deutschland’s gepriesen wurde, welche mit dem königlichen Dresden rivalisirte.

Auch in neuester Zeit hat Leipzig mit dem Verschönerungsstreben, welches ein charakteristisches Zeichen der Gegenwart ist und in allen größern deutschen Städten gleichsam Wunder schafft, Schritt gehalten und kein Jahr vergeht, ohne daß nicht die Stadt durch Neu- und Umbau an Größe und Glanz ansehnlich gewänne. Die Vermehrung des Wohlstandes und der Volksmenge steht damit auf die erfreulichste Weise in Wechselwirkung, unähnlich manchen Erscheinungen, namentlich in einigen Städten des südlichen Deutschlands, deren Großwachsen an Treibhauskünste erinnert. Leipzig, das vor 50 Jahren 1200 Häuser und 35,000 Bewohner zählte, umfaßt jetzt über 1600 meistens große Wohnungen und die Seelenzahl ist über 50,000 gestiegen. Kein Ort in Deutschland, nehmen wir einige Residenzen, wo das Mark von Königreichen die Metropole nährt und groß zieht, aus, und Elberfeld, Triest und Frankfurt etwa, kann des Aufblühens in so großartigem Maasstabe sich rühmen.

Die bedeutendsten Gebäude, großentheils in schönem und großem Style aufgeführt, sind das Rathhaus (noch ein Werk aus dem 16ten Jahrhundert), die Handelsbörse, die Thomas- und Nicolai-Kirche, der Auerbachshof, die Pleißenburg (das Schloß) mit der Sternwarte, das Gewandhaus, das Paulinum, das Theater, die Thomasschule, die neuerbaute Buchhändlerbörse und verschiedene andere. Unter den zahlreichen, ausgezeichnet schönen Gärten verdient der Reichelsche, mit seinen schloßähnlichen Gebäuden, Bädern, der Mineralwasseranstalt, und einer Menge als Cottages vermietheter Häuschen mit kleinen Gärten; der botanische [23] (Trier’sche), der Reimer’sche, der Keil’sche und der sonst Reichenbach’sche (jetzt Gebhardt’sche) in der Rannstädter Vorstadt besondere Erwähnung.

Letzterer war der Schauplatz der Schlußscene des großen Kampfes, durch welchen ein Welttheil sich aus den Eisenarmen des corsischen Eroberers wand. Hier steht das Denkmal Poniatowski’s, der Stelle im Elsterflusse gegenüber, wo der Held, nachdem er seine Polen, um Napoleon den Rückzug zu decken, zum letztenmale den heranstürmenden Siegern entgegengeführt hatte, (am 19. October 1813), in dem Versuche, das entgegengesetzte Ufer zu erreichen, ertrank.

Unter den entfernteren Umgebungen ist das anmuthige Rosenthal seit lange berühmt. Eine Menge zum Theil stattlicher Villen, mit parkähnlichen Anlagen, zwischen der Stadt und den nächstgelegenen Dörfern, geben von dem vorherrschenden Sinne der Leipziger für ländliche Vergnügen und ihrer Empfänglichkeit für die Reize der schönen Natur Zeugniß. –

Humanität sitzt seit Jahrhunderten auf Sachsens Fürstenstühlen, und seiner Regenten standhaftes Wirken für die höchsten und vorzüglichsten Güter der Menschen, für geistige Freiheit, für Wissenschaft und Kunst ist ihr unvergänglicher Ruhm. Weit voran schritten die deutschen Stämme unter sächsischer Herrschaft den übrigen germanischen Völkern in der Bildung, und vorzüglich waren Wittenberg und Leipzig die Heerde, auf denen die Flammen der Kultur hoch aufloderten, leuchtende und zündende Funken tragend durch das gesammte Vaterland. Leipzig hat die Ehre, die Wiege unserer Nationalliteratur zu seyn, und zu einer Zeit, als uns die Franzosen noch Barbaren nannten, als der größte der deutschen Monarchen selbst sich noch der Muttersprache schämte und mit Verachtung auf ihre Erzeugnisse herabsah, einen Kreis von Männern erzogen zu haben, großen Geistes und mit starkem Willen, die zuerst des Auslandes Fesseln für immer brachen und Deutschlands Literatur binnen ein paar Jahrzehnten zu einer Höhe führten, zu der wir mit gerechtem Stolze hinweisen, der Fremde mit Neid hinansieht. In vernünftiger Reform des Schulwesens ging Sachsen allen andern deutschen Staaten, als Zugführer, weit voraus, und die höheren Unterrichtsanstalten Leipzigs dienten, bis auf die neueste Zeit, für nahe und ferne Länder als Muster zur Nachahmung. Berühmt sind die Thomas- und die Nicolaischule schon seit langen Jahren. Geßner, Ernesti, Fischer, Reiske und vieler anderer ihrer Lehrer sind unsterbliche Namen. Auch für eine liberale, zeitgemäße Bildung des Bürgerstandes gibt die hiesige Rathsfreischule ein noch unübertroffenes Vorbild ab, und eine große Menge blühender Elementar-Unterrichtsanstalten, Sonntags-, Frei- und Handwerksschulen werfen in die niedrigsten und dunkelsten Lebenskreise das segenbringende Licht des Wissens, der Erkenntniß und der Gesittung. Daher ist es gekommen, daß der Masse von Leipzig’s Bewohnern ein Grad von Bildung eigen ist, welcher jedem Fremden auffällt und wohlthut.

[24] Unter allen Bildungsanstalten ist aber die Universität diejenige, auf welche Leipzig mit dem gerechtesten Stolze sieht. Sie besitzt, – ein schönes Zeugniß von der Munifizenz seiner Fürsten! – ein eigenthümliches Vermögen, (großentheils Grundbesitz,) das nach jetzigem Werthe fast eine Million Thaler betragen mag, und zieht aus demselben ein jährliches Einkommen von 30,000 Thalern. Ihr Haupt ist der Rektor Magnificus und den 4 Fakultäten stehen 4 Dekane vor, welche aus den 23 ordentlichen Professoren alter Stiftung gewählt werden. Die Gesammtzahl ihrer öffentlichen Lehrer übersteigt gegenwärtig 70.

Seit den vier Jahrhunderten ihres Bestehens hat die Leipziger Hochschule den Ruhm, eine der besten Europa’s zu seyn, ungeschmälert behauptet und sie besaß zu jeder Epoche gefeierte Lehrer von europäischem Rufe. Darum ist sie auch jederzeit von Studirenden aus den fernsten Weltgegenden besucht worden. Besonders zeichnet sie sich durch die Pflege der philosophischen und theologischen Wissenschaften aus. Zur Förderung dieser Studien dienen mehre trefflich organisirte Institute, welche mit der Universität in näherer oder entfernterer Beziehung stehen. Das philologische Seminar z. B., von Hermann geleitet, hat für ein geschmackvolles Studium des klassischen Alterthums Unermeßliches geleistet und ist immer eine Pflanzschule gewesen, aus welcher die höhern Bildungsanstalten des Auslandes, Gymnasien und Universitäten, geschickte Lehrer zogen. Preußen namentlich dankt ihm viel, und seine tüchtigsten Philologen sind geborne Sachsen oder gingen bei den Sachsen in die Schule. – Die Universitätsbibliothek ist etwa 80,000 Bände stark und im Fache der klassischen Litteratur reich.

Für die Kunst ist ein reger, lebendiger Sinn unter den Reichen Leipzigs und wenige Städte von ähnlicher Größe werden so viele und so bedeutende Sammlungen im Privatbesitz nachzuweisen im Stande seyn. Die Speck’sche Gallerie und das Otto’sche Kabinet von Kupferstichen und Handzeichnungen sind weltberühmt. Kleinere, aber durch Meisterwerke reiche und kostbare Sammlungen sind die von Brockhaus, Baumgärtner, Weigel; und an dem Weigel’schen Kunstantiquariat, dessen mit seltener Sachkunde abgefaßte Kataloge einen hohen wissenschaftlichen Werth haben, besitzt Deutschland ein in seiner Art einziges Institut.

Als Fabrikort war Leipzig immer unbedeutend, und Manufakturen haben hier, nehmen wir wenige aus, niemals ein rechtes Gedeihen gefunden.

Als Handelsplatz hingegen ist Leipzig, wenn man alle seine Geschäfte in ihrer Gesammtheit betrachtet, unter den Binnenmärkten in Deutschland der erste und größte. Die Pulsader des hiesigen Verkehrs sind die beiden Hauptmessen, (Jubilate und im Herbste) die bedeutendsten in der Welt, sowohl nach der Menge ihrer Besucher, als nach der Größe ihres Umsatzes. Die Zahl der fremden Kaufleute und Fabrikanten, Verkäufer wie Käufer, welche in der Jubilatemesse hierher kommen, wechselt zwischen 18 bis 24,000. Alle Handelsnationen der alten Kontinente, Europa’s und Asien’s, finden hier mehr oder weniger Repräsentanten und auch Nordamerikaner stellen sich häufig [25] ein. Leipzig ist dadurch ein Hauptstapelplatz nicht nur für deutsche Fabrikate, sondern auch für die Englands und Frankreichs geworden, und namentlich ist der Umsatz in wollenen, baumwollenen und seidenen Stuhlwaaren, in Leder, in nordischem Pelzwerk, von einem erstaunlichen Umfang. Im Handel mit Kolonialwaaren rivalisirt es mit Magdeburg, im Wechselhandel mit Frankfurt; der Wollhandel, unterstützt durch einen der wichtigsten Märkte für dieses Produkt, ist ein großes Geschäft, und der Buchhandel, welcher hier, wie nirgends in der Welt, Herz und Mittelpunkt hat, setzt viele Millionen um. Siebenhundert Buchhändler, und unter diesen welche aus fast allen Ländern Europa’s, ordnen in der Ostermesse, persönlich oder durch Vollmacht, ihre Jahresrechnungen, und die für dieß wichtige Geschäft hier bestehenden Einrichtungen sind ganz im Geiste eines Weltverkehrs, eben so originell, einfach und zeitersparend, als zweckmäßig. Zugleich sind sie für die Leipziger Buchhändler eine nie versiegende Quelle großer Vortheile, welche von andern Stapelplätzen oft bestritten und immer beneidet, aber noch nicht getheilt worden sind. Verwandte Zweige: Musikalienhandel, Buch- und Notendruckerei, Stereotypengießerei etc. existiren hier in großartigern Anlagen, als – wenn wir einige in London und Paris und unser eigenes Etablissement ausnehmen – irgendwo in Europa. Die Brockhaus’schen Offizinen z. B. beschäftigen nahe an hundert Menschen.

Fassen wir den geistigen und materiellen Verkehr Leipzigs in seiner Gesammtheit auf, so können wir uns eines Gefühls von Staunen und Ehrfurcht nicht entschlagen, das uns, so zu sagen, wider Willen beschleicht. Der berechnende Verstand erschrickt vor der kolossalen Größe der Resultate jenes stillen, vielhundertjährigen Austausches der Erzeugnisse des Bodens und der Industrie, von Kenntnissen und Beobachtungen, von Erfahrungen und Ideen zwischen Völkern und Menschen. Hand in Hand mit Handel und Gewerbfleiß ziehen hier Kunst und Wissenschaft immerfort aus und ein, und auf des Leipziger Verkehrs nie rastender Woge schwimmt die Saat der Kultur und Civilisation von einem Land zum andern. – Gerne legen wir das Bekenntniß nieder: In Betreff der erhabensten und edelsten aller Wirksamkeiten, der Verbreitung der Humanität, kann kein anderer Ort der Welt mit Leipzig sich messen; seine blutgetränkten Fluren aber, auf welchen zweimal[1] Entscheidungskämpfe gekämpft wurden, bleiben für die Freiheit des Glaubens und die Unabhängigkeit des Vaterlandes ein ewig classischer Boden.





  1. Am 7. September 1632 (für die Glaubensfreiheit) durch Gustav Adolph’s unsterblichen Sieg über Tilly; und am 16–19. October 1813 in der bekannten Völkerschlacht.