Ketten (Anton von Perfall)

Textdaten
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Autor: Anton von Perfall
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Titel: Ketten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15–22, S. 453–460, 486–492, 517–524, 549–556, 581–588, 636–641, 656–662, 693–695
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman als Vorabdruck
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[453]
Ketten.
Roman von Anton v. Perfall.


Die ganze Stadt triefte; all ihre bunten Farben flossen verdrießlich ineinander – – alles verwaschen, rieselnd, plätschernd, spritzend, und doch ein wirres Gedränge, Geschiebe und Gerassel: es war Weihnachtszeit! Selbst dieser eigensinnige, geistlos einförmige Regen, der schon oft den blutigen Zorn einer tobenden Volksmenge besänftigte, war nicht imstande, die Liebesgluth zu löschen, die jetzt in allen Herzen brannte.

Um die grellbeleuchteten Auslagefenster drängte es sich. Vornehme Damen scheuten sich nicht vor der Berührung mit dem Arbeitsmann; Kinderhände wischten emsig an dem feuchten trüben Beschlag der Scheiben, hinter denen die bunten Herrlichkeiten lagen. Ueber den Spiegel des Asphaltes, in welchem tausend Lichter spielten, glitten lautlos die Wagen; das metallene Aufschlagen der Pferdehufe ward übertönt vom Prasseln des Regens.

Das Spielwarengeschäft Tiffany überbot an Glanz, Buntheit und Mannigfaltigkeit der Ausstellung alles um sich her. Riesige Glasplatten, nur von zierlichen eisernen Trägern unterbrochen, reihten sich in drei Stockwerken aneinander; dahinter prangten in elektrischer Lichtfluth, wie von Feenhänden aufgehäuft, all die heiß ersehnten, mit glühenden Wangen erträumten Schätze der Kinderwelt: Puppen groß und klein, im tiefsten Negligé, in den kostbarsten Toiletten; vornehme Karossen und Lastfuhrwerke, Salon und Stall, Kasernen, Theater und Kirchen, Soldaten zu Fuß, zu Pferd, Schlachten, Jagden, Schäfereien, Gewehre, Bogen, Handwerksgeräthe, grell bemalte Schachteln und Guckkästen – ein Mikrokosmos des ganzen menschlichen Lebens mit seinem unruhigen Vielerlei, seiner Thorheit, seinem Wahn. In der Mitte einer jeden Auslage lockte eine mechanische Figur mit grotesken Bewegungen die schaulustige Menge.

Besonders gelang dies dem „lachenden und weinenden Bauernbuben“ auf der rechten Seite des Eingangs. Das war zu lustig, wenn er mit einem leisen Knix den Kopf sinken ließ, die Hände hob und damit das weinerliche Gesicht bedeckte, um es gleich darauf mit einem breiten Grinsen wieder zu erheben. Allgemeines Gelächter begleitete stets von neuem die vortrefflich nachgeahmte Bewegung.

Der „Hansl“, so hieß in der ganzen Stadt der drollige Kauz, trieb dem schlechten Wetter zum Trotz unermüdlich sein verschmitztes Spiel. Eben jetzt wurde er von einem Ladenmädchen weggeholt und einem Kauflustigen vorgeführt. Neugierig drängten sich die Köpfe, um den glücklichen Käufer zu erblicken, doch rasch erschien Hansl wieder in der Auslage, von hellem Jubel begrüßt, und lachte noch verschmitzter. Daß er so flink wieder an den alten Standort zurückkehrte, daran war wohl der Zettel schuld, der an seinem rechten Beine hing und auf dem in großen Zeichen „150 Mark“ zu lesen stand.

In diesem Augenblick glitt eine stolze Equipage vorbei, ein Mädchenkopf erschien am Wagenfenster, ein heller Ruf ertönte, der Kutscher verhielt rasch die Pferde und der Wagen stand. Der Bediente öffnete den Schlag. Ein kleines Mädchen sprang stürmisch heraus, eilte dem Schaufenster zu und drängte sich, ehe die nachfolgende, in kostbares Pelzwerk gehüllte Dame sie erhaschen konnte, durch die gaffende Menge vor den kleinen Hansl.

„Mama, Mama, komm’ doch!“ rief das Kind, vor Vergnügen in die Hände klatschend. Dabei schüttelte es ungeduldig die goldigen Locken, die unter einer rothen schottischen Wollmütze hervor über die Schultern fielen.

„Aber Claire, schäme Dich!“ erklang die Stimme der Dame, welche sich mit sichtlichem Unbehagen gezwungen sah, vorzudrängen, um den kleinen Flüchtling zu erreichen. Lachend machten ihr die Leute Platz, und [454] mit einer ärgerlichen hastigen Bewegung zog sie das zögernde Kind zurück.

„Mama! Bitte, bitte, kaufe mir den lieben Jungen!“ flehte das Mädchen. „Ich will nichts zum Christkind als den kleinen Jungen. Ich muß ihn haben, Mama, hörst Du!“

Starker Eigenwille klang aus den letzten Worten. Claire machte Miene, nicht vom Platz weichen zu wollen, und das Volk ringsherum war der Frau Mama so lästig mit seinem unverschämten Gegaff.

„So komm’ nur, Du sollst ihn ja in der Nähe sehen, den Jungen,“ entgegnete sie deshalb beschwichtigend und verschwand mit dem Kinde rasch im Laden.

Wieder wurde der Hansl geholt. Die Verkäuferin erklärte den Mechanismus und zog das Uhrwerk auf. Claire betastete strahlenden Antlitzes das Wunderwerk, während die Mama prüfend auf den Zettel sah und eine Bewegung der Ueberraschung machte. Die Verkäuferin that, als ob sie davon nichts bemerke, sie pries laut die herrlichen Eigenschaften des kleinen Hansl, sein vortreffliches solides Innere und lachte selbst um die Wette mit ihrem Schützling. Frau Kommerzienrath dürfe nicht zögern, jede Stunde melde sich ein neuer Liebhaber, und niemand gönne sie den Hansl mehr als der Frau Kommerzienrath; für solche Herrschaften seien ja so kostbare Sachen gemacht, nicht für das Volk da draußen, das nur die Spiegelscheiben beschmutze mit den garstigen Händen.

Claire verschwendete alle Kosenamen an Hansl und an die Mama; sie wollte den Jungen durchaus gleich mitnehmen. Eine Weile ließ sich die Kommerzienräthin noch bitten, dann flüsterte sie der Verkäuferin etwas ins Ohr; diese nickte unterthänig.

„Das Christkindchen läßt sich von den Kindern nichts abtrotzen; bitte es schön um den Hans, und Du wirst ihn vielleicht bekommen.“

Claire lächelte sonderbar schlau über diese Worte der Mama – das reizende Kindergesicht erhielt dadurch einen frühreifen Ausdruck. So schnell man auch den Laden wieder verließ, es entging ihr doch nicht, daß Hansl nicht mehr in die Auslage zurückgestellt wurde. Sie verstand die Mama.

Die Kinder draußen vor dem Schaufenster blickten mit einem Gemisch von Zorn, Neid und Bewunderung auf das schöne kleine Mädchen, die glückliche künftige Besitzerin des so lange bewunderten Hansl, die jetzt von dem Bedienten in den Wagen gehoben wurde.

Erst nachdem das Gefährt verschwunden war, eilten sie lachend, pfeifend, springend, mit der vergeßlichen Sorglosigkeit der Jugend zu anderen ausgestellten Herrlichkeiten.

Claire schmiegte sich wie ein Kätzchen an das warme weiche Pelzwerk der Mutter und träumte mit offenen glänzenden Augen von dem strahlenden Weihnachtsbaum, unter dem Hansl seine Gesichter schneiden würde auf ihren Befehl; der Gedanke, unumschränkte Herrin zu sein über diese wunderbare, gleichsam mit Leben begabte Puppe, reizte schon im voraus ihren eigenmächtigen Kindersinn.

Die Frau Kommerzienrath ringelte die Locken ihres Töchterleins um die Finger und betrachtete mit stolzer Freude das schöne Antlitz, über das jeden Augenblick der Strahl einer Laterne hinzuckte. Allmahlich wurden die Pausen zwischen den einfallenden Lichtstrahlen immer länger, der Koth spritzte klatschend auf unter den Rädern, ein dumpfes Rauschen ging durch die Nacht. Der Wagen fuhr durch eine Allee, zur Seite glänzten die angeschwollenen Fluthen des Flusses. Das Haus des Kommerzienrathes Julius Berry, des Eisenkönigs des Landes, lag weit draußen, in nächster Nähe der Berryschen Werke.

Plötzlich stockte die rasche Fahrt, dann hielt der Wagen. Die Kommerzienräthin beugte sich besorgt hinaus. Eine dunkle Menschenmasse hielt die Straße besetzt, der matte Schein einer Laterne warf ein spärliches Licht darüber – sonst unheimliche Stille; nur das Rauschen des Stromes und das Prasseln des Regens auf dem Kutschendach war hörbar.

„Was ist, Peter?“ fragte sie den Kutscher angsterfüllt. Es war eben die Stunde, in welcher die Fabriken der Vorstadt sich entleerten. Berry war ein strenger Herr und bei den Arbeitern nicht beliebt – wenn man seinen Wagen erkannte – der Haß dieser Leute wuchs von Tag zu Tag!

„Ein Unglück, gnädige Frau!“ antwortete Peter. „He, was giebt’s da?“ rief er dann in barschem Tone.

„Pressiert’s so?“ – „Was kümmern sich die um so ein Elend!" – „Warten!“ klang es wirr durcheinander.

Die Kommerzienräthin wollte sich erschrocken zurückziehen, da sah sie die Pickelhaube eines Schutzmanns aus der Masse glänzen, und einigermaßen beruhigt, setzte sie ihre Beobachtungen fort.

Eine befehlende Stimme rief „Zurück! Platz!“ und die Menge theilte sich. Ein wassertriesender Mann und ein dunkler Klumpen auf dem Boden wurden im flackernden Scheine der Laterne sichtbar. Der Schutzmann beugte sich nieder und machte dann hastig Notizen nach den unverständlichen Aussagen des Mannes. Entsetzte neugierige Gesichter blickten aus dem Dunkel auf den Vorgang. Nun trat der Schutzmann zurück, und die Räthin erkannte in dem unförmlichen Etwas am Boden eine Frau mit bläulichem, verzerrtem Totenantlitz; an ihrer Brust lag mit schlaffen Gliedern ein Kind, ein Knabe. Blondes Haar hing in nassen Strähnen unter einer blauen Wollmütze in das feuchte Gesichtchen, schluchzender Athem hob gewaltsam die kleine Brust. Lauter und drohender lärmte die Menge und die Räthin glaubte mit Entsetzen den Namen „Berry“ zu hören.

Da schrie die kleine Claire laut auf.

„Mama! Gerade wie der Hansl im Laden vorhin!“

„Aber Claire, wie kannst Du so sprechen!“ antwortete leise und bebend die Räthin. „Der unglückliche Junge! Gott, daß ich das sehen muß – meine Nerven!“

Inzwischen hatte der Schutzmann den Knaben aufgehoben, der plötzlich die Augen starr öffnete und laut schreiend die Aermchen nach der Toten ausstreckte.

„Was fehlt dem Jungen?“ fragte Claire, die mit ahnungsloser Neugierde dem Vorgang zusah. „Wer ist die Frau?“

„Die Mama des armen Kleinen. Sie ist tot, Claire, ertrunken im Fluß,“ entgegnete die Kommerzienräthin, die sich schaudernd in die Ecke drückte und doch keinen Blick von dem traurigen Schauspiel verwenden konnte.

„Warum ertrunken?“ erkundigte sich Claire weiter, im Tone eines verwöhnten Eigensinns.

„Die Unglückliche wird wohl selbst hineingesprungen sein.“ Die Antwort klang ganz mechanisch.

„Warum?“

Die Mutter schwieg, es schnürte ihr die Kehle zusammen.

„Und was geschieht jetzt mit dem Kleinen?“

„Er ist nun wohl eine arme Waise, hat keine Mama mehr wie Du, Claire. Dieser Mann dort mit dem Helme wird für ihn sorgen.“

„Ist das sein Papa?“

„Claire, ich bitte Dich, quäle mich nicht so!“

„Ja, aber wem gehört er denn?“

„Ich weiß es nicht – und nun laß es der thörichten Fragen genug sein!“ Gespannt horchte sie wieder auf die wirren Reden der Leute, welche die Leiche umstanden. Plötzlich drängte sich ein Weib durch die Menge.

„Jesus, die Marie! Hab’ ich mir’s doch gedacht, die arme Marie! Hat sie’s nimmer ausgehalten. Ja, ja, die Marie!“

Das Weib strich das Haar aus dem Antlitz der Toten und blickte kopfschüttelnd, dann plötzlich in Schluchzen ausbrechend darauf nieder.

„Kennen Sie die Tote?“ fragte der Schutzmann, an sie herantretend.

„Heiliger Gott, und der Hansl!“ rief entsetzt das Weib, als sie den triefenden, ängstlich umherblickenden Jungen an der Hand des Schutzmanns gewahrte. „Mit dem armen Buberl is sie ins Wasser gangen? O, der Hallunge, der schlechte Mensch!“

„Reden Sie! Kennen Sie die Tote?“

„Na, werd’ sie wohl nicht kennen, die Marie Davis, wenn wir drei Jahre lang nebeneinander wohnen! Eine gute brave Seel’! Mein Gott, wenn ich denk’ – aber geben’s doch den Buben her!“

Der Schutzmann überließ ihr das willenlose Kind, um seine Aufzeichnungen fortzusetzen.

„Also Marie Davis heißt sie? Was war sie? Verheirathet? Was ist ihr Mann?“

„Ein Lump ist er, ein elender gewissenloser Lump – so ein liebes Kind, so eine gute Frau – ein Saufaus, der sie in den Tod getrieben hat!“

Der Schutzmann wurde ungeduldig. „Antworten Sie ordentlich auf meine Frage!“ befahl er barsch.

„Nun ja, die Wuth packt einen halt bei dem Anblick. In [455] der Berryschen Fabrik hat er gearbeitet, der Davis, ein geschickter Mensch, aber halt ’s Wirthshaus hat er nit lassen können. Vor einer Wochen haben’s ihn aus der Fabrik weggejagt. Was kümmern sich die Leut’ um die Frau, um die armen Kinder, da wird sie halt die Verzweiflung packt haben –“

Ein drohendes Gemurmel erhob sich in der Menge. „Ja, was kümmern sich die um unsereinen! Der Berry ist gerade der rechte! Nur hinein ins Wasser mit dem Volke, ’s giebt ja genug – denkt der!“

Der Kutscher hätte schon längst die Fahrt fortsetzen können, doch die Räthin wollte nicht. Sie war wie gebannt –ihr schien es, als seien die starren Augen der Toten anklagend und drohend auf sie gerichtet, sie konnte den Blick nicht wenden von dem verzerrten Gesicht. Was das nur war! Sie hatte ja doch ein Herz für die Armen, niemand ging unbeschenkt von ihrer Thür, und ihr Mann war gewiß auch nicht härter als seine Kollegen und als es eben nothwendig war in einem großen Geschäft, und dennoch glaubte sie eine furchtbare Anklage in diesem Totenantlitz lesen zu müssen!

Claire interessierte sich nur für den Knaben in den Armen der Frau, der sich allmählich erholte und mit großen blauen Augen furchtloser um sich blickte. Er mochte etwa fünf Jahre alt sein.

„Mama, scheuke mir den kleinen Jungen zum Christkind!“ sagte sie plötzlich. „Er heißt ja auch Hansl – die Frau dort hat’s vorhin gesagt. Ich will den anderen gar nicht mehr mit seinem dummen Lachen. Mama, bitte, bitte, kauf’ ihn!“ Sie schlang ihre Aermchen um die Mutter und küßte sie innig.

Die Räthin war überrascht, sie hatte eben einen Gedanken gehabt, der mit dem kindlich thörichten Wunsche ihres Töchterchens nahe zusammentraf. Einen Augenblick besann sie sich noch, dann öffnete sie entschlossen das Fenster und rief den Schutzmann, der dienstfertig herbeikam. Neugierig folgten die Umstehenden und umdrängten das Gespann.

„Ich will den unglückliche Knaben zu mir nehmen, die Frau soll mit ihm einsteigen – oder geben Sie ihn mir gleich herein!“ Die Erregung einer guten That röthete das Antlitz der schönen Frau.

„Das geht nicht, gnädige Frau,“ erwiderte der Schutzmann in bedauerndem Ton. „Ich muß den Jungen auf die Polizeiwache bringen, dort erst kann weiter verfügt werden; doch wenn Sie mir Ihren Namen angeben wollen, kann ich die nöthige Anzeige machen.“

Die Kommerzienräthin zögerte, ihr Blick schweifte über die den Wagen umdrängende, gereizte Menge. Plötzlich sagte sie laut, mit scharfer Betonung, als wolle sie von allen gehört werden:

„Hier meine Karte – Kommerzienräthin Berry; bitte, melden Sie meinen Antrag!“

Dann gab sie dem Kutscher das Zeichen zum Weiterfahren. Die Ueberraschung der Leute war so groß, daß ringsum Stille eintrat, und bis sie zur Besinnung kamen, war der Wagen schon in der Nacht verschwunden.

Die Räthin fühlte sich beruhigt; sie hoffte, durch diese That der Barmherzigkeit das grauenhafte Antlitz der Ertrunkenen aus ihrer Erinnerung zu verscheuchen. Das Bild dieser verzerrten, drohenden Züge sollte ihren heiteren Lebessstraum nicht länger stören. Hatte sie nicht alles gethan, was sie konnte? Wie diese gehässige Menge beschämt sein mußte von ihrer Großmuth! Ein wohliges selbstzufriedenes Gefühl beschlich sie, sie schmiegte sich behaglich in ihren Pelz, eine prickelnde Wärme umspielte ihre Glieder – o, wie entsetzlich, dieser Sprung in den eisigen Strom!

Die kleine Claire lehnte in der anderen Ecke und stellte im stillen einen Vergleich an zwischen dem Hansl bei Tiffany und dem lebenden, wassertriefenden, den sie eben von der Mutter erbettelt hatte. Der Tausch dünkte ihr nicht schlecht. Eine lebendige Puppe, das war doch etwas anderes!

Wie wollte sie ihn aber auch lieb haben! Und er mußte alles thun, was sie wollte, und schöne Kleider mußte er bekommen, das beste Essen, ein feines weiches Bett. Es ist doch wunderschön, eine gute reiche Mama zu haben, die alles kaufen kann! Da wird der Otto schauen am Weihnachtsabend und sie beneiden – und er soll nicht den geringsten Antheil daran haben, ganz allein soll er ihr gehören, der Hansl.

Der Wagen hielt unter der säulengetragenen Einfahrt der Villa Berry. Ein kleiner Herr mit schneeweißem Backenbart und spärlichem Haupthaar, in tadellosem Salonanzug, kam eilig die Treppe herab, einen etwa achtjährigen Knaben führend. Claire sprang ihm in die ausgebreiteten Arme.

„Papa! Papa! Rath’ einmal, was wir gekauft haben! Otto, rath’ einmal!“

„Gekauft in der Weihnachtswoche? Warte, Claire, da wird das Christkind einfach wegbleiben, es läßt sich nicht gern ins Handwerk pfuschen,“ sagte lachend der Kommerzienrath.

„Ach, was wird es denn sein – wieder einmal eine Puppe, weiter nichts!“ meinte Otto geringschätzig.

„Aber was für eine Puppe!“ erwiderte die Kleine triumphierend. „Eine ganz lebendige Puppe, die geht, steht, ißt, trinkt, schläft. Na, was sagst Du jetzt? Und daß Du’s nur weißt, ich ganz allein bekomme sie, Du bist viel zu grob für so feines Spielzeug.“

Der Kommerzienrath küßte zärtlich seine Gattin.

„Aber so lange ausbleiben, Emilie – ich war sehr besorgt bei dem Wetter. Oder hat Dich die Puppe aufgehalten, von der Claire schwärmt?“

„So ist’s, Juliüs, die Puppe. Komm’, laß Dir erzählen – Du wirst mich vielleicht schelten, doch mein Herz zwang mich zu handeln, wie ich gethan habe.“

Mit diesen Worten reichte sie ihrem Gatten den Arm, und langsam folgten sie den Kindern, die vorausgeeilt waren. Sie erzählte ihr Erlebniß, ihren Entschluß, den armen Knaben zu erziehen. „Eine unerklärliche Angst bestimmte mich, und dann – Claire wäre tief unglücklich gewesen, wenn ihr Wunsch nicht erfüllt worden wäre; Du kennst sie ja,“ schloß sie ihren Bericht.

Der Kommerzienrath war nicht sehr begeistert, besonders als er hörte, daß ihr Schützling der Sohn eines von ihm entlassenen Arbeiters sei. Die Geschichte war zum mindesten lästig. Immerhin wollte er sich seiner geliebten Frau gegenüber nicht hart zeigen.

„Du hast ein gutes edles Herz – ich will Dir keinen Vorwurf machen; doch Du kennst diese Menschen nicht. Ich fühle, Du wirst Undank ernten. Unsere besten Absichten werden verkannt, in das Gegentheil verkehrt. ‚Zuerst die Mutter in den Tod getrieben und dann den Sohn wie einen Sklaven in Beschlag genommen,‘ werden sie sagen. Doch es sei, wie Du willst; wir wollen es einmal versuchen mit Eurem Hänschen.“

„Tausend Dank, Julius! Mir war wirklich bang, was Du dazu sagen würdest,“ entgegnete erfreut die Räthin. „Aber es war mir hauptsächlich auch um Claire; sie hat sich den Kleinen in den Kopf gesetzt, und hätte sie ihn nicht bekommen, ganz Weihnachten wäre ihr verpfuscht gewesen. Wir lieben ja doch das gute Kind so sehr!“

„Als Gescheuk für Claire – so meinst Du es, hm!“ Der Kommerzienrath wurde plötzlich ernst. „Nun, das Ergebniß ist am Ende dasselbe; aber nicht wahr, Emilie, Du läßt diese Absicht nicht laut werden, ich bitte Dich darum!“

*               *
*

Die Leiche der unglücklichen Marie Davis war in die Morgue gebracht worden, auf deren Bleidach unermüdlich der Regen niederprasselte. Den kleinen Hans, den sie hatte mit hinunternehmen wollen in die Ruhe des feuchten Grabes, hatte der Schutzmann auf die Polizeiwache geführt.

„Maria Davis, laut Aussage von Frau Schmidt die Frau des Jakob Davis, früheren Maschinisten in der Berryschen Fabrik, leblos aus dem Flusse gezogen von einem gewissen Thomas Wachhorst, Säger in der Stadtmühle, in die Morgue verbracht; deren sechsjähriger Sohn Johann Davis, lebend übergeben vom Schutzmann Nr. 6 des X. Bezirkes. Dominik Kirner.“

So lautete das Protokoll des wachhabenden Beamten. Als es aufgesetzt war, spritzte der Protokollführer mit wichtiger Miene die Feder aus, dann trat er in dienstlicher Haltung an den Vorgesetzten heran und sagte: „Gestatten der Herr Assessor die Bemerkung, daß ein Jakob Davis seit gestern sich hier auf Nr. 10 in Haft befindet. Er wurde völlig betrunken aufgegriffen. Wenn es sich vielleicht darum handelt, die Richtigkeit der Aussage dieser Frau Schmidt festzustellen, so könnte man vielleicht –“

„Sie haben recht, lassen Sie den Gefangenen sofort vorführen!“ befahl der Angeredete trocken, ohne den Kopf von der Schrift vor ihm zu erheben. „Das Kind kann hier bleiben.“

Der kleine Hans wurde auf die für eingebrachte Delinquenten [456] bestimmte Bank gesetzt. Mitleidige Leute hatten ihn rasch mit trockenen Kleidern versehen, und nun behagte es ihm sehr in der lauen Wärme des Zimmers. Mit kindlicher Neugierde blickte er sich um in dem kahlen Raum. Offenbar war er es gewohnt, allein unter fremden Leuten zu sein. Die großen blauen Augen wagten es sogar, den entsetzlichen Mann mit dem grünen Schirm auf der Stirn, an dem sie vorher immer ängstlich vorbeigegangen waren, einer eingehenden Beobachtung zu unterziehen.

Da tönten schlürfende Schritte auf den Steinfliesen des Ganges. Ein breitschultriger großer Mann in beschmutztem Anzug trat herein, begleitet von dem Gefängnißwärter. Verbissener Trotz lag in dem Gesicht, dem die Leidenschat des Trunkes schon ihren rohen Stempel aufgedrückt hatte. Er achtete nicht auf das Kind, das sich bei seinem Anblick zitternd in die Ecke drückte.

„Jakob Davis ist Ihr Name?“ fragte der Beamte.

„Ja.“

„Ihre Frau heißt Marie, Ihr Sohn Johann?“

„Stimmt, was soll’s damit?“

„Ist der Junge dort Ihr Sohn?“ fragte mit schneidender Kälte der Beamte weiter, auf den zitternden Hans deutend.

Jakob Davis wandte sich jäh um. Der Knabe schrie laut auf und streckte die Aermchen vor, wie um sich vor einem erwarteten Schlage zu schützen. „Verdammt! Wie kommst denn Du daher?“ schrie er ihn an.

„Mutter –“ klang es ängstlich, leise durch den schwülen Raum.

„Ein gewisser Thomas Wachhorst rettete ihn am Wehre der Stadtmühle aus dem Flusse; für die Mutter, Ihre Frau, war es schon zu spät, sie ist tot. Es liegt offenbar Selbstmord vor.“

Scharf, wuchtig wie Schwerthiebe klangen die Worte. Davis senkte den Kopf auf die Brust, ein schwerer Seufzer entrang sich ihm, ein unterdrücktes Aechzen, dann ward es ganz still.

Der Assessor blinzelte forschend unter dem grünen Schirme hervor; der Schutzmann, der den Kleinen gebracht hatte, legte eine Visitenkarte auf den Tisch und flüsterte mit dem Reviervorstand. Da hallte plötzlich ein wilder, schmerzzerrissener Ausruf durch den Raum: „Marie!“

Erschrocken fuhr der Beamte in die Höhe. Davis lehnte an der Wand, das Gesicht in beide Fäuste vergraben, heftig schluchzend. Einen Augenblick ging es wie Mitleid über die strengen Züge des Assessors, und unwillkürlich gewann seine Stimme einen weicheren Klang, als er jetzt zu dem Gefangenen sprach:

„Ich kann Ihnen zugleich eine sehr tröstliche Mittheilung machen; Frau Kommerzienrath Berry, die Gattin Ihres ehemaligen Dienstherrn, kam zufällig an der Stelle vorbei, wo das Unglück geschehen war, und erfuhr den Thatbestand; sie bietet sich großherzig an, Ihren Sohn zu sich zu nehmen und auf ihre Kosten erziehen zu lassen. Sie werden selbstverständlich gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden haben. Bei Ihrer Aufführung kann das Kind ohnehin nicht Ihnen überlassen werden und müßte in ein Asyl für verwahrloste Kinder.“

Davis lachte gell auf. „Die Berry? Respekt! Zuerst die Mutter ins Wasser hetzen und dann den Buben gnädigst annehmen! O, was die Leute für ein braves Herz haben, die Blutsauger – die –“ Er ballte die Fäuste.

„Mäßigen Sie sich und lassen Sie das Gefasel!“ entgegnete der Beamte. „Niemand anders hat Ihre Frau ins Wasser gehetzt als Sie selbst durch Ihren sträflichen Leichtsinn.“

„Ah so, ich! Natürlich! Wenn unsereiner sich einmal einen lustigen Tag machen will, dann heißt’s gleich. das ist ‚sträflicher Leichtsinn‘, der Kerl ist ein Lump! Und so ein ehrenwerther Herr Kommerzienrath kann keinen ‚Lumpen‘ brauchen und jagt ihn fort ins Elend mit Weib und Kind! Und das praßt und verschwendet das ganze Jahr drauf los!“ Mit leidenschaftlicher Wuth hatte er die Worte hervorgestoßen, nun hielt er inne, sein Blick traf auf das furchtsam zusammengekauerte Kind. Die Hand, die er drohend erhoben hatte, fiel herunter, und nach einem sekundenlangen Schweigen fuhr er gepreßt fort: „Na, meinetwegen sollen’s ihn haben, den Burschen, der armen Marie zulieb. – Herrgott, ist’s denn möglich?“ Die Kraft schien ihn zu verlassen, er schwankte bedenklich; der Beamte gab dem Gefängnißwärter ein Zeichen.

„Sie können gehen, morgen werden Sie entlassen.“

Davis wurde abgeführt. Noch einmal blieb er vor dem ihn regungslos anstarrenden Kinde stehen. „Hansl,“ sagte er zärtlich, „b’hüt’ Dich Gott, Du hast’s gar nicht schlecht errathen.“

Er streckte dem Knaben die Hand hin, doch dieser ergriff sie nicht und zog sich scheu zurück. Davis lachte hÖhnisch und machte eine wegwerfende Bewegung. „So – ich bin Dir jetzt schon z’schlecht? Auch recht!“ Damit schritt er zur Thür hinaus.

Die Feder kreischte wieder über das Papier, das Gas strömte sausend aus der Röhre und draußen klatschte unausgesetzt der Regen gegen die Fenster.

„Eine schlimme Woche – schon der dritte Selbstmord in unserem Bezirk!“ bemerkte kurz der Beamte.

„Weihnachtswoche – ist immer so! Da spürt jeder doppelt sein Elend!“ meinte der Schreiber mit einem schweren Seufzer.


2.

Die Werkstätten bei Berry wurden heute schon um zwei Uhr nachmittags geschlossen; um fünf Uhr sollte, wie alljährlich, in dem großen Versammlungssaal die Weihnachtsbescherung für die Arbeiter und Beamten der Fabrik abgehalten werden. Der Kommerzienrath hielt streng auf diese schöne Sitte; er liebte es, bei solchen Gelegenheiten wie ein „Familienvater“ unter seinen Arbeitern zu erscheinen, und behauptete seinen Freunden gegenüber, durch diese kleinen Scherze, die ja nicht einmal viel kosten, könne man am besten über den unzufriedenen Geist der Leute Herr werden, darin seien sie wie die Kinder. Er ging von dem Grundsatz aus, man müsse wohl beitragen zur Verbesserung der Lage der arbeitenden Klasse, aber dabei in allem den Charakter der Wohlthat, der freien Gnade wahren. Wo jedoch von den Arbeitern diese Verbesserung als ein Recht in Anspruch genommen werde, da sei jedes Zugeständniß, auch nur die geringste Nachgiebigkeit ein Unding, eine Verkehrung aller Ordnung, der Ruin der Industrie. So verwandelte sich unter der Hand seine Bereitwilligkeit zum Helfen in Härte.

Berry stammte aus einer franzosischen Emigrantenfamilie, und das blaue Blut der Marquis von Berry war bei ihm durch Vermischung mit deutschem Kaufmannsblut zu einem zähen Saft geworden, der den stürmischen Wallungen einer aufdämmernden neuen Zeit widerstand.

Die Bescherung für die Arbeiter ging infolge seines Systems mit steifer Förmlichkeit vor sich; es war ein souveräner Gnadenakt, der sich da vollzog, und die Beschenkten waren sich dessen nur zu gut bewußt.

Zwei riesige Christbäume waren mit reellen Eßwaren behangen, unter denen sich die Zweige bogen. Auf einem großen hufeisenförmigen Tische lagen die eigentlichen Gaben ausgebreitet, nützliche Gebrauchsgegenstände, mit peinlicher Genauigkeit vertheilt. In der Mitte des Saales stand Berry mit seiner Frau und zahlreichen Gästen, die nach diesem Akte noch zu einer festlichen Bescherung in der Villa und zu einem daran sich anschließenden glänzenden Mahle geladen waren. Der Kommerzienrath befand sich im feierlichsten Gesellschaftsanzug, eine Reihe Orden glänzte an seiner Brust.

Auf ein Zeichen von ihm öffneten die Diener eine Flügelthür, und geführt von den ersten Beamten, erschienen in geschlossener Marschordnung die Arbeiter mit ihren Kindern und Frauen.

„Meine lieben Leute!“ begann der Fabrikherr in gehobenem Tone und hielt die mit geringen Abweichungen sich alljährlich wiederholende Rede, in der stets an die Zusicherung der gerechtesten Behandlung die dringende Aufforderung geknüpft war, in Anbetracht dieser Thatsache nie die Anhänglichkeit und Dankbarkeit außer acht zu lassen.

Die Leute hörten stumm und theilnahmlos die gewohnten Worte an, aus denen ihnen nicht die leiseste innere Wärme und Theilnahme entgegentrat, und stimmten am Schlusse der Rede begeisterungslos ein in das „Hoch“ auf das Haus Berry welches der Fabrikdirektor ausbrachte. Dann traten sie einzeln vor, um aus der Hand der gerührten Frau Kommerzienrath – wie jedes Jahr hatte sie auch heuer nach der Ansprache mit Thränen in den Augen dieser Rührung durch eine Umarmung des Gatten Ausdruck gegeben – die Geschenke zu empfangen. Sie gab reichlich, sparte auch nicht mit herablassenden Worten, allein nur einen Augenblick die Kluft zwischen der in kostbarer Robe prangenden vornehmen Dame und den schlichten, ärmlich gekleideten Arbeiterfrauen zu überbrücken, das verstand sie nicht. Das hätte nur die Liebe [458] gekonnt, deren Menschwerdung der Engel oben auf der Spitze des flammenden Christbaumes mit schmetternder Posaune verkündete, die aber fehlte diesem Feste, und mit ihr alles Versöhnende, Ausgleichende, Haßtilgende.

Einige junge Herren, Gäste Berrys, die mit Augengläsern bewaffnet dem weiblichen Theile der Beschenkten eine vorlaute Aufmerksamkeit widmeten, trugen auch nicht dazu bei, eine weihevolle Stimmung herbeizuführen. Nun kam die allgemeine Danksagung als letztes Glied der festlichen Handlung; sie wurde von dem Kommerzienrath mit der Würde und dem Geschick eines Herrschers und mit einem streng nach dem Verdienst eines jeden abgestuften Lächeln in Empfang genommen. Dann aber ereignete sich etwas ganz Neues, unerwartetes: den Beamten, welche stets der folgenden Familienbescherung beiwohnen durften, wurde heute zu allgemeinem Erstaunen erlaubt, eine Deputation von drei Arbeitern mitzunehmen. Das mußte seinen ganz besonderen Grund haben!

Inzwischen hatte die Versammlung in strenger Ordnung, ohne herzliche Erregung den Saal verlassen; die Strahlen der Lichter, welche die Tannenbäume schmückten, hatten nicht gezündet. –

Seine Kinder ließ der Kommerzienrath dieser Bescherung nicht beiwohnen; er fürchtete eine Abspannung ihrer Nerven, welche die volle Freude an den eigenen Geschenken beeinträchtigen könnte. So mußten denn auch heute die beiden Geschwister unter Aufsicht einer Bonne, freilich widerwillig genug, bis zu dem ersehnten Zeichen sich gedulden. Claire war noch nie so gespannt, so erregt gewesen; seit vier Tagen hatte sie nichts mehr von dem Hansl gehört und gesehen, und die Eltern gaben auf ihre wiederholten Fragen keinen Bescheid. Wenn sie sich am Ende doch anders besonnen und anstatt des lebendigen den häßlichen Hansl bei Tiffany gekauft hätten! Und sie hatte alles schon so hübsch ausgedacht und sich dem Bruder gegenüber mit ihrem Geschenk gebrüstet – wenn nun nichts daraus würde! Otto sandte der aufgeregten Schwester einen überlegenen Blick zu. Er begriff nicht, wie man sich freuen könne auf einen solch schmutzigen Jungen, von denen genug im Fabrikhof herumkugelten. Er selbst hatte sich einen Pony zum Reiten und Kutschieren gewünscht, wie der junge Graf Tek, sein Freund, ihn besaß. Wenn er diesen bekam, sollte ihr der Junge gern gegönnt sein.

Endlich das Zeichen! Claire stürmte voran die Treppe hinab. Unter der Flügelthür des Gartensalons standen die Eltern; eine Lichtfluth drang von drinnen auf den Vorraum heraus. Ungestüm drängten die Kinder in das glänzende Feenreich hinein. Da stand in der Ecke auf weichen Polstern von einem Diener gehalten, Ottos Pony, wiehernd und stampfend, gesattelt und gezäumt. Mit einem Jubelruf stürzte der künftige Besitzer darauf zu. Unter dem Baume lagen in buntem Gewirr Spielwaren aller Art, in der Mitte prangte der Automat, der Hansl von Tiffany. Claire stand regungslos, sie ärgerte sich jetzt über sein häßliches höhnisches Lachen, und vor ihren thränenfeuchten Augen schwammen alle Farben durcheinander.

Da öffnete sich eine Seitenthür, und die Mama, welche unbemerkt verschwunden war, kam herein, an ihrer Hand, sich trotzig stemmend, den kleinen Mund zum Weinen verzogen, der wirkliche lebendige Hansl, gerade so gekleidet wie der Automat, in kurzer schwarzer Hose, weißen Strümpfen, rother Weste mit silbernen Knöpfen und mit derselben blauen Wollmütze auf dem Lockenkopf. Herr von Zerbst, ein Verwandter der Kommerzienräthin, hatte die der Kleinen zugedachte Ueberraschung und den ganzen Hergang erfahren und diesen „drolligen“ Gedanken gehabt, dessen Ausführung jetzt mit allgemeinem Beifall begrüßt wurde. Auch der Kommerzienrath fand den Spaß durchaus harmlos und lachte herzlich mit. Als vollends der Kleine, von dem ungewohnten Anblick um sich geängstigt, dicht neben seinem Ebenbild zu weinen anfing, das Gesichtchen wie dieses in beide Hände vergraben, da war die Wirkung eine allgemeine und die Heiterkeit überwältigend.

Nur Claire stimmte nicht mit ein. Mit einem zornigen Blick auf die lachenden Gäste eilte sie zu dem verstörten weinenden Jungen, küßte ihn und stellte sich schützend vor ihn hin. „Lacht nicht über mein Hänschen, ich leid’ es nicht!“ rief sie, mit dem Fuße stampfend.

Ein erstaunter großer Blick traf sie aus des Knaben Augen, der sich ihre Liebkosungen willig gefallen ließ und ihr, schon halb getröstet, zu den Spielsachen folgte.

Mit finsterem Schweigen waren die drei Arbeiter, die man zu der Feier geladen hatte, unter der Thür stehend, dem Vorgang gefolgt. Nun trat der Kommerzienrath zu ihnen und theilte ihnen mit, der Knabe, den er in seinem Hause zu erziehen gedenke, sei der angenommene Sohn ihres entlassenen Kameraden. Deshalb hatte er sie ja kommen lassen – so konnte die Großmuthslaune seiner Gattin, der er nur ungern Raum gegeben hatte, wenigstens noch für seine eigenen Zwecke nach Möglichkeit benutzt werden. „Seht daraus,“ schloß er, „daß ich stets Euer Wohl im Auge habe und regen Antheil nehme an jedem Unglück, das Euch trifft! Erzählt den Verleumdern, die Euch aufhetzen wollen, diesen Fall, und sie müssen schamroth werden!“

Die Leute drehten verlegen ihre Hüte in der Hand und sahen mit neidischer Verwunderung auf das Kind, das durch ein wunderbares Geschick ihrem dunklen Kreise entrissen wurde. Sie fühlten eine stumme Erbitterung, daß gerade dem Sohne des liederlichen davongejagten Davis dieses Glück werden mußte, während ihre eigenen Kinder darbten und unabänderlich dem harten Los der Väter entgegengingen. Und zugleich weckte die Art, wie man die Wohlthat in Scene gesetzt hatte, und das Gefühl der Demüthigung, die darin lag, ihren Haß gegen diesen stolzen Millionär, der Menschen wie Spielzeug behandelte. So warf die düstere Leidenschaft ihren Schatten auf die That. –

War die Feier in der Versammlungshalle vorhin kalt und nüchtern gewesen – hier wehte, vollends nachdem die Deputation der Arbeiter sich entfernt hatte, eine andere Luft. Berrys starre Züge belebten sich, eine stolze Zärtlichkeit leuchtete aus den grauen scharfen Augen. Er liebte seine Frau, seine Kinder, für sie arbeitete er, scheute er keine Aufopferung. Wer ihn jetzt beobachtete, hätte wohl schwerlich in ihm den Mann gesehen, den die öffentliche Meinung als einen gefühllosen Fabrikherrn bezeichnete, welcher das Ausnützungssystem den Arbeitern gegenüber auf die Spitze treibe.

Hänschen hatte alle Scheu verloren; er wich keinen Schritt von Claire und betrachtete sie mit eigenthümlich forschenden, bewundernden Blicken. Seit sie vorhin so warm für ihn eingetreten war, schien sie ihm das Christkind selbst zu sein, das vom Himmel heruntergeflogen war, um ihn in die weichen Arme zu schließen. Und neben diesem Bilde tauchte vielleicht, als er die warmen Lippen des Mädchens auf der Stirn fühlte, plötzlich ein bleiches, abgehärmtes Antlitz vor ihm auf und lächelte ihm zu, das Antlitz der Mutter. Niemand mehr hatte ihn geküßt seit jener schwarzen Nacht an dem gurgelnden Wasser – aber die Lippen damals waren kalt und bebten.

So innig und vertraulich der Knabe mit Claire verkehrte, so verschlossen war er gegen ihren Bruder, der ihm zwar auch seine Geschenke zeigte, aber in einer befehlenden hochmüthigen Weise. Und als Hans einen blitzenden goldeingelegten Säbel, den jener zum Geschenk bekommen hatte, neugierig betrachtete, schlug ihn der eifersüchtige Besitzer auf die Finger.

„Das ist ein Offizierssäbel, das ist nichts für Dich! Du kommst einmal in solch ein Haus da“ – dabei zeigte er auf eine getreu nachgebildete Kaserne mit Soldaten, Gewehren, Trommeln, Feldbetten – „und ich kommandiere Dir dann ‚Rechts um!‘ ‚Links um!‘ und lasse Dich einsperren, wenn Du nicht folgst!“

Hänschen verstand das alles nicht, aber der Ton, die verächtlichen Bewegungen empörten sein Kinderherz; die weiße kleine Stirn zog sich in Falten, ein boser Blick leuchtete in seinem Auge auf.

Man ging zur Tafel. Claire gab keine Ruhe, bis ihr Weihnachtsgeschenk neben ihr untergebracht war, trotz der Bedenken des Vaters, der eine solche Annäherung nicht beabsichtigte. Die gebrochenen Reden des Knaben, die drollige, in diesen Kreisen fremd klingende Ausdrucksweise und Sprache, seine naive Verwunderung über all die nie gesehenen Dinge und Speisen machten ihn zum Mittelpunkt der Unterhaltung.

„Da sieht man wieder das blinde Walten des Schicksals,“ bemerkte einer der Herren. „Die Trunkenheit des Vaters macht den Jungen glücklich, schleudert ihn in eine neue Bahn, die im Verhältniß zu der ihm von Geburt bestimmten jedenfalls eine glänzende ist. Wäre dieser Davis nüchtern und fleißig gewesen, [459] so hätte der Bursche zeitlebens an der Maschine stehen müssen. Der Gedanke muß die Leute eigentlich wüthend machen.“

„Ich fasse die Sache anders auf,“ meinte Doktor Schindling, der langjährige Hausarzt der Familie Berry und der ganzen Arbeiterschaft der Fabrik – der einzige Mann, welcher imstande war, den schroffen Grundsätzen des Kommerzienraths da und dort ein Zugeständniß abzuringen zum Wohle der Arbeiter. „Wenn dieser Davis, mit dessen Trunksucht es übrigens nicht so schlimm stand“ – er blickte scharf auf den Direktor – „seine Pflicht gethan hätte, so wäre der Junge noch bei seiner braven Mutter; ich kannte die Frau –“

„Ein armes kränkliches Ding, diese Mutter!“ warf der Direktor ein und leerte mit Behagen sein Glas.

„Aber doch eine Mutter!“ fuhr der Arzt in erregtem Tone fort. „Und sie hätte ihren Sohn davor bewahrt, an einem Christabend als – als“ – sein gefurchtes ehrliches Antlitz röthete sich, er stotterte – „als der Zwillingsbruder eines Automaten verschenkt zu werden,“ stieß er dann rasch hervor, wie um eine Last abzuschütteln, die ihn schon lange bedrückte.

Die kühnen Worte hatten eine starke Wirkung; das Entwürdigende und Anmaßende des ganzen Vorganges stand jetzt plötzlich vor aller Augen. Man sah sich betroffen an, nur der Direktor brach in ein lautes Gelächter aus über die Auffasung des Arztes, und dem Prokuristen Merk blieb der Bissen im Munde stecken vor Entsetzen über die Frechheit des Arztes, der es wagte, eine so rührende, in seinen Augen unbegreiflich großartige That des Chefs zu bekritteln.

„Aber guter Doktor,“ erwiderte Berry, den der schonungslose Tadel am empfindlichsten getroffen hatte, „wie kann man einem harmlosen Scherz eine solch tragische Deutung geben? Niemand dachte an etwas derartiges! Doch ich sage es ja immer, wir mögen thun, was wir wollen, mit vollen Händen geben, stiften, ein noch so weites Herz haben – es wird uns stets übel ausgelegt und Gedanken werden uns untergeschoben, die wir nicht haben. Doktor, Doktor, ich merke es schon lange, Sie sind auch schon angesteckt von dem schleichenden Fieber in den Arbeiterhäusern, und gerade Sie sollten diese Menschen doch kennen mit ihrem unversöhnlichen Hasse, ihren wahnsinnigen unerfüllbaren Wünschen. Wieviele sorgenvolle kostspielige Jahre ernsten Studiums haben Sie gebraucht, bis Sie etwas geworden sind, wie quälen Sie sich seitdem das ganze Jahr hindurch, oft mit Gefahr Ihrer Gesundheit, Ihres Lebens. Steht Ihr Verdienst nur einigermaßen im Einklang mit diesen Opfern, diesen Mühen? Kümmert sich jemand auch um Sie, wenn es Ihnen trotz aller Kenntnisse nicht gelingt, eine Praxis zu erringen, wenn Sie erwerbsunfähig werden? Und murren Sie deshalb, hassen Sie deshalb die Besitzenden? Sie denken nicht daran! Und dieses Volk, das alle diese geistigen mühevollen Vorbedingungen der Existenz gar nicht kennt, von dem man nichts verlangt als rohe thierische Muskelkraft und mechanischen Fleiß, für dessen materielle Sicherstellung gegen alle Wechselfälle des Lebens die Besten unter uns sich den Kopf zerbrechen und der Staat mit seiner ganzen Macht eintritt – dieses Volk kann nichts als murren, hassen, unseren besten Absichten die häßlichsten Beweggründe unterschieben. Und nun stimmen Sie mit diesen Leuten, das verstehe ich einfach nicht, Doktor!“

Aufs höchste erregt, hielt Berry inne.

„Der Vergleich zwischen mir und dem Arbeiter dürfte nicht ganz sachhaltig sein,“ erwiderte der Arzt, ohne seine Ruhe zu verlieren. „Sie übersehen den ideellen Lohn der geistigen Arbeit, insbesondere meines Berufes, und der ist nicht hoch genug anzuschlagen: er muß den Ausschlag geben beim Abwägen von Arbeit und Gewinn; ist das nicht der Fall, dann beherrscht der Haß nicht weniger auch den geistigen Arbeiter. Die Beispiele haben wir täglich vor Augen; die ganze krankhafte Unzufriedenheit, dieser Geist einer gefährlichen Begehrlichkeit, der jetzt durch alle Schichten geht – sie haben meiner Ansicht nach ihren Grund lediglich in der steigenden Geringschätzung des ideelleu Erfolges. Der Arbeiter aber – wenigstens der mechanisch thätige, der Fabrikarbeiter, braucht diesen Posten nicht erst wie viele von uns aus seiner Lebensrechnung zu streichen, er kennt ihn überhaupt nicht. Die Maschine bringt ihn drum, die ihn selbst zur Maschine entwürdigt. Daher, wenn er seine Arbeit gegen den Gewinn hält, das furchtbare Deficit, dessen Wirkung bei ihm begreiflich, bei uns ein Verbrechen ist.“

Der Doktor hatte voll tiefster Ueberzeugung gesprochen; selbst Herr von Zerbst, dessen Theilnahme für dieses Thema nicht eben groß zu sein schien, hörte auf, gähnend mit dem Messer zu spielen, und wurde aufmerksam.

„Und wie, glauben Sie, könnte dieses Deficit gedeckt werden?“ fragte Herr Berry, den Kopf in die Hand stützend.

„Nur auf einem Wege – indem man den verloren gegangenen Posten wieder in die Rechnung setzt.“

„Den ideellen Erfolg?“ rief der Direktor lachend. „Den Vorschlag machen Sie einmal in einer Arbeiterversammlung, dann können Sie etwas zu hören bekommen, was Sie vollständig kuriert, Herr Doktor! Mit einer einprozentigen Lohnerhöhung schlage ich Sie aus dem Felde.“

„Das glaube ich Ihnen. Ein unbekannter Werth, ein X, hat keinen Platz in solcher Rechnung; zuvor gilt es, dieses X zu einer bekannten Größe zu machen; das heißt, man muß durch geistige und sittliche Erziehung den Gesichtskreis des Arbeiters erweitern, damit er den inneren Werth des Schaffens verstehen lernt und mit gehobenem Selbstbewußtsein auch in sich ein nützliches Glied der Gesellschaft sieht. Darin allein liegt Heilung, nicht in wilden Umsturzplänen und Phantasien von ungeschmälerter dauernder Gleichheit, die nur zerstören können; aber ebensowenig in Gnadenakten und Almosen, die man dem Arbeiter sehr von oben herab anbietet, die ihn zum Bettler herabwürdigen. Solche selbstherrliche Wohlthätigkeitsanfälle –“

„Wie zum Beispiel die Adoption dieses Knaben, das meinen Sie doch,“ warf die Kommerzienräthin gereizt dazwischen.

„Nein, die Thatsache der Adoption selbst meine ich nicht; die verdient nur Anerkennung. Aber – aber – das ist es eben – wenn wir alle geben würden, wie wir geben sollten! Die Art und Weise dieser Adoption, die paßt mir nicht. Ich weiß es wohl, Sie meinen es nicht schlimm, Frau Kommerzienrath; allein ich kann mir nicht helfen, ich sehe an dieser sonst so kostbaren Frucht der Menschenliebe einen faulen Fleck, und das schmerzt mich.“

„Habe ich Dir nicht die Wahrheit vorausgesagt, als Du mir Deinen Plan mit dem Jungen vorlegtest?“ rief Berry seiner Frau zu „Doktor, Sie machen mich noch wirklich zu dem, wofür ich gehalten werde, zu einem erbarmungslosen Tyrannen. Uebrigens sehen Sie einmal, der Kleine scheint sich ganz gut in seine traurige Lage zu finden. Claire stopft ihm die Backen voll und verschwendet all ihre Liebenswürdigkeit an ihn.“

„Ich kenne manchen Jungen, der sich gern als Automat Nummer zwei von dem Herrn Kommerzienrath verschenken ließe,“ meinte der Prokurist, über seinen Witz herzlich lachend.

„Und sind wir denn nicht alle Automaten des Schicksals?“ rief Berry. „Pah, nur keine Sentimentalität – die hasse ich! Das bringt das Geschäft mit sich – Eisen!“

Die Lichter des Baumes waren herabgebrannt und wurden von den Bedienten ausgelöscht. Die Gesellschaft begab sich in das Nebenzimmer, in welchem eine duftende Bowle aufgetragen war. Der feurige Trank löste die Zungen zu harmloserem Gespräch, und die durch die vorausgehende Erörterung verursachte Spannung verwandelte sich bald in laute Heiterkeit.

Nebenan ging es nicht weniger lustig zu; das helle Lachen der Kinder, die zurückgeblieben waren, Trompetenstöße, Trommelwirbel, das Gequiek von Puppen, das Knallen von kleinen Pistolen drang ununterbrochen herein. Jeden Augenblick kam Claire zum Papa gelaufen, um irgend einen neuentdeckten Vorzug ihrer Geschenke zu melden. Ihr Bruder vertrug sich leidlich mit Hänschen. Der Pony war schon längst abgeführt worden in seinen wirklichen Stall, so beschäftigte Otto sich hauptsächlich mit seinem militärischen Besitz, für den er eine besondere Neigung zu haben schien. Dabei fand er es ganz selbstverständlich, daß Hänschen auf seinen Befehl mit dem kleinen Schießprügel herumhantierte, und er traf ganz vortrefflich den barschen Ton der Unteroffiziere, welche er täglich auf dem Gange zur Schule durch das Gitter des Kasernenhofes mit höchstem Antheil beobachtete.

Anfangs ging der Kleine willig auf das Spiel ein, so großen Widerspruch auch Claire dagegen erhob, da sie eine andere Verwendung für ihn hatte – den Puppenwagen fahren und der kleinen porzellanenen Gesellschaft das Nachtessen servieren. Als aber Otto auch die Kasernenpüffe und die heimlichen Fußtritte nachahmte, da wurde der Rekrut unwillig, warf das Gewehr weg und verlangte ungestüm einen Tausch der Rollen indem er nach Ottos [460] Säbel griff. Allein er erhielt nur die höhnische Antwort, ein Junge wie er dürfe gar nie einen Säbel tragen, der sei für andere Leute, und wenn er nicht gehorchen wolle, so werde man ihn wieder auf den schmutzigen Fabrikhof setzen, woher man ihn genommen habe. Der kleine Hans gab den Säbel nicht los, mit äußerstem Kraftaufwand umspannten seine Hände den Griff. Da ließ Otto plötzlich die Klinge los, so daß sein Gegner rückwärts zu Boden fiel, griff nach der Reitpeitsche, die bei dem Sattelzeug des Ponys hing, und führte einen pfeifenden Hieb nach dem Kleinen. Der stieß einen sonderbar rauhen Schrei aus, im Nu stand er auf den Füßen, die kleine Klinge in seiner Faust blitzte durch die Luft – und Otto sank blutend mit einem Schmerzgeheul zu Boden.

Claire war gerade beim Papa. Auf das Geschrei und den dumpfen Fall hin eilte alles ins Nebenzimmer. Hänschen stand noch mit erhobenem Säbel da, starr, totenbleich, auf den Gegner am Boden blickend, die kleine Stirn noch immer zornig gefaltet, die Lippe eingezogen. Jetzt glich er gar nicht mehr dem Automaten auf dem Tische.

Die Räthin eilte entsetzt zu ihrem blutenden Kind, über das sich eben Doktor Schindling beugte, um die Wunde zu untersuchen. Ihr Gatte, vom Zorn übermannt, riß den kleinen Verbrecher zurück und hob die Hand zum Schlage. Aber Hans machte sich gewandt los und floh in einen Winkel des Zimmers. Von dort sah er scheu, mit einem trotzigen Zug um die Lippen, der nicht auf Reue deutete, zu dem Unglück herüber, das er angerichtet hatte. Nur Claires Fürbitte bewahrte ihn vor der angedrohten körperlichen Züchtigung.

Der Doktor beruhigte die Gesellschaft, es handle sich nur um eine oberflächliche Stirnwunde. Der Getroffene war auch rasch wieder bei vollem Bewußtsein und voller Kraft; man mußte ihn mit Gewalt davon abhalten, an Hänschen unmittelbare Rache zu nehmen. Auf Anordnung des Arztes wurde er rasch zu Bett gebracht.

Aber der Abend war gestört, die Blutflecken am Boden paßten schlecht zu dem fröhlichen Feste.

„Da haben wir uns ein nettes Kreuz aufgeladen, Emilie,“ sagte Berry ärgerlich. „Die Rohheit liegt dem Volke im Blut, ich sage es ja immer. Oder wollen Sie das auch vertheidigen, Doktor? Regte sich vielleicht schon die verletzte Menschenwürde in der Brust dieses Jungen?“

„Otto hat ihn jedenfalls gereizt, er betrachtete ihn wohl ganz folgerichtig als Spielzeug, als Seitenstück zu dem Automaten dort, und das scheint der Junge doch schon begriffen zu haben,“ erwiderte der Arzt. „Sag’ einmal,“ wandte er sich dann in strengem Tone an den Missethäter, indem er ihn zugleich aus seiner Ecke hervorholte, „warum hast Du das gethan?“

Der Knabe sah den alten Herrn, dessen gute Augen sich vergeblich bemühten streng zu blicken, forschend an. Die Falten auf seiner Stirn verschwanden, eine Thräne rollte die Wange herab. „Ich laß mich nicht schlagen,“ sagte er in festem Tone.

„Hat er Dich denn geschlagen?“

Hänschen nickte, sein Gesicht schmerzlich verziehend und in Thränen ausbrechend. „Mit der Peitsche.“

„Natürlich mußt Du ihn dafür gleich halb umbringen. Rohheit, angeborene Rohheit! – Laß ihn fortbringen, Emilie, ich kann ihn nicht mehr ansehen, wenn ich bedenke, welches Unglück er hätte anrichten können. Da hast Du nun den ersten Lohn für Dein gutes Herz!“ brauste Berry empört auf.

Man gab ihm allgemein Recht und den Rath, da die Sache nun einmal nicht ohne Unannehmlichkeiten rückgängig zu machen sei, den Jungen wenigstens getrennt von seinen Kindern erziehen zu lassen.

„Dafür wird gesorgt werden!“ versicherte Berry in einem Tone, der die höchste Erbitterung verrieth.

Claire war unglücklich. Mama hatte ihr versprochen, daß Hänschen heute unter der Aufsicht der Bonne in einem Zimmer mit ihr schlafen dürfe, das war jetzt vorbei; sie wagte auch nicht mehr, darum zu bitten. Ihr Schützling wurde einem Diener zur Obhut für die Nacht übergeben. Doch einen herzlichen Abschied ließ sie sich nicht nehmen; dem Bruder war in ihren Augen ganz recht geschehen, was hatte er überhaupt ihrem Hansl zu befehlen!

„Nicht bös sein, Claire, will’s nicht wieder thun!“ stammelte der Verbrecher, sich mit sichtlichem Schmerze von dem Mädchen losreißend.

Als die Bonne Claire zum Schlafengehen abholte, besann sich diese einen Augenblick, ihre schönen Geschenke prüfend, dann nahm sie den kleinen Automaten unter den Arm und folgte willig. In ihrem Zimmer war ein leeres Bettchen für Hänschen hergerichtet, in das legte sie die Figur, deckte sie schön warm zu, sprach ihr Nachtgebet und kroch vergnügt unter ihre seidenüberzogene Bettdecke. Noch einmal hob sie den Kopf, rief „Gute Nacht, Hansl!“ und schlief dann beruhigt ein.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 16, S. 486–492
[486]
3.

Jener Hieb mit dem Kindersäbel, den Hänschen am Weihnachtsabend gegen den Sohn des Hauses geführt hatte, änderte alle Bestimmungen, die für seine Zukunft getroffen waren; seine Zwillingsbruderschaft mit dem Hansl von Tiffany verleugnete sich nicht, er war wirklich ein Automat des Schicksals. Anstatt in der Familie aufgezogen und förmlich adoptiert zu werden, wie die Räthin anfangs beabsichtigt hatte, wurde er als schlichter Hans Davis zu dem ersten Prokuristen des Hauses Berry, dem kinderlosen Herrn Isidor Merk, in Pension gegeben.

Dieser fühlte sich durch das Vertrauen seines Herrn hochgeehrt, während seine Gattin Tini in der Sache nur eine vortreffliche neue Einnahmequelle erblickte. Der Kommerzienrath wünschte ausdrücklich, daß dem Jungen in keiner Weise etwas abgehe, und zahlte auch dementsprechend, aber Frau Tini hatte über das „nichts abgehen“ ihre eigenen Gedanken. Was sollte denn einem Arbeiterkind, dessen Mutter sich, um dem größten Elend zu entgehen, ins Wasser gestürzt hatte, in aller Welt abgehen, wenn es nicht hungern und frieren mußte? Sie hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, seine den früheren ärmlichen Verhältnissen entstammende Genügsamkeit durch zu großen Aufwand zu verderben, die sollte ja zum Eckstein seines künftigen Glückes werden.

Nach diesen Grundsätzen der Frau Tini wurde Hänschen erzogen. Sie hatte ganz richtig gerechnet – seine gesunde kräftige Natur, die ihn schon damals vor dem Tode in dem eisigen Strome bewahrt hatte, half ihm über alle Härten und Entbehrungen hinweg. Er wuchs trotz schmaler Kost und reichlicher Arbeit zu einem blühenden kräftigen Hans heran. Und er fühlte sich nicht einmal unglücklich, denn dazu fehlte ihm jeder Vergleichungs punkt. Ständig erinnerten ihn seine Pflegeeltern an seine Herkunft und stellten ihm seine Existenz dar als eine fortgesetzte Wohlthat, wofür er in erster Linie dem Herrn Kommerzienrath und dann Frau Tini Dank schuldig sei. Es fiel ihm daher auch gar nicht ein, bei dem Herrn Kommerzienrath irgend welche Klage zu führen, wenn er Sonntags, in festtägliche Kleider gesteckt, in das Herrenhaus zu Fräulein Claire durfte, die ihr Anrecht auf ihn sich nicht ganz rauben ließ.

Nach der dunklen, freud- und lieblosen Woche bei Merks, welche im Beamtenhaus, inmitten von Staub und Lärm der Fabrik, ein paar Zimmer bewohnten, war dieser Sonntag bei Berrys in Claires Gesellschaft für ihn ein Sonnenstrahl, der alle düsteren, in seiner Kinderseele angesammelten Wolken verscheuchte.

Wiederholt hatte er aus dem Munde der Freundin die Geschichte jener fürchterlicher Nacht vernommen, die seinem eigenen Gedächtniß nie ganz entschwunden war; auch an spöttischen Bemerkungen darüber von seiten Tinis und der Arbeiterkinder auf dem Fabrikhof fehlte es nicht. Er wußte selbst nicht, ob auf Grund persönlicher Erinnerung oder oft wiederholter Erzählung – er glaubte, sich an den letzten Kuß, den entsetzlichen Sprung, an das bleiche entstellte Antlitz seiner Mutter erinnnern zu können.

„Mama, schenke mir den kleinen Jungen zum Christkind, ich will den Hansl bei Tiffany gar nicht mehr.“ Oft wenn beim Herumsuchen unter den Spielsachen der längst invalid gewordene Automat zum Vorschein kam, wiederholte ihm Claire lachend diese Worte, die sie an jenem schrecklichen Abend gesprochen hatte. Sie prägten sich seinem Gedächtniß unauslöschlich ein; aber nie stieg auch nur einen Augenblick ein Gefühl der Bitterkeit darüber in ihm auf. Auch daß sich Claire ein Bestimmungsrecht über ihn anmaßte und trotz aller innigen Freundschaft immer wieder den Ton der Herrin durchklingen ließ, nahm er nicht übel; im Gegentheil, er freute sich dessen – er freute sich, daß alles so gekommen war; so brauchte er niemand zu danken als ihr, die er abgöttisch liebte, die mit ihren blauen Augen, ihrem schimmernden Goldhaar ihn anzog wie niemand sonst. Doktor Schindling, sein Beschützer, war im ersten Jahre seiner Anwesenheit gestorben, und alle anderen kümmerten ihn nicht – der starre, ihm nie zulächelnde Kommerzienrath, dem er bei jedem Besuch in mechanischer Gewöhnung die Hand küßte; der hochmüthige boshafte Otto, von dem er sich Claire zuliebe geduldig quälen ließ; der verhaßte, seinem Chef gegenüber kriecherische, gegen ihn selbst harte Prokurist und dessen geizige lieblose Frau, denen er doch unbedingt folgte, in der wachsenden Furcht, auch diesen Platz zu verlieren, ganz, für immer getrennt zu werden von Claire. Herr Berry kümmerte sich wenig um die Erziehung des Knaben; erst als er zufällig von dessen ausgezeichneten Fähigkeiten hörte, regte sich in ihm wenigstens der Kaufmann, und er entschloß sich, das auf den Jungen verwendete Kapital nutzbringend zu machen. Hans Davis konnte eine für ihn höchst werthvolle Arbeitskraft werden, auf die er ein festes Anrecht hatte.

Der Knabe hatte das vierzehnte Jahr erreicht, es war also höchste Zeit, für seinen Entwicklungsgang zu sorgen. Berry schickte ihn auf die Gewerbeschule, um ihn zum Maschinentechniker ausbilden zu lassen; in der freien Zeit wurde er einem erfahrenen Werkmeister der Fabrik zum praktischen Unterricht zugetheilt.

Damit begann für Hans ein neues Leben; ein Arbeitsfeld lag vor ihm, in dessen schmutziger qualmender Atmosphäre er aufgewachsen war, ohne seinen Reiz zu kennen. Er beschritt es mit freudigem Drange, mit den besten Vorsätzen. Diese riesigen Hallen mit den sprühenden leuchtenden Feuern, den geheimnißvollen Maschinen, die er stets mit stummer Ehrfurcht betrachtete – das war ein anderer Aufenthalt als die paar Stuben bei Frau Tini, und hier gab es andere Arbeit als Aufwaschen, Holztragen und all die unzähligen niedrigen Dienstleistungen im Hause des Prokuristen! Und was man in der Gewerbeschule lernen konnte! Der Kopf brannte ihm vor Eifer, die dunkle Ahnung stieg in ihm auf, daß dies der Weg sei, auf dem die höhnischen Bemerkungen über seine dunkle Herkunft, über seine verschenkte Existenz zum Schweigen gebracht werden konnten. Denn mit den Jahren und dem wachsenden Verständniß hatte die Gleichgültigkeit gegen derartige Anspielungen aufgehört und einer jäh ausbrechenden, ihn oft zu Thätlichkeiten hinreißenden Erregung Platz gemacht. Selbst Claire gegenüber schwand unter den neuen Verhältnissen seine bisherige Duldsamkeit in diesem Punkte. Das Hammerschwingen stählte seine Muskeln, weitete seine Brust, gab seinem Gesicht einen kraftvollen, fast trotzigen Ausdruck. Der Blick in die Zukunft, der Drang, den Fleck abzuwaschen, der an ihm haftete, stählte seinen Sinn. Er verehrte Claire auch jetzt noch wie ein hoch über ihm stehendes Wesen, aber er fühlte sich schon ihr gegenüber. Neckereien, die er sonst willig hinnahm, schmerzten ihn jetzt; an die Stelle kindlicher grenzenloser Verehrung trat eine liebevolle Nachgiebigkeit; wenn es noth that, ein ebenso fester als geschickter Widerstand.

Diese Veränderung erfolgte so allmählich, so gleichmäßig mit der, welche in Claire selbst vor sich ging, daß beide sie erst gewahr wurden, als sie sich schon vollzogen hatte. Und nun machte jene ungebundene ahnungslose Freiheit im Benehmen Claires, bei der Geschlecht und gegenseitige Stellung gar nicht in Frage gekommen war, einer gewissen ängstlichen Scheu Platz. Mit Schmerz sah sie ihr geliebtes Spielzeug, ihr Eigenthum, auf das sie stolz war, ihren Händen entwachsen; sie wagte kaum noch eine Anspielung darauf, und wenn sie es wagte, gereizt durch sein Auftreten, so fürchtete sie sein sonderbar überlegenes Lächeln; dann schien ihr plötzlich das Spiel umgedreht – sie in seinen Händen.

Beide fühlten, früher als die achtlosen Eltern, daß dieses Verhältniß keine Dauer mehr haben könne. Der Kommerzienrath und seine Frau, mit anderen Dingen vollauf beschäftigt, erblickten in Hans Davis immer noch den armen Findling, der nichts zu bezeigen hatte als Dankbarkeit und Unterwürfigkeit – die Neigung Claires war ihnen eine kindische Laune; das Mädchen griff ja auch noch hie und da zu seinen Puppen, es hatte also keine Noth.

Claire war jetzt siebzehn Jahre alt und versprach eine Schönheit zu werden, wenn ihre in voller Entwicklung begriffene Gestalt zu harmonischer Fülle gelangt sein würde. Von ihrem Vater wurde sie eifersüchtig in der ländlichen Einsamkeit der Villa gehalten. Junge Männer verkehrten dort wenig, die Geschäftsfreunde Berrys waren zu alt, Ottos Kameraden zu jung, um Gefühle in ihr wachzurufen, welche in diesem Alter sich in jeder weiblichen Brust zu regen beginnen; so gehörte alles, was ihr kindliches Herz an Zuneigung für Dritte übrig hatte, dem Jugendfreund, so sehr sie auch von ihrem Bruder deshalb verlacht wurde.

Dieser betrachtete Hans mit der lächerlichen Geringschätzung jeder praktischen Thätigkeit, wie sie nur immer ein auf den Bänken der [487] Weisheit sitzender unreifer Junge haben kann; und zudem – die Narbe von jenem Säbelhieb war mit ihm aufgewachsen und damit eine untilgbare Abneigung, die von Hans redlich getheilt wurde. Dennoch kam es nie mehr zu irgend einem Auftritt zwischen beiden; Hans wurde durch die Furcht abgehalten, Claire damit ganz zu verlieren, Otto durch die Angst vor dem jähen Aufblitzen des Zornes in dem Auge dieser „Wasserratte“, wie er den Gehaßten nannte.

Mitten in das stille Leben und Arbeiten hinein kam aber plötzlich böse Kunde für Hans. Fräulein Claire sollte in den nächsten Tagen nach Paris abreisen! Der Kommerzienrath hielt bei der bisherigen Zurückgezogenheit seines Kindes vor dessen Erscheinen in der Welt eine weitere Ausbildung für unbedingt nothwendig, wenigstens gab er seiner erstaunten Frau keinen anderen Grund an für seinen überraschenden Entschluß.

Hans zuckte bei der Nachricht zusammen wie von einem heftigen Schlage getroffen. Ein besonderer Umstand vermehrte noch seine Erregung. Am letzten Sonntag war er wie gewöhnlich im Herrenhaus bei Claire gewesen; sie schlugen Ball im Parke, und einmal verlor sich der Ball im Grase; sie suchten ihn längere Zeit, dann wurde ihnen die Sache zu langweilig, und sie schritten Arm in Arm durch den Park, schweigend, ohne etwas zu denken, aber seelenvergnügt. Da rief plötzlich eine zornige Stimme Claires Namen – es war der Kommerzienrath.

Das Mädchen wurde feuerroth und ließ mit einer jähen Bewegung den Arm ihres Begleiters fahren. Herr Berry war schon wieder verschwunden, trotzdem entfernte sie sich rasch unter einem sehr wenig stichhaltigen Vorwand.

Nun, als er die Nachricht von ihrer Abreise erhielt, stieg es heiß in ihm auf: gewiß, der herzliche Umgang mit ihm war der Grund der Entfernung! Aber was war denn an diesem Spaziergang im Parke besonderes gewesen, sie hatten ihn doch bisher jeden Sonntag ungerügt machen dürfen! Und sie sprachen doch nichts Unrechtes, sie sprachen ja gar nichts! Allein Arm in Arm mit der Tochter des Kommerzienraths Berry, des Millionärs, er, der arme Findling, die „Wasserratte“ – ja das war’s! Und deshalb schickte man seine geliebte Claire nach Paris? Da wäre es doch einfacher gewesen, ihn selbst fur immer aus dem Herrenhaus zu weisen. Oder war es etwas anderes – Furcht für Claire selbst, Furcht vor etwas zwischen ihr und dem armen Hans? Mit instinktiver Sicherheit erkannte er, daß hier der tiefste Grund verborgen liege. Das Blut schoß ihm jäh in das Gesicht, ein wildes nie gekanntes Freudegefühl durchzuckte ihn.

Claire stand auf einmal vor seinen Augen, aber sie sah ganz anders aus wie sonst, tausendmal schöner. Dieser große Blick, der Duft ihres Haares, der Druck ihrer Hand!

Er saß in seiner kahlen, häßlichen Stube über seinen Büchern. Frau Tini hatte ihm eben mit schadenfroher Miene die bevorstehende Abreise Claires berichtet. Zum Fenster herein blickte ein trüber, naßkalter Herbsttag; schmutzige Nebel zogen mit dem Kohlenrauch um die Wette über die schwarzen Schuppen und Hallen, und doch dünkte ihm das alles schöner als am sonnigsten Frühlingstag; sein Herz schlug mächtig, und ein wildes drängendes Gefühl hob die junge Brust, in der es wie etwas Großes, Unbekanntes zum Lichte wollte. Mit erregter Phantasie beschwor er seine ganze Vergangenheit herauf – Claire in tausend Bildern, von jenem ersten an dort im Scheine der qualmenden Fackel, deren Licht noch auf ein anderes ihm unauslöschlich eingeprägtes Antlitz fiel, auf das verzerrte blasse Antlitz der Mutter! Er selbst am Arm eines bärtigen Mannes, das Rauschen des Flusses, das laute Schreien und Drängen der Leute ringsum – noch nie war ihm die schreckliche Scene so klar vor Augen gestanden. Er forschte weiter – was kam dann? Richtig, eine warme Stube, ein Mann mit einem grünen Schirm über den Augen, und dann? Ein anderer, groß, breit, mit schwarzem wirren Haar tritt herein, die beiden Männer sprechen viel miteinander, der Schwarze schreit plötzlich auf und kommt dann auf ihn selber zu – es ist sein Vater, der „entlassene verkommene Arbeiter“, wie sie ihn immer nannten. Er hatte ihn nie mehr gesehen, nie mehr von ihm gehört, ihn ganz vergessen – bis jetzt. Wenn der Vater wiederkommen, wenn Claire ihn sehen würde in seinem Elend – sie würde nie mehr ihren Arm in seinen eigenen legen, nie ntehr, und das würde er nicht ertragen können! Und doch wird er es ertragen müssen, auch wenn der Vater verschollen bleibt – die aus Paris zurückkehrende Claire wird nicht mehr seine Claire sein. Sie wird schöner und schöner werden, andere Freunde bekommen, reiche vornehme Freunde, und ihren Hans vergessen. Doch das darf sie nicht, er wird es ihr sagen beim Abschied, daß sie das nicht darf. Er ist ja ihr Eigenthum, und niemand vergißt sein Eigenthum.

Eine plötzliche Furcht befiel ihn, Claire könnte abreisen ohne diesen Abschied, ohne daß er ihr noch das alles sagen dürfte. „Aber das soll sie nicht!“ rief er zornig aus . . . Allein wenn sie müßte, wenn der unerbittliche Herr Berry sie dazu zwingen würde ... Hans sprang auf von seinen Büchern, die niedrige Zimmerdecke drückte auf ihn, er mußte hinüber in das Herrenhaus, gleich jetzt. Wenn sie heute noch reisen müßte – um diese Abendstunde ging ein Schnellzug nach Paris! Entsetzen packte ihn; der Gedanke, daß sie schon fort sein könnte, raubte ihm fast die Besinnung, es war ihm, als gähne eine unermeßliche Leere zu seinen Füßen.

„Wann reist Fräulein Claire?“ rief er in die Küche, in der Frau Tini herumhantierte.

„Bald, heute wohl!“

„Woher wissen Sie das?“

Zuerst erschrak die Frau vor seinem verstörten Aussehen, dann lachte sie ihm plötzlich hellauf in das Gesicht.

„Der Wagen ist auf sechs Uhr bestellt, und gepackt wird auch, das weiß ich. Du glaubst wohl, es sei nicht möglich, daß sie geht, ohne Dir Lebewohl gesagt zu haben? O, Du dummer Mensch – das gnädige Fräulein und Du!“

Hans summte es in den Ohren, wie ein Schatten senkte es sich vor seine Augen. Entschlossen stürzte er die Treppe hinab, dem Herrenhaus zu. Um jeden Preis mußte er sie noch einmal sehen.

Er eilte über den schon dunkelnden Hof, zwischen den Schuppen und Lagerhäusern hindurch. Schon sah er die Villa. Lichter bewegten sich in dem sonst dunklen Bau. Eine gewisse Unruhe schien dort zu herrschen, die Unruhe der Abreise; Frau Tini hatte recht. Nun galt es Eile – der nächste Weg ging am Polierhaus vorüber. Da plötzlich trat aus dem dunklen Schatten des Hauses ein Mann vor ihn hin in der offenbaren Absicht, ihn aufzuhalten. Er sprang zur Seite, aber der Fremde hielt ihn mit eisernem Griffe fest. „Bleib! Mach’ kein Geschrei und hör’ mich an; ich wartete auf Dich,“ flüsterte er.

In Hans war jetzt kein Raum für die Furcht; er war nur wüthend über die Verzögerung. „Lassen Sie mich los, ich habe keine Zeit!“ sagte er knirschend, aber unwillkürlich leise, unter dem Banne der Mahnung, keinen Lärm zu machen.

„A bah, keine Zeit! Es giebt für Dich nichts Wichtigeres, als was ich Dir zu sagen habe,“ erwiderte der Mann, ihn festhaltend; er mußte seinem Aussehen nach ein Arbeiter sein.

„Ich muß zu Herrn Berry, bevor er nach Paris abreist – ich muß, und nun lassen Sie los oder ich rufe um Hilfe!“

„Herr Berry reist aber heute nicht, sage ich Dir. Er reist erst morgen, ich weiß es; also hast Du Zeit –“

Hans athmete auf. „Wissen Sie das bestimmt?“

„Bestimmt. Er bringt morgen seine Tochter Claire nach Paris.“ Der Mann wußte offenbar Bescheid. Jetzt wurde Hans doch neugierig – was konnte der Fremde von ihm wollen? Warum hatte er auf ihn gewartet? Er folgte dem Vorauschreitenden willig in den dunklen Schatten des Gebäudes und betrachtete dabei gespannt dessen Züge. Ein schwarzer Bart umrahmte ein dunkles Gesicht, schwarzes Haar fiel unter dem großen Hute auf die auffallend weiße leuchtende Stirn.

„Johann Davis ist Dein Name, nicht wahr? Es ist nur, damit ich gewiß nicht fehlgehe.“ Er lachte leise.

„So heiße ich,“ erwiderte Hans, von dem Geheimnißvollen der ganzen Sache gepackt.

„Du bist jetzt achtzehn Jahre alt, seit zwölf Jahren im Hause des Prokuristen Merk auf Kosten Berrys, nicht wahr?“

Hans nickte nur, ein gräßlicher Gedanke schnürte ihm die Kehle zusammen.

„Du weißt natürlich auch, wie Du zu dem Berry gekommen bist, sie werden es Dir schon oft vorgehalten haben, Deine Herren Wohlthäter –“

„Ich weiß alles.“

„Ich dacht’ es mir. Erinnerst Du Dich noch an das, was damals war? Es ist lange her, Du warst noch nicht sechs Jahre alt.“

„Dunkel nur. Aber was soll dieses Fragen?“

„Also doch noch dunkel,“ antwortete der Fremde, ohne sich um die gestellte Frage zu kümmern. „So will ich Dir ein bißchen [488] helfen. Deine Mutter kannst Du Dir wohl noch denken, so ein Gesicht vergißt sich nicht leicht. Aber auch Deinen Vater?“ Hans schauerte zusammen. „Rede! Erinnerst Du Dich nicht mehr an ihn, an das Zimmer, in dem Du ihn zum letzten Male gesehen hast? Du saßest auf einer Bank, er reichte Dir die Hand zum Abschied, Du jedoch schrecktest vor ihm zurück – erinnerst Du Dich nicht?“

„Ja, ich erinnere mich, und dieser Mann –“

Hans blickte starr in das finstere Gesicht vor ihm, seine Hand schob zitternd den großen Hut zurück.

„Und dieser Mann bin ich,“ flüsterte der Unbekannte. „Jakob Davis, Dein Vater, der weit hergekommen ist, Dich zu besuchen.“

Vor den Augen des jungen Mannes tanzten tausend Funken, die Knie wankten ihm, nur ein Gedanke beherrschte ihn – Claire! Sie durfte nichts davon erfahren, und gottlob – sie wird nichts ersahren, weil sie morgen abreisen wird, um jahrelang in der Ferne zu bleiben; bis dahin – weiter dachte er nicht.

„Du bist nicht sehr erfreut, Junge,“ brach Davis das plötzliche Schweigen. „Dachte mir’s schon. Begreif’ es auch. Aber sei nicht blöd’, es fällt mir ja nicht ein, Dich zu holen – hab’ mit mir selber genug zu thun. Und es soll’s auch niemand erfahren, daß ich hier bin, hörst Du? Es liegt mir sehr viel daran; wenn meine Anwesenheit bekannt würde, wär’s verteufelt unangenehm für uns beide. Ich wollte nur einmal sehen, was sie aus Dir gemacht haben. Mir ging’s schlecht die letzte Zeit. Hab’ gearbeitet wie ein Thier damals, als ich von Dir fort mußt’; die dumme Reue, die Verlassenheit, mein Elend trieb mich dazu – man vergißt eher dabei. Aber der Teufel hol’s, wenn ich mich so ein Jahr lang schinde, ohne links oder rechts zu sehen, da packt mich plötzlich da drin eine Wuth, auch einmal das Leben zu genießen wie andere Menschen, und dann giebt’s immer ein Unglück – ich vertrag’s nicht, aus dem rechten Zuge zu kommen. Doch das verstehst Du ja nicht; also kurz und gut, ich machte eine Dummheit, für die ich vier Jahre sitzen mußte. Eine schlechte Ehre für Dich, nicht wahr – für immer wäre Dir wohl lieber! Aber es hat halt nicht gereicht, bei Gott, mir wär’s gleich gewesen, ’s ist hier außen um kein Haar besser. Doch wenn Du klug bist, bleibt’s ja unter uns. Ich will mich nach Arbeit umsehen, man wird mich wohl nicht mehr kennen; und am Ende bist Du doch mein Sohn, das läßt sich nicht abkaufen. In ein paar Jahren [wird] aus Dir ein gemachter Mann, Du bist im rechten Fahrwasser, dann wirst Du Deinen Vater nicht im Stiche lassen – und der alte Vater Dich auch nicht, wenn Dir einmal der Rummel zu dumm wird; so was steckt doch im Blute! Bin also dann immer bereit – Vater und Sohn müssen zusammenhalten. Wenn Du einen Rath brauchst – ich wohne in der Kleegasse Nummer 36, unterm Dache, frage nur in der Kneipe unten nach dem ‚Schwarzen Jakob‘! Im übrigen kannst Du ruhig sein, ich werde Dir nicht lästig fallen, außer wenn ich sehe, daß Du mich absichtlich vergessen willst – dann müßt’ ich mich melden, mein Junge –“

Hans war noch zu unerfahren, um die Anspielungen seines Vaters ganz zu verstehen, aber soviel war ihm klar, daß ein Gefallener vor ihm stand, der daran war, ihm qualvolle Ketten anzulegen. Seine Jugend war in diesem Augenblick zu Ende, er wurde plötzlich zum Manne, den ein jäher Ingrimm erfaßte über das häßliche Spiel, welches das Schicksal mit ihm trieb von seiner Kindheit an. Wenn er mit einem Rucke die Ketten sprengte! Der Zorn erstickte jede andere Stimme in seinem Innern, mit einer wilden Bewegung schüttelte er die Hand ab, die noch immer auf seiner Schulter lag. „Laß mich, Du hast kein Recht mehr auf mich! Du hast mich verschenkt, nachdem Du die Mutter ermordet!“

„Bube, ich erwürge Dich!“ Zwei Fäuste umklammerten seinen Hals, zwei Augen leuchteten drohend dicht vor ihm.

„Jawohl, ermordet, in den Tod gehetzt!“ ächzte der Angegriffene.

Fester schnürten sich die Finger zu, die Lichter im Hofe, in der Fabrik flimmerten wirr durcheinander vor seinen Augen. Er fühlte die Besinnung schwinden, in der nächsten Sekunde mußte ein furchtbarer Mord geschehen. Da erblickte er eine weibliche Gestalt, sie hob sich dunkel ab gegen den Lichtkreis einer Laterne vom Polierhaus her – es war Claire!

Mit der Kraft der Verzweiflung rang er gegen die eiserne Umklammerung, das Hemd, der Rock zerriß, aber es gelang ihm, sich loszumachen, und hochaufathmend stürzte er auf Claire zu. Gewiß, sie war gekommen, um Abschied zu nehmen! Das Dunkel mit seinem Grauen lag hinter ihm, vor ihm flammendes Licht, das aus der geöffneten Thür der Arbeitshalle strömte, und von dem lodernden Scheine phantastisch beleuchtet, ängstlich sich umschauend, Claire – ein Mantel umhüllte ihre Gestalt, unter der weißen Kapuze schimmerte das Goldhaar. Wie einst kam sie, ihn zu retten von finsteren Gewalten.

„Claire!“ rief er, keuchend in den Lichtkreis springend.

Sie wich erschrocken zurück. Er war aschfahl, das Hemd war aufgezerrt, der Rock in Fetzen gerissen, das Haar zerrauft, in dem irren Auge lag noch das Entsetzen im Streit mit jäher Freude.

„Du kommst, um Abschied zu nehmen, zu mir – zu mir! Du, Claire, zu mir!“ Er lachte und weinte zugleich, er ergriff ihre Hand, preßte sie an die Lippen und überströmte sie mit Thränen.

Sein Anprall war zu heftig, zu ungewohnt. Das war nicht mehr ihr Spielgenosse – ein fremder wilder Mann stand vor ihr, vor dem sie bebte. Der Vater hatte ihr verboten, von Hans Abschied zu nehmen, sie jedoch wollte nicht reisen, ohne dem armen Jungen Lebewohl zu sagen. Aber er hatte doch recht gehabt, der Vater. Oder kam ihr das alles nur so unheimlich vor hier [489] in dieser Feuergluth, diesem Gepoch, Gerassel, Gestöhn, das ringsum durch die Nacht lärmte?

„Also morgen, wirklich morgen? Sag’ es selbst, Claire, sonst glaub’ ich es nicht! Und auf wie lange? Auf Jahre … auf immer vielleicht? Nein, nicht auf immer! So sprich doch, ich muß es wissen! Ich gehöre ja Dir, nicht Deinem Vater, nicht den Merks, niemand, nur Dir, Dir! Hörst Du, Claire?“ Er sprach flehend und doch befehlend, wie auf ein Recht pochend. Er umfaßte sie stürmisch. Das war kein Spiel, kein kindliches Ringen, auch nicht die Wärme der Freundschaft.

Claire schauerte vor einem fremden Gefühl, das sie zum ersten Male in ihrem Leben durchzitterte. Sie wollte fliehen, sie war empört über den Zwang, den ihr dieser Knabe auferlegte, über das stürmische, fast rohe Begegnen, über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er, der sonst jedem Winke ihrer Augen gehorcht hatte, die Kluft zwischen ihnen übersprang. „Laß mich, ich bereue, daß ich gekommen bin. Mein Vater hatte ganz recht, es mir zu verbieten. Laß mich doch, Du thörichter Junge – wie Du aussiehst, wie Du sprichst! Ich fürchte mich vor Dir!“

Hans ließ sie los, seine Arme fielen schlaff herab, und – sie floh nicht; jetzt, wo sie offenbar die Herrschaft über ihn wiedererlangt hatte, sah sie mit Neugierde in das kummervolle Gesicht.

„Verzeih’ Claire, ich bin ganz wirr, ich wollte eben zu Dir, trotz Deines Vaters, um Abschied zu nehmen. Es hielt mich etwas auf, etwas Fürchterliches; da sah ich Dich, da verlor ich den Verstand vor Freude – vor – ich weiß selbst nicht; es ist ja das letzte Mal – dann bin ich ganz allein, dann kommt kein Sonntag mehr … ich hab’ keine Mutter – keinen –“ Er stockte. „Niemand, niemand hab’ ich, und Paris ist so weit und ich werde nie etwas hören von Dir – begreifst Du denn meinen Schmerz nicht?“

„Weil ich’s begreife, bin ich gekommen, obwohl der Vater es verboten hat,“ entgegnete Claire. „Aber in zwei Jahren bin ich ja wieder zurück, dann sind wir beide erwachsene Leute und können uns sehen, so oft wir wollen.“

Hans schüttelte betrübt den Kopf. „In zwei Jahren bist Du eine vornehme Dame.“

„Werde ich das dann nicht ebenso sein, wenn ich zu Hause [490] bleibe? Das läßt sich nicht ändern, Hans, deswegen können wir doch gute Freunde bleiben.“

„Und Du wirst mich vergessen in dem großen Paris! Aber Du darfst es nicht – Du hast mich meinem Vater genommen, als ich noch ein Kind war, Du, nicht Deine Mutter, nicht Herr Berry, sie hätten nicht daran gedacht. Du mußt mich deshalb auch lieb haben – ach, ich liebe niemand auf der Welt denn Dich; ich wußte es selbst nicht so bis heute, als ich hörte, daß Du fortgehst. Claire, nur ein gutes Wort gieb mir für die lange schreckliche Zeit, und ich will Dir’s immer danken!“

Sie überließ ihm jetzt willig ihre Hand und lauschte begierig diesen nie gehörten, ihr kindliches Herz bestürmenden Worten. Auch sie schmerzte der Abschied, auch sie fühlte, daß sie nie mehr diesem Jüngling so gegenüberstehen dürfe, daß in zwei Jahren alles anders sein werde, und es war ihr, als müsse sie ihn festhalten, diesen Augenblick, der sie schwindeln machte vor Wonne, ohne daß sie in ihrer Unschuld ahnte, warum.

Arbeiter kamen aus der Werkstätte, Hans und Claire eilten Arm in Arm tiefer in den Schatten. Hans dachte an den Vater – wenn er sie beobachtete, Rache nähme für die Anklagen vorhin, wenn er vor Claire hintreten würde, ihr alles enthüllend! Der Angstschweiß perlte auf seiner Stirn, er zog Claire mit sich fort, von diesem Schreckensplatz weg.

„Ich muß heim, der Vater wird nach mir fragen,“ flüsterte sie, von dem Schauer des geheimnißvollen, verbotenen Weges erfaßt, den sie in dunkler Nacht hier an der Seite ihres Freundes ging. „Ich vergesse Dich nicht, gewiß nicht. Nütze die zwei Jahre, arbeite, was Du kannst, schwinge Dich empor, so hoch Du kannst, damit –“ sie legte ihren Mund dicht an sein Ohr – „damit die vornehme Dame mit Dir verkehren kann, verstehst Du mich?“

Die ganze Zukunft flammte bei diesen Worten in hellem Lichte vor Hans auf. Es war ihm, als ob die kleine Hand, welche die seine drückte, ihn mit Riesenkraft emporhebe bis zu den Sternen.

„Vergiß auch Du die Claire nicht! Lebe wohl, Hans!“ Die kleine heiße Hand entwand sich der seinen, ein Kuß brannte auf seiner Wange – Claire war im Dunkel verschwunden.

Er starrte ihr nach, die Hand auf das pochende Herz gepreßt. „Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!“ klang es immerfort in sein Ohr. Er wandte sich um – die Feuer loderten gleich Opferflammen zu den Schloten heraus, gegen den Nachthimmel empor; die schwarzen Hallen ringsnm zitterten unter dem mächtigen Pulsschlag der Arbeit. „Schwinge Dich empor, so hoch Du kannst!“

„Ja, das will ich – bis zu Dir, Claire!“ rief Hans in jugendlicher Begeisterung.

Da huschte ein Schatten an der Mauer entlang, ein gelles Lachen ertönte, Hans fuhr zusammen – der Vater, das Schicksal!


4.

Das war eine schlaflose Nacht für Hans nach diesem Abschied von Claire. Er schmiedete seinen Lebensplan; die Flammen der Hochöfen leuchteten ihm dazu, und die unzähligen Laute der Arbeit um ihn her, zu einem riesigen Accord vereinigt, stimmten seine Seele feierlich.

Hier unter ihren Augen in ihrer nächsten Nähe mußte ihm der Weg zur Höhe gelingen – gelang er doch auch anderen! Der Direktor war in der Werkstatt aufgewachsen und ein einfacher Monteur gewesen; Herr Berry selbst sollte sich noch vor zwanzig Jahren als armer Ingenieur mühsam durchgeschlagen haben. Und dann die berühmten Männer, die Erfinder, von denen er schon oft gelesen – alle fast waren sie arme, schlichte Leute gewesen! Und in dieser Welt von Dampfmaschinen, Schrauben, Hebeln, Kurbeln, Rädern und Rädchen lagen noch viele werthvolle Geheimnisse verborgen, die nur der glücklichen Hand warteten, die sie enthüllte. Dazu bedurfte es keines langwierigen Studiums der ihm unzugänglichen Wissenschaft, nur eines durchdringenden Auges, praktischen Sinnes und vor allem der warmen Liebe zu diesem ewig wandelbaren Märchenwesen „Maschine“ – und diese Liebe erfüllte ihn von Jugend auf, sie war mit ihm groß geworden. Schon mit seinen Kinderaugen hatte er das geheimnißvolle vielgestaltige Leben der Maschinen beobachtet, schon als Knabe hatte er, zusammensetzend und zerlegend, die allgemeinsten Gesetze ihres Daseins fast spielend kennengelernt. Warum sollte ihm nicht gelingen, was vor ihm anderen gelungen war, denen nicht eine Claire so unvergeßliche Worte zugerufen hatte!

Im nächsten Frühjahr sollte er aus der Gewerbeschule austreten, dann wollte er Herrn Berry um eine Stellung in den Werken bitten, so gering und niedrig sie auch wäre. Dann war er ein Mann, der sein Brot selbst verdiente – das war schon etwas, aber freilich noch lange nicht das, was Claire meinte. Zwei Jahre – er wünschte jetzt trotz seiner Sehnsucht, daß sie erst in zehn zurückkäme, dann wäre er seiner Sache sicher gewesen!

Die Wangen brannten ihm bei dem geistigen Vorwärtsdrängen; bald überkam ihn trotz allen Selbstvertrauens ein überwältigendes Gefühl seiner Ohnmacht, und verzweifelt gab er sich der Hoffnungslosigkeit hin; bald riß ihn seine erregte Phantasie mit fort und spiegelte ihm abenteuerliche Glücksfälle vor, die ihn mit Sturmeseile emporheben sollten. Schlief er ermattet ein, so weckte ihn ein gelles Lachen – des Vaters verstörtes Gesicht blickte ihn drohend an. Bittere Reue über seine fühllose Abweisung wollte ihn erfassen – aber Claire und seine Zukunft! Und wie der Wüthende ihn an der Kehle gepackt hatte – das waren Mördergriffe ... vielleicht hatte er schon einmal ... Hans wagte den Gedanken nicht auszudenken und verbarg sein schweißbedecktes Gesicht unter der Decke.

Endlich^ graute der Morgen. Hans machte sich über seine Bücher, kein Augenblick durfte versäumt werden – ein neues hastiges Leben begann.

Frau Merk trat ein. Seit Hans durch seine weitere Ausbildung ihrem personlichen Dienste entzogen war, ließ sie den Herrn Studenten, wie sie ihn spöttisch nannte, bei jeder Gelegenheit ihren Unwillen fühlen. Ihre Züge verriethen eine hämische Freude, das bedeutete für ihn irgend etwas Unangenehmes.

„Na, was sagte ich gestern, das gnädige Fräulein ist fort nach Paris, Knall und Fall, ohne Abschied. Das muß seinen Grund haben. Vielleicht erfährst Du etwas darüber; der Herr Kommerzienrath schickte gestern noch herüber, Du sollest Dich heute nachmittag um fünf Uhr in seinem Bureau einfinden. Ich glaube, der Wind hat sich gedreht. Nimm Dich in acht!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer.

Hans versprach sich nichts Gutes von dieser ungewohnten Bestellung. Entweder handelte es sich um seine Zusammenkunft mit Claire, die Herrn Berry verrathen worden war, oder um den Vater, der sich an den Kommerzienrath drängte, nachdem der Sohn ihn abgewiesen hatte. Ließ Herr Berry ihn jetzt fallen, so zerplatzten die Pläne dieser Nacht und all die kühnen Hoffnungen wie Seifenblasen; nichts war er dann als der hilflose Sohn eines Arbeiters – eines Verbrechers, den von Claire für immer eine unausfüllbare Kluft trennte.

Das Herz schlug ihm fast hörbar, als er sich um die bestimmte Stunde zum Bureau begab. Er mußte lange im Vorzimmer warten und hatte Zeit, über seine Vertheidigung nachzudenken. In jedem Falle fühlte er sich im Recht. Claire war seine Jugendfreundin, dieser Herr Berry selbst hatte ihn ja einst der Tochter geschenkt, und jetzt sollte ihr und ihm jedes Wort des Abschieds verboten sein? Konnte denn wirklich dieser Mann ihn verschenken und dann wieder in den Winkel werfen wie sein einstiges Ebenbild, den Automaten? Und wenn es das andere galt, das Zusammentreffen mit seinem Vater – war denn er an dessen Verkommenheit schuld oder nicht vielmehr dieser stolze Berry, der dem Verzweifelten das Letzte nahm, das ihn vielleicht noch gehalten hätte, seinen Sohn – einer Laune seiner Gattin, seines Kindes zuliebe, nicht aus Barmherzigkeit.

Ein dumpfer, unerklärlicher Groll sammelte sich plötzlich in seinem Innern an gegen den Mann, in dessen Hand seine Zukunft lag. Die trotzige Lust, hinzutreten vor den Gefürchteten, Mächtigen und ihm das alles offen zu sagen, erfaßte ihn ...

„Hans Davis!“

Er zuckte zusammen, ein Diener hatte seinen Namen gerufen. Er wußte selbst nicht, wie es kam, aber bei diesem Rufe tauchte mit einem Male Claires Bild vor ihm auf, und sein Zorn verflog – die trotzig gefaltete Stirn glättete sich, der kühn aufgerichtete Körper sank in sich zusammen. In demüthiger Haltung betrat er das Zimmer des Kommerzienrathes und verneigte sich tief.

Herr Berry sah ihn lange forschend an; Hans hielt den Blick tapfer aus.

„Ich habe ernste Dinge mit Ihnen zu reden, Hans,“ begann dann Berry in kühlem Tone. „Setzen Sie sich!“ Mit einer kurzen Handbewegung wies er aus einen Stuhl. „Claire [491] ist heute früh abgereist nach Paris.“ Er verwandte die Augen keine Sekunde von Hans, der jetzt heftig erröthete. „Sie wird zwei, vielleicht auch drei Jahre dort bleiben. Eure Lebenswege trennen sich von nun an, darum fand ich es auch für gut, daß ein Abschied unterbleibe. – Sie wissen, daß Sie Verpflichtungen gegen mich haben, und die Bestimmungen, die ich nun treffe, sollen Sie in die Lage versetzen, ihnen nachkommen zu können. Ich werde Sie von morgen an im Werke beschäftigen und zwar sollen Sie sofort eine bezahlte Stellung einnehmen. Ich habe meine strengen Ansichten. Sie sind dem Arbeiterstand entsprossen, auf diesem Bodett sollen Sie auch wachsen – das Umsetzen taugt nichts. Sind Sie der rechte Mann, so können Sie sich trotzdem emporschwingen.“

Die Augen des Jünglings leuchteten auf, eine dunkle Röthe stieg ihm ins Gesicht bei den letzten Worten.

„Sie treten morgen als Gehilfe in die Monteurabtheilung; wie ich höre, haben Sie Geschick für das Maschinenwesen, und dort ist die beste Schule. Ich werde Sie nicht aus den Augen verlieren und erwarte, daß Sie Ihre Pflicht thun, schon aus Dankbarkeit für das, was Ihnen erwiesen wurde. Außerdem wird es sich empfehlen, daß Sie sich weder Ihren Kameraden noch Ihren Vorgesetzten gegenüber auf Ihr Verhältniß zu mir berufen –“

„Das habe ich auch bisher nie gethan!“ warf Hans ein.

„Ich rechne darauf,“ fuhr Berry ruhig fort, „in Ihnen einen treuen Diener des Hauses Berry zu erziehen, der sich von allen, uns Arbeitgebern feindseligen Bestrebungen fern hält! Sie sind ja ein lebendiges Beispiel, daß der Vorwurf der Härte, der Ungerechtigkeit, des Eigennutzes, der Bedrückung, den man immer wieder gegen uns schleudert, eine gemeine Lüge ist. Beherzigen Sie das! – Haben Sie gegen meine Verfügung etwas einzuwenden?“

Hans stand wortlos da – seine Befürchtungen hatten sich in das Gegentheil, in die Erfüllung seines heißesten Wunsches verwandelt; er schämte sich seiner aufrührerischen, undankbaren Gedanken im Vorzimmer. Jetzt erschien ihm Herr Berry wirklich als Wohlthäter. Thränen traten ihm in die Augen, und in überströmendem Gefühl ergriff er die weiße Hand, die vor ihm auf der Stuhllehne lag, und küßte sie.

„Nichts, nichts mehr hab’ ich zu sagen,“ stammelte er, „als daß ich nie vergessen werde, was Sie an mir gethan haben – daß ich Ihnen Ehre machen werde.“

Bei diesem unverfälschten Ausdruck der Hingebung zuckte doch auch durch das unbewegliche Gesicht des Kommerzienraths etwas wie Rührung, aber nur einen Augenblick – dann waren seine Züge wieder gemessen wie zuvor. „Morgen also, Hans,“ sagte er, ihm zunickend zum Zeichen der Entlassung. Dann aber, wie in plötzlicher Eingebung, setzte er rasch hinzu: „Noch etwas – Sie haben von Ihrem Vater nichts mehr gesehen oder gehört?“

Hans hatte das Gefühl, als bohre sich der Blick der grauen Augen in seinem Gesicht fest. Wußte Berry etwas oder war die Frage nur eine zufällige? Durfte er diesen Mann, der eben seinen innigsten Wunsch erfüllt hatte, belügen? Und war es nicht unklug, ihn zu belügen? Der Kommerzienrath hatte ja die Macht, ihn zu schützen vor dem Vater, dessen Griffe er noch am Halse spürte.

Herr Berry wartete die Antwort nicht ab. „So schlimm es klingt, ich muß Sie warnen vor diesem Manne. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich einmal, wenn Sie sich eine Existenz gegründet haben, an Sie drängt, Forderungen an Sie stellt. Er ist tief gesunken und würde Sie nachhaltig bloßstellen. Ich könnte sogar den Umgang eines meiner Angestellten mit einem solchen ... Individuum gar nicht dulden. Ich meine nur, wenn es wirklich so wäre, verstehen Sie mich? Verpflichtungen haben Sie ja keine gegen ihn.“

Hans war glücklich, daß Berry keine Antwort auf seine Frage verlangt hatte, er würde die ganze Wahrheit gesagt haben; so schwieg er und empfahl sich demüthig, als ein nochmaliges gnädiges Kopfnicken ihm sagte, daß er endgültig entlassen sei. –

Im Parke schoß Otto mit einem Revolver auf die Scheibe. Hans vergaß in seiner Freude allen alten Groll, alle Gespanntheit, die zwischen ihnen herrschte, eilte auf ihn zu und erzählte mit gerötheten Wangen, daß er von morgen an ein Angestellter der Berryschen Werke sei und als Monteurgehilfe eintrete.

Otto ließ sich dadurch in seinem Sport nicht stören. „Das ist sehr hübsch – Herr Davis“ – bis jetzt nannten sie sich beim Vornamen – „aber Sie werden begreifen –“ Ein neuer Schuß krachte. „Sehen Sie einmal nach der Scheibe, ich denke, die Kugel sitzt zu hoch – Sie werden begreifen, daß dies unsere Stellung zu einander bedeutend – aber hören Sie denn nicht, Sie sollen nach der Scheibe sehen!“ fuhr er Hans an, der starr über die unerwartete Wirkung seiner freudigen Meldung dastand.

„Das ist mein Dienst nicht, Herr Otto,“ entgegnete Hans scharf; in seinen Augen zuckte es verdächtig.

„... bedeutend ändern muß,“ fuhr Otto fort, ohne scheinbar von den Worten des alten Spielgenossen Notiz zu nehmen. „Bis jetzt waren Sie nichts als ein Anhängsel unseres Hauses, an dessen Vertraulichkeiten man sich einmal gewöhnt hatte; jetzt sind Sie ein Bediensteter, ein Arbeiter. Das ist für mich weniger als nichts. Und was den ferneren Verkehr betrifft – der ist eine platte Unmöglichkeit, in drei Monaten trete ich als Offiziersaspirant in die Armee.“ Wieder krachte ein Schuß. „Jetzt bitte ich Sie aber ernstlich, nach der Scheibe zu sehen, Herr Monteurgehilfe!“

„Und ich bitte Sie ernstlich, sich dazu jemand anders zu suchen als mich. Ich empfehle mich.“

Hans ging.

„Warte nur, Kanaille!“ tönte es ihm nach.

Die hochfahrende Abweisung, die er im glücklichsten Augenblick seines Lebens erfahren mußte, hätte ihm von dieser Seite nicht wehe gethan, aber mit bitterem Schmerze, mit zorniger Entrüstung erfüllte ihn die jähe Einsicht, daß dieser hochmüthige Mensch in seinem Hasse wohl nur die Ansichten seines ganzen Standes aussprach, daß das, wodurch er selbst hoffte, diesen Leuten näher zu kommen – redliche Mannesarbeit, ihn nur weiter von ihnen entfernte, daß er wirklich in ihren Augen als der hilflose Schützling des Herrn Berry mehr gewesen war denn jetzt als einfacher Arbeiter. So war es wohl bei allen – nur bei Claire nicht. Sie rieth ihm ja selbst zu rastlosem Schaffen, wie sollte er sich auch anders emporschwingen? Aber wenn auch sie so denken würde nach den Jahren in Paris, was dann? Er fühlte es heiß heraufsteigen in die Kehle. Dann – dann war alles vorbei, jede Freude, jedes Streben, jedes Dulden und Tragen, dann gab es nur noch Haß – glühenden Haß und Kampf! Die Scene damals, als er Otto mit dem Kindersäbel niederschlug, stand plötzlich klar vor seiner Seele ... so würde es dann wieder kommen, aber nicht mit dem Kindersäbel und nicht mit Otto allein.

Eine wilde Vision stieg vor ihm auf ... geschwungene Arme, wirr durcheinander wogende, von blutigrothem Feuerschein übergossene Männerköpfe, wüstes Gelärm, in Flammen zusammenstürzendes Gebälk, und mitten drin in der wüthenden Menge ein schwarzer Mann mit glühenden Augen, derselbe, der im Schatten der Halle ihn hatte erwürgen wollen – sein Vater.

Blitzartig, wie es gekommen war, verschwand das Gesicht, nur die Gestalt des Vaters wollte nicht von seinen Augen weichen. Der Arme hatte niemand, an den er sich halten konnte, niemand, der ihn liebte und trotz aller bitteren Erfahrungen stets aufs neue versöhnte mit dem Leben, wie Claires Bild bei ihm es that – der Vater hatte auch nicht seine eigenen Kenntnisse und die darauf gebaute Hoffnung, emporzusteigen. – Elend und Noth waren seine Gefährten von jeher und würden es sein bis zum Ende. Und so – in der Brust ewig das fürchterliche Bewußtsein, das er selbst eben auch empfunden hatte, das Bewußtsein, weniger als nichts zu sein, verachtet, niedergetreten – mußte so der Unglückliche nicht Ekel empfinden vor allem höheren Streben, vor seiner ganzen Existenz? Mußte er nicht immer wieder versucht sein, den Kampf gegen die Reichen und Mitleidlosen mit jeder Waffe zu führen, diese „Räuber“ selbst wieder zu berauben? Und nun hatte ihn auch der eigene Sohn zurückgestoßen, mit Vorwürfen überhäuft, weil er sich des Verkommenen schämte – das mußte gut gemacht werden, ehe er sein neues Leben begann. Vielleicht war es auch gar nicht so schlimm mit dem Vater, als Herr Berry es hinstellte, als er selbst geglaubt hatte; vielleicht konnte er ihn retten, auf bessere Wege bringen! Und stand der Vater ihm denn nicht trotz allem am nächsten, näher als Herr Berry, sein stolzer Wohlthäter? Keine unüberbrückbare Kluft lag zwischen ihnen – der Vater war seinesgleichen, ein Arbeiter gleich ihm. Und wer wußte, ob nicht einmal eine Zeit kam, wo er froh war an diesem verachteten Vaterherzen! Er mußte in die Kleegasse, sein Entschluß stand fest.

Bei Merks kümmerte man sich nicht darum, wo Hans seine Zeit verbrachte, so hinderte ihn nichts an der Ausführung seines Planes. Unverzüglich machte er sich auf den Weg, es ließ ihm [492] keine Ruhe mehr; der Gang sollte hinter ihm sein, bevor er seine Stellung antrat. Heute stand er noch nicht im Dienste des Herrn Berry, morgen hätte er sich ein Gewissen daraus gemacht, gegen den ausdrücklichen Willen des Kommerzienraths zu handeln.

Die Stadt war ihm nicht fremd, aber die Kleegasse war schwer zu erfragen, sie befand sich am äußersten Ende der westlichen Vorstadt, gerade in entgegengesetzter Richtung von der Fabrik.

Nach langem Umhersuchen kam er in die Gegend, wo nach den Beschreibungen sein Ziel liegen mußte. Ein Netz von Sackgassen nahm ihn auf – überall niedere, ärmliche Häuschen, vermengt mit kasernenartigen Neubauten, bevölkert von lärmenden Kindern, ärmlich gekleideten Frauen, trunkenen Männern. An der Ecke eines engen übelriechenden Gäßchens, das bergab tief hinein in das alte Winkelwerk zu führen schien, las er endlich: „Kleegasse“.

Ein kalter feuchter Wind zog aus der dunklen Straße herauf; das Schelten einiger Weiber, johlender Gesang und das Klimpern eines Klaviers drang heraus. Hans zögerte einen Augenblick, es war ihm bang zu Muthe, er fühlte, daß er einen entscheidenden Schritt thue. Wenn Claire von diesem Gange wüßte!

Ein Mann schwankte den holperigen Weg herauf – nun entschloß er sich, nach dem Hause, das er suchte, zu fragen. „Nummer 36?“ Der Fremde sah ihn groß an mit gläsernen Blicken.

„Nummer 36? Was kümmern mich die Nummern?“ Er lachte roh.

„Eine Wirthschaft ist in dem Hause,“ erklärte Hans schüchtern, dem Wankenden ausweichend.

„Eine Wirthschaft? Ja, das ist ’ne Nummer, Junge! Das hättest Du gleich sagen sollen! Aber es giebt mehr so verdammte Nummern da unten! Da ist die ‚Fackel‘, der ‚Jörgl‘, der ‚Prasser‘ – aber ich bin ein guter Kerl, komm’ nur, das rechte Wirthshaus, das find’ ich immer!“ Er packte Hans beim Arme und zog ihn mit sich fort.

In dieser Umgebung, unter diesen Menschen also lebte sein Vater! Unsagbarer Jammer erfaßte Hans, zugleich das klare Gefühl, daß er ihn herausreißen müsse aus solchem Abgrund, sonst tauchte er wohl eines Tages daraus auf und riß den Sohn mit sich ins Verderben. Er konnte sich keine Vorstellung machen, wie das geschehen konnte, er sah nur die verkommene wankende Gestalt seines Begleiters und stellte sie im Geiste neben Claire – unter dem Zwange dieses Bildes folgte er willig seinem Führer.

Es dunkelte schon; die rothen Vorhänge an den Fenstern der Kneipen glühten im Scheine der Lichter dahinter und warfen blutrothe Reflexe auf das feuchte Pflaster.

„Das ist der ‚Prasser‘ – doch der Teufel sehe die Nummer!“ stammelte der Fremde, vor einem Schanklokal stehenbleibend. „Aber hör’ einmal, Junge, wen suchst Du denn eigentlich? Dann haben wir’s gleich; bin gut bekannt hier und kenne die – die Eintheilung.“ Er warf einen prüfenden Blick auf Hans. „Doch es wird schon recht sein beim Prasser! Da sitzen die Jungen, die Arbeit suchen und keine finden. Eine traurige Bude!“

Hans, der an dem Hause eine andere als die gesuchte Nummer entdeckt hatte, ging ohne zu antworten weiter.

Der Mann lachte.

„Gelt, das magst Du nicht? Hast recht, der Teufel hole die Arbeit – ist auch mein Gusto nicht. Nun haben wir noch den ‚Jörgl‘ gleich da vorn.“

Wieder blieb er stehen und blickte forschend, die Hand in der Tasche, an Hans herab. „Da bist Du mir noch zu grün, Junge, und es ist noch zu früh am Tage, oder bist Du doch –“ Er lachte verschmitzt.

Die Klänge des Klaviers tönten jetzt nahe aus einem einstöckigen Hause, das unter den Tritten Tanzender zu erzittern schien.

„Da wär’s“ Der Trunkene stellte sich vor dem Hause auf. „Magst?“

Hans las die Nummer über der Hausthür. „24.“ Er athmete erleichtert auf und eilte vorbei.

„Na, dann bleibt nur noch die ‚Fackel‘, rief ärgerlich sein Begleiter. „Bursch, wenn Du mich zum Narren hast, so nimm’ Dich in acht! Was willst denn Du in der ‚Fackel‘? Da sitzen die Krakehler, die Revolutzer und halten lange Reden über Arbeit und Kapital; pfui Teufel! Und was nutzt’s? Die Katz’ fällt doch allweil auf die alten Füße!“

„Führen Sie mich zur ‚Fackel‘!“ sagte Hans fast befehlend. Der Mann sah ihn spöttisch an und lachte hell auf.

„So ein Bürschl will befehlen, will auch schon mitthun mit den Schreiern! Närrisch, ganz närrisch! Na, dann adieu, in der ‚Fackel‘ hab’ ich nichts zu suchen. Mir langt’s, und wenn’s nicht langt – nachher muß man halt ein bißl nachhelfen, aber ganz still, ganz still.“

Er wandte sich um und zwischen den engen Häusern hintappend wiederholte er, immer noch lachend. „So ein närrisches Bürschl! So ein Bürschl!“

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 17, S. 517–524

[517] Hans faßte neue Hoffnung, der widerliche Mann neben ihm gehörte nicht zu des Vaters Freunden und fühlte sich nicht wohl in der „Fackel“, das war ein gutes Zeichen. Er war noch zu unerfahren, um in die wirren Reden seines Führers den rechten Sinn zu bringen, aber er begriff in dieser Umgebung instinktiv, welchem Lose er durch Herrn Berry entrissen worden war – nein, durch Claire, nur durch sie. Und inmitten der häßlichen Eindrücke ringsum füllte sich seine Seele wieder ganz mit ihrem Bilde.

Da stand er vor der „Fackel“. Lärmende Stimmen drangen heraus. Vorsichtig blickte er durch die Spalten der rothen Vorhänge. An einem runden Tische saßen Männer in Arbeitskleidern hinter Schnaps und Bier, an einem anderen einige Weiber, Mörtelträgerinnen mit weißen Kopftüchern, Kanalarbeiterinnen in Männerjoppen und plumpen Stiefeln, mit gemeinen harten Gesichtern dem erregten Gespräch der Männer lauschend. Den Vater konnte er nicht sehen. So scheute er sich doppelt, einzutreten, lieber wollte er warten; gewiß war der Vater noch nicht von der Arbeit gekommen. Leute mit wenig Vertrauen erweckenden Gesichtern gingen an ihm vorbei und blickten erstaunt auf den jungen Mann, der für diesen Ort auffallend gut gekleidet war. Vom „Jörgl“ herüber tönte noch immer das verstimmte Klavier und grelles Lachen. Da näherte sich von der Höhe her eine einzelne Gestalt, ein Helm blitzte im Laternenschein – ein Schutzmann!

Plötzliche Furcht beschlich den Wartenden – wenn man ihn fragte, was er hier wolle! Aengstlich wie ein Dieb huschte er in das Lokal und setzte sich, ohne sich umzusehen, in die nächste Ecke; niemand von den Gästen achtete auf ihn.

Eine ältere Frau, wohl die Wirthin, fragte mit forschendem Blicke auf die hier ungewohnte Erscheinung nach seinem Begehr.

Der „Schwarze Jakob“ wollte ihm nicht über die Lippen. In dieser Umgebung kam ihm der Name noch unheilverkündender, düsterer vor. Schüchtern bestellte er ein Glas Bier und sah sich dann vorsichtig in der Stube um.

Die Männer am runden Tische gehörten ihrem Aeußeren nach verschiedenen Berufsarten an. Zwei in arg mitgenommener, aber sonntäglicher Kleidung führten das Wort. Das Gespräch drehte sich um die Arbeitsverhältnisse – die beiden hatten „die Plackerei nun einmal satt“ und wollten es eine Woche so probieren. Wenn alle ebenso denken und handeln würden, meinten sie, dann wäre die Sache bald anders. Die Arbeiter der ganzen Welt einmal eine Woche feiernd – und es sollte allen ein Licht aufgehen, was der Arbeiter eigentlich sei – allmächtig, wenn er wolle! „Aber am Zusammenhalten fehlt’s, das verstehen die anderen, von denen muß man lernen! Zum Henker mit dem bloßen Geschrei der Maulhelden in den Versammlungen! Einfach Millionen Hände in die Hosentaschen und einmal ruhig zugeschaut, wie’s dann weitergeht, wenn auch mit bellendem Magen!“

[518] Beifällig nickte man dem Sprecher zu, obwohl den abgespannten Gesichtern und den milden, lässig hingestreckten Korpern keine besonders begeisterte Theilnahme anzumerken war. Die Gluthhitze des eisernen Ofens dicht neben dem Tische löste alle Begeisterung in eine laue Schläfrigkeit auf; allmählich schienen auch die beiden Wortführer davon ergriffen und wurden stiller.

Die Wirthin setzte sich zu Hans und lauerte sichtlich auf ein Gespräch mit ihm. In diesem Augenblick ging die Thür, ein Schutzmann trat ein, wohl derselbe, der vorhin draußen sichtbar gewesen war; die Gespräche verstummten, die Arbeiter stießen sich heimlich mit den Ellbogen.

Der Polizist ging musternd durch das Zimmer und ließ sich an der Schenke ein Gläschen Schnaps eingießen; dabei schaute er unverwandt zu Hans hinüber, der sich unter diesem forschenden Blicke wie ein Verbrecher vorkam.

„Ist Ihnen ’was?“ fragte die Wirthin, der es auffiel, daß er plötzlich ganz blaß wurde.

Er überhörte die Frage. Indessen hatte der Schutzmann ausgetrunken und kam gerade auf ihn zu. Hans fühlte seine Knie zittern, er ärgerte sich darüber und zwang sich zu einer trotzigen Miene.

Der Mann stellte einige oberflächliche Fragen an die Wirthin, offenbar nur zum Scheine, sein Auge ruhte unverwandt scharf auf Hans. Wenn es dem Argwöhnischen einfiel, ihn nach Namen und Stand zu fragen! Dann wurde wohl die ganze Sache sofort Herrn Berry berichtet, und er selbst war verloren!

Wo er den Muth hernahm, wußte er nicht – aber plötzlich fragte er den Polizisten: „Regnet’s noch?“

Die unbefangene Frage that scheinbar ihre Wirkung; die Schärfe des Blickes ließ nach.

„Sind Sie wasserscheu?“ antwortete der Mann mit einem ironischen Lächeln, legte nachlässig die Hand an den Helm und ging zur Thür. Im gleichen Moment wurde diese ungestüm aufgerissen, eine große Gestalt in triefenden Kleidern und schlammbedeckten Stiefeln, die bis zu den Schenkeln heraufreichten, polterte in die Stube und prallte unsanft gegen den Schutzmann.

„Sieh’ da, der ‚Schwarze Jakob‘ – Sie suche ich eben!“ rief dieser und versperrte dem Eintretenden den Weg.

„Mich?“ der Arbeiter schleuderte unbekümmert die Regentropfen von seinem Hute; schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn. „Was giebt’s denn schon wieder?“

„Sie sind seit gestern von der Arbeit bei der Flußregulierung entlassen.“

„Stimmt – ich habe dem Aufseher gegenüber über die Luderarbeit geschimpft. Aber ist das ein Verbrechen? Soll man sich bei solchem Verdienst noch schön bedanken?“

Der Polizist nahm sein Notizbuch heraus. „Haben Sie schon einen anderen Dienst?“

„Wissen Sie mir einen, weil Sie so besorgt sind?“

Beifälliges Gelächter vom runden Tische.

Jener verlor keinen Augenblick die Ruhe. „Innerhalb drei Tagen müssen Sie Arbeit haben, das weiß ich; das andere kümmert mich nicht.“

„Kümmert Sie nicht – das glaub’ ich, Ihr Brot geht freilich nie aus! Na, fragen Sie halt in drei Tagen wieder nach!“ Von den Gästen am runden Tische stürmisch begrüßt, ging er lachend an dem Schutzmann vorbei, der ruhig sein Notizbuch einsteckte und sich ohne weitere Bemerkung entfernte.

Hans war bleich geworden bis in die Lippen. Das Verfahren gegen seinen Vater – er hatte ihn auf den ersten Blick erkannt – empörte ihn. Haß und jäher Zorn regten sich in ihm gegen die Macht, die dieser Mann im Helme vertrat und die hier so gewaltsam in die persönliche Freiheit eingriff, ohne sich doch um die Noth zu kümmern. Sein Groll hob ihn hinaus über die Beklommenheit, die ihn anfänglich beim Anblick des Vaters befallen hatte. Eben wollte er ihn durch die Wirthin an seinen Tisch rufen lassen, da machte Jakob Davis eine Wendung und erblickte ihn. Hans hatte nun zum ersten Male Gelegenheit, das Gesicht seines Vaters deutlich zu sehen – es erschien jetzt lange nicht so abschreckend wie gestern, nur der gläserne, verschwommene Ausdruck der Augen hatte etwas Abstoßendes, Rohes und ließ auch die Aehnlichkeit mit den Zügen des Sohnes, die sonst nicht zu verkennen war, weniger hervortreten.

Nach einigem Zögern schlug sich Jakob Davis wie verwundert mit den großen Händen auf die Lederschäfte der Stiefel und trat lachend, kopfschüttelnd an Hans heran, auf den jetzt alle Gäste aufmerksam wurden. „Hat es Sie doch hergetrieben? Na, das freut mich für Sie!“ rief er laut. Er machte der Wirthin ein Zeichen, sie solle sich entfernen, und setzte sich neben Hans, der Gesellschaft den Rücken kehrend. „Sei ganz ruhig,“ flüsterte er, sich über den Tisch herüberbeugend, „ich bin nicht so dumm und verrathe Dich – man wird vorsichtig in meinem Alter. Ich wohne im Hause, wir sprechen nachher noch allein miteinander, die Leute gehen bald. Jetzt komm’ herüber und mache kein Aufsehen! – Ja, ja, das freut mich, junger Mann,“ begann er dann laut und klopfte Hans kameradschaftlich auf die Schulter, „das freut mich, daß Sie mich aufsuchen! Setzen Sie sich nur da her – lauter gute Freunde, Ehrenmänner, die gern ein bißchen zusammenrücken.“ Er stand auf; Hans folgte ihm willig. Die sichtlichen Bemühungen des Vaters, ihn nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen, beruhigten ihn, und zugleich erwachte in ihm ein abenteuerliches Interesse an diesen Eindrücken, die ihm eine so ganz andersartige Welt eröffneten als die, in welcher er bisher gelebt hatte.

„Der Sohn eines alten Kameraden, Maschinist, ein Mordskerl!“ stellte Jakob Davis den Sohn vor.

Die Männer betrachteten mißtrauisch die saubere moderne Kleidung des neuen Tischgenossen.

„Maschinist – das ist noch ’was, da kann man’s noch zu ’was bringen in der Zeit der Maschinen,“ meinte der eine Blaumacher.

„Das kommt gleich ganz anders daher als unsereiner bei der ewigen Dreckarbeit!" rief ein mürrisch aussehender Geselle, den der kalkbespritzte Anzug als Maurer kennzeichnete.

„Ach was, der Rock macht nichts aus,“ wendete ärgerlich ein Stubenmaler im Farbenkittel ein. „Die Maschinisten werden nicht weniger ausgenützt. Wir gehören alle in eine Presse, die von den Herren Kapitalisten und Fabrikanten und Meistern, und wie sie alle heißen zusammengeschraubt wird, bis der letzte Tropfen Blut heraus ist. Hab’ auch nie gehört, daß gerade die zu den Zufriedenen gehören, im Gegentheil – vorn dran sind sie, mit dem Maule wenigstens, in jeder Versammlung, bei jeder Wahl."

„Weil sie am meisten Grütze im Hirne haben, sehr einfach," mischte sich jetzt der andere der beiden Blaumacher in die Unterhaltung.

„Nun, was sagen denn Sie dazu, junger Herr Maschinist? Sie kümmern sich wohl nicht um solche Sachen?“ fragte der Maurer den stumm dasitzenden Hans.

„Ich bin noch zu jung und zu unerfahren, um mitreden zu können, aber soviel weiß ich, daß sich vorhin alles in mir empört hat gegen dieses herrische Ausfragen, das dem Schutzmann beliebte! Wer giebt ihm ein Recht dazu?“

Jakob Davis wurde sichtlich verlegen und that einen tiefen Schluck.

„Na, da hat’s allerdings einen kleinen Haken; einen jeden darf er auch nicht so ausfragen,“ antwortete der Farbenkittel. Der alte Davis warf dem Sprecher einen wüthenden Blick zu, den dieser aber gleichmüthig erwiderte, indem er hinzusetzte: „Nun, nun – hier braucht es doch kein Geheimniß zu sein, warum die Polizei sich so freundschaftlich nach Ihnen erkundigt. – Ach so!“ Er sah auf Hans – „Daran habe ich nicht gedacht!“ Eine peinliche Pause trat ein, auch Hans schwieg. Der Vater hatte also durch jenes Vergehen, das er schon gestern angedeutet, das freie Recht der Selbstbestimmung eingebüßt – wie weit mochte er schon fortgerissen worden sein auf der verderblichen Bahn, welch dunkle Saat mochte aus dieser Vergangenheit für sie beide noch aufsprossen!

Mit einem Blicke, der in der Seele des Sohnes zu lesen schien, sah Jakob Davis auf den stumm Dasitzenden; er betheiligte sich nicht mehr an dem Gespräch, das allmählich wieder in Gang kam. Endlich brachen die Leute auf. Kaum hatten sie sich entfernt, so gab Davis dem Sohn einen Wink, und dieser folgte ihm über die Bodentreppe hinauf in eine fensterlose Kammer. Die langsam aufleuchtende Flamme der Unschlittkerze erhellte nothdürftig den ärmlichen Raum, dem offenbar jede ordnende Hand fehlte: eine Kiste, aus welcher alte Kleidungsstücke hervorquollen, eine zerrissene Strohmatratze auf dem schmutzigen Fußboden, ein wackeliger Tisch und darauf eine leere Flasche als Leuchter – das war die ganze Ausstattung.

Hans war nicht verwöhnt, allein gegen das, was er hier sah, stach doch seine ärmliche Stube bei Merks nicht weniger ab [519] als diese gegen Herrn Berrys Wohnräume. Was für Verhältnisse thaten sich da vor ihm auf! In dieser dumpfen ungesunden Luft, dieser verwahrlosten Umgebung – konnten da andere Gedanken reifen als die, welche von den Arbeitern vorhin ausgesprochen worden waren? Er wußte nicht, wen er anklagen sollte, aber eine Anklage erhob sich mächtig in seinem Innern, eine Empörung des Mitleids, welche die halberwachte und immer wieder zurückgedrängte Liebe zum Vater mit einem Male hell entzündete. Davis saß auf dem Strohsack – in den ungefügen schmutzbedeckten Stiefeln, dem feuchten, von der Hitze des Ofens drunten noch dampfenden Kittel, in der müden gebrochenen Haltung schien er selbst ein verbrauchtes Stück dieser ärmlichen Welt ringsum zu sein.

„Das ist Dir wohl ’was Neues, mein Junge?“ begann er endlich. „Mich geniert’s nicht mehr, seit Deine Mutter tot ist, treib’ ich’s so. Manchmal freilich erinnere ich mich dran, daß es auch mit mir einmal besser stand, und dann ist’s bös; es war ja damals auch ein Elend, aber doch ganz anders; sie hat’s verstanden, aus dem schlechtesten Fetzen noch etwas zu machen, die Marie. Das Bett war sauber und gut; der polierte Schrank, die paar Teller und Schüsseln blitzten so appetitlich; der Spiegel, der Boden – alles blank, und in der Ecke das sauber überzogene Sofa, auf dem wir des Abends so glücklich beisammensaßen, bis über mich . . .“

Mit einem Laut, der wie ein Stöhnen klang, brach er ab und stierte schmerzlich vor sich hin.

Hans traten die Thränen in die Augen; jenes blasse feuchte Gesicht tauchte wieder deutlich vor ihm auf. Totenstille herrschte, nur die Kerze knisterte leise.

„Pah, vorbei ist vorbei!“ Davis machte eine wegwerfende Bewegung mit dem Kopfe. „Reden wir von unserer Angelegenheit! Ich habe Dich ein bißl grob angelassen gestern, es hat mich gereut nachher; aber der Teufel höre das ruhig an, was Du dahergeschwatzt hast. Die Mutter hat einfach das Lumpenleben satt gehabt, und ich kann’s ihr heut’ noch nicht verdenken. Und damit laß die Sach’ ein für allemal, es ist besser für uns beide! Wenn ich so meine Zeit hab’, dann packt mich die Wuth und ich bin zu allem fähig. So ist auch die letzte Geschichte passiert, der dumme Streit mit dem Vorarbeiter – ich hab’ ihn mit einer eisernen Stange niedergeschlagen, und das End’ waren vier Jahre Zuchthaus. Jetzt steh’ ich unter Polizeiaufsicht; darauf hat der Anstreicher unten angespielt und deshalb ist mir der Schutzmann aufgesessen. Dann war ich ein ganzes Jahr wieder richtig im Zuge; ’s hat nichts gefehlt, bis es vor ein paar Tagen wieder über mich gekommen ist – ich hör’s, allemal ordentlich heranschleichen. Da hab’ ich Angst gekriegt und es ist mir der Gedanke aufgestiegen: suchst den Hans auf, ’s ist doch Dein Kind, vielleicht hilft’s! So hab’ ich Dir aufgepaßt, und wie Du mich so hart angelassen hast, ist’s nur noch ärger in mir aufgestiegen; ich hätt’ einen Mord begehen können an Dir, hätt’ ihn vielleicht begangen, wenn nicht passiert wär’, was passiert ist. Ich hab’ alles gehört und gesehen, ich hab’ es auch erkannt, das Mädel vom Berry. Jetzt ist die Hitz’ wieder verflogen und, offen gesagt, es wär’ mir lieber, Du hättest nicht nach mir gesehen. Weil Du aber schon einmal da bist, wollen wir unsere Sach’ gleich richtig stellen. ich brauch’ von Dir nichts und will Dir nicht im Weg’ stehen. Was ich da gestern gered’t hab’ von gegenseitigem Helfen, ist ein Unsinn; hör’ nicht drauf! Unsere Wege gehen weit auseinander. Nur, wenn’s grad’ sein könnt’, das G’fühl möcht’ ich haben können, daß es noch eine Seel’ auf der Welt giebt, die – die – der noch ein bißl was liegt an mir. ’s ist ja Dummheit, ’s kümmert sich in der Welt kein’s ums andere, aber doch meint man, ganz allein ist’s nicht zum aushalten.“ Seine Stimme klang gebrochen, als stecke ihm etwas in der Kehle; allein mit einem Rucke sprang er auf und rief mit erzwungener Gleichmüthigkeit: „Geh’, lassen wir’s, ’s ist ja nur Einbildung, G’schwätz!“ Mit großen Schritten ging er auf dem knarrenden Boden hin und her.

Hans fühlte einen mächtigen Drang in seinem Innern. Eine Flamme leuchtete auf in seiner Brust, die nur angefacht zu werden brauchte, um nie mehr zu erlöschen. Bewegt streckte er dem Vater die Hand hin; doch dieser zögerte, sie zu ergreifen.

„Es ist keine Einbildung, es giebt eine Seele, die sich von nun an um Dich kümmern wird.“

In Davis’ hartem Antlitz zuckte es auf. Er faßte die Hand und preßte sie wie im Krampfe.

„Ist’s wahr, Hans?“

Der junge Mann sank schluchzend an die Brust des Vaters. „Dein Hans, der Sohn Deiner Marie!“

Jakob Davis stand mit gespreizten Beinen, seine Brust ging stürmisch, als hätte er eine Riesenlast zu stemmen, seine rauhen Finger preßten sich wie Klammern um das Haupt des Sohnes. Ein Ausdruck fast des Staunens über ein unbegreifliches Glück verklärte seine trotzigen Züge. Hinter einem harten Lachen suchte er seine seelische Erschütterung zu verbergen. „Der Pflegesohn des Herrn Berry, der Schatz des schönen Fräuleins – o Du Hauptkerl! Und dazu der ‚Schwarze Jakob‘, der Zuchthäusler, der Kanalarbeiter – eine nette Zusammenstellung das! Und doch ist’s so und doch willst mich nicht verleugnen! ‚Dein Hans, der Sohn Deiner Marie‘ – ja, ja, das bist Du! Aber hab’ ein bißl Nachsicht mit mir – wenn man so eine Freud’ gar nimmer g’wohnt ist, da geht einem alles rundum –“ Er drückte die geballte Faust auf die Brust. „So, jetzt geht’s schon wieder, jetzt setz’ Dich, Hans, und dann reden wir vernünftig! Wie denkst Du Dir denn die Sach’ in Zukunft?“

„Ich bin von morgen ab Angestellter der Fabrik Berry, Monteurgehilfe mit einem Gehalt von achtzehn Mark die Woche. Es ist nicht viel, aber immerhin mehr, als ich brauche. Meine Ersparnisse stehen Dir zur Verfügung und können wenigstens dazu dienen, Dir eine anständige Wohnung zu verschaffen, mehr freilich wird vor der Hand nicht herausspringen. Doch habe ich nicht im Sinne, Gehilfe zu bleiben, und dann kommt es ja besser. Ich habe nur eine Bitte: sorge dafür, daß Herr Berry unseren Verkehr nicht erfährt – er hat ihn mir ausdrücklich verboten. Der Kommerzienrath hat nun einmal eine schlechte Meinung von Dir. Mit der Zeit wird sich schon Gelegenheit finden, ihm eine bessere beizubringen und das Verbot zu beseitigen. Er ist berechtigt, Gehorsam von mir zu verlangen.“

„Wie kannst Du nur solange darüber reden, Junge!“ entgegnete Davis. „Als ob ich das nicht am besten selbst wüßte, daß die Leute nichts von mir erfahren dürfen, der Herr Berry und vor allem Deine Claire.“ Er lachte verschmitzt. „Bist doch ein verfluchter Kerl mit achtzehn Jahren – allen Respekt! Aber nimm’ Dich in acht, sie wird Dir noch vielen Kummer machen, Deine Claire, ich sage es Dir im voraus. Na, ich will jedenfalls das Meinige thun, um das zu verhüten. Wir wollen uns höchstens hie und da am Sonntag auf ein paar Stündchen treffen – unter der Woche kennen wir uns nicht, selbst wenn uns ein Zufall zusammenführen sollte. Da kann niemand etwas merken, und verderben kann ich Dich auch nicht in den paar Stunden, wohl aber kann ich Dir da und dort rathen – besonders wenn einmal die Claire wiederkommt. Ich kenne das – ob reich oder arm, vornehm oder gering, ist ganz gleich, wenn’s einen hübschen jungen Kerl gilt – also warum nicht? Oft schon dagewesen, so was; ich thät’s Dir gönnen, das Mädel!“

„Was war schon oft da? Was meinst Du mit dem ‚gönnen‘? Ich verstehe Dich nicht!“

„Was ich mit dem ‚gönnen‘ mein’?“ Davis lachte laut. „Nun, daß sie einmal Deine Frau wird! Was werd’ ich sonst meinen? Ich glaube wirklich, Du bildest Dir ein, es sei Dir nur um Freundschaft mit dem Mädel zu thun!“

Das Antlitz des Jünglings färbte sich dunkelroth. Der Vater sprach nur unverblümt aus, was der Traum seiner Nächte war, aber das Wort „Frau“, das er nie klar zu denken wagte, erschreckte ihn geradezu, die Ungeheuerlichkeit des Gedankens drückte auf ihn; er erklärte eine solche Vermessenheit für lächerlich, ja geradezu für schlecht, für ein Verbrechen an seinem Wohlthäter, Herrn Berry; kurz er gab sich sichtlich alle Mühe, diese Hoffnung in ihrem Entstehen zu vernichten.

Sein Vater hörte ihm ruhig zu und lächelte überlegen zu den Gegengründen des Sohnes. „Und doch ist es so,“ sagte er ruhig. „So jung Du bist – Du wirst keinen anderen Gedanken, keinen anderen Wunsch mehr haben, als sie Dir ganz zu erringen allen Hindernissen zum Trotz. Und wenn’s Dir gelingt, so ist das eine recht ausgesuchte Rache dafür, daß sie Dich einmal verschenkt haben wie ein Spielzeug. Der Stiel wird umgedreht, Du nimmst Dir die Kette ab und legst sie Deiner Herrin an! Und warum soll’s nicht gehen, wenn Du’s vernünftig anpackst? Bist [522] ein strammer Kerl, gern hat sie Dich auch, und das bricht immer wieder durch, wenn Du nicht locker läßt; darauf versteh’ ich mich. Jetzt siehst Du mir’s freilich nimmer an, aber als ich noch jung war und um die Marie warb – sie war guter Leute Kind und die Schönste im ganzen Dorfe und mancher Reichere wollte sie haben – da hab’ ich’s auch durchgesetzt. Mich nahm sie, den armen Teufel! Hab’ ihr’s freilich schlecht gelohnt – doch das gehört nicht hierher! Also ich sage Dir, die Geschichte ist immer die gleiche, es giebt kein Halten, wenn ein Mädel einmal richtig in einen vernarrt ist; und bei der schon gar nicht, die sieht gerade so aus. Und verlaß’ Dich nur auf mich, ich helf’ Dir, und die Sonntage sollen Dir nicht schaden. Von mir wird kein Mensch was hören und sehen. Einverstanden, Hans?“

Der junge Mann schlug mit Wärme ein, sein ganzes Innere war in Aufruhr. Das Unerklärliche, das er gestern gefühlt beim Abschied der Freundin, jetzt erst hatte er es begriffen. Der Schleier hob sich von seiner Seele, und er war glücklich, nicht allein zu sein mit seinem süßen Geheimniß. Des Vaters Herzlichkeit hatte in ihm das Gedächtniß an dessen Vergangenheit zurückgedrängt – wer anders sollte sein Vertrauter sein als er? Und war dieses neue Band, das sie beide verknüpfte, nicht kräftiger als das alte, längst verwitterte?

Mit glühenden Wangen verabschiedete er sich, da seine längere Abwesenheit Verdacht erregen konnte. Die Kleegasse kam ihm jetzt lang nicht mehr so häßlich vor, und das Klavierspiel, das aus dem „Jörgl“ herausdrang, erschien ihm wie eine heitere Begleitung zu seinen goldenen Zukunfsträumen. Den Schutzmann an der Ecke würdigte er keines Blickes mehr. Daheim schlich er vorsichtig die Treppe hinauf. Im Flackerschein des gegenüberliegenden Hochofens küßte er zum ersten Male das kleine Bild, das über seinem Bette hing – „Claire!“ flüsterte er leise.


5.

Alle Bemühungen des Kommerzienraths Berry, seinem Sohne Otto die militärische Laufbahn auszureden, waren vergeblich. Zu lange hatte er die sich frühzeitig kundgebenden Neigungen desselben gewähren lassen, hatte sie für kindische Spielerei gehalten, die mit den Jahren von selbst einer vernünftigen Ueberlegung weichen würde. Nun sah er zu spät ein, daß er den rechten Zeitpunkt versäumt habe, um erfolgreich auf den Sohn einzuwirken und ihn für den eigenen Beruf zu gewinnen. Entscheidenden Zwang wollte er nicht anwenden, damit wäre auch nach keiner Seite hin gedient gewesen. Zur richtigen Leitung eines so riesigen Unternehmens, wie das seinige war, bedurfte es vor allem der ganzen Kraft, des ganzen Interesses von seiten des Besitzers, und nichts war von Otto weniger zu erwarten als eben dies.

Die Kommerzienräthin, welche die Wahl des Sohnes durchaus nicht ungern sah, suchte den Gatten zu trösten, indem sie auf das aristokratische Blut hinwies, das in dem Jungen sich rege und gegen das sich nun einmal nicht ankämpfen lasse. Allein ihre Gründe wollten nicht recht verfangen. Berry hing mit Leib und Seele an seinem Werke, das er gegründet und auf solche Höhe gebracht hatte; er wußte auch sehr gut, daß er den Glanz seines Namens nicht der adligen Abstammung, sondern einzig und allein seinen industriellen Unternehmungen zu danken habe.

Das Geschäft blühte gerade jetzt wie noch nie zuvor. Bei der kürzlich vollzogenen Verstaatlichung der Eisenbahnen hatte Berry durch einflußreiche Beziehungen sich großartige Lieferungen zu beschaffen gewußt und war so in der angenehmen Lage, den Betrieb seiner Werke verdoppeln zu müssen. Und nun, wo er auf dem Höhepunkt seiner industriellen Laufbahn stand, schlug sein einziger Sohn das Erbe dieser Lebensarbeit aus für ein armseliges Lieutenantspatent! Das erschien ihm ungeheuerlich. Alle die Zukunftsträune, welche dem sonst kalt berechnenden und nüchternen Geschäftsmann die ehrgeizige Phantasie vorgaukelte, alle die Hoffnungen auf ein jede Konkurrenz überflügelndes Wachsthum seines Hauses über sein Grab hinaus – all das zerstob in nichts. Diese flammenden Hochöfen, diese ewig lebendigen Maschinen und Walzwerke, diese ganze lodernde, rastlos schaffende Welt, die sein Stolz war, sie sollte einst in einen toten Goldhaufen sich verwandeln, wie ihn jeder gewissenlose Börsenspekulant aufstapeln konnte, um ihn dann vielleicht von heute auf morgen an der Spielbank, im Freudentaumel der Großstadt sinnlos zu vergeuden!

Es kam zu heftigen Auftritten, dann wieder ließ sich Berry zu Bitten herbei – umsonst! Otto war schon frühzeitig ergriffen von der krankhaften Sucht nach äußerlichem Glanze und möglichst mühelosem Lebensgenuß; seinen scharfen Augen entging nicht die bevorzugte Stellung, welche der Offizier in der „Gesellschaft“ einnahm. Für den Werth der Arbeit hatte er kein Verständniß; wo sie ihm vollends wie in der Fabrik als Handarbeit entgegentrat , hatte er nur Geringschätzung dafür. Und der Kommerzienrath konnte sich nicht verhehlen, daß er selbst an dieser Gesinnung mitschuldig sei. Hatte er nicht die verkehrten Anschauungen seines Sohnes mit heranbilden helfen? Sein Unmuth gegen die stets murrenden Arbeiter, seine Klagen über ihre feindselige und ewig kampfbereite Stellung, welche die Großindustrie in ihren besten Plänen lahmlege und durch die sicherste Rechnung einen Strich mache – waren sie nicht gerade bei einem Knaben wie Otto ganz dazu angethan, eine gründliche Abneigung gegen jede Berührnug mit diesen Leuten zu wecken; durfte er sich wundern, wenn sein Sohn wieder und wieder erklärte, er wolle sich nicht sein ganzes Leben lang „mit dieaem Pack herumschlagen"?

Zu spät sah Herr Berry seinen Fehler ein. Aber gewohnt, mit unerbittlicher Scharfe aus jeder Sachlage die Folgerungen zu ziehen, ließ er sich durch diese Erkenntniß weiterführen. Er begann, seine eigenen Ansichten, die ihm in gesteigerter Einseitigkeit aus dem Munde des Sohnes entgegen traten, mit kritischem Blicke zu untersuchen, und gab sich Mühe, die Arbeiterverhältnisse so unbefangen zu prüfen, als dies seine bisherige entgegengesetzte Anschauungsweise überhaupt zuließ. Dabei ertappte er sich auf mancher Ungerechtigkeit. Zugleich regte sich in ihm ein Widerwille gegen die Vorurtheile, die seinen Sohn ihm entrissen und sich nun gegen ihn selbst kehrten. So gewöhnte er sich daran, gewisse Fragen von einer ganz anderen Seite zu betrachten und zu behandeln. Der ttebergallg vollzog sich naturgemäß langsam und zuerst fast unmerklich. Berry war in allem, was die Leitung seiner Unternehmungen anging, viel zu sehr gewohnt, kühl zu berechnen und immer zuerst nach dem eigenen Interesse zu fragen, als daß er sich jetzt unter dem Eindruck, den Arbeitern gegenüber manches versehen zu haben, zu einem auffälligen entgegengesetzten Verhalten hätte hinreißen lassen. Allein was anfangs ihm selbst kaum bewußt war und sich höchstens in größerer Theilnahme an der inneren Verwaltung und Einzelüberwachung der Werke mit ihren Beamten kundgab, das griff doch allmählich weiter und war nahe daran, zum bewußten Systemwechsel zu werden.

Nun konnte auch die Veränderung nicht mehr lange verborgen bleiben. Bald herrschte in den Werken allgemeines Kopfschütteln, man kannte Herrn Berry gar nicht mehr. Nicht daß er seine Leute jetzt mit Wohlthaten überhäuft oder in völlig anderer persönlicher Weise behandelt hätte, aber seine frühere kalte Zurückhaltung milderte sich zu ruhigem Ernste, seine Strenge ließ jetzt Ausnahmen zu und ward nicht selten durch etwas wie Wohlwollen unterbrochen. Ueberall, in den Werkstätten, in den Arbeiterwohnungen, war er nun zu sehen; Uebelstände, die bei dieser Aufsicht seinem scharfen Auge nicht entgehen konnten, wurden plötzlich aufgehoben. Die Direktoren und Ingenieure erhielten Öffentliche Rügen, und was bei Berry bisher unbekannt war, man wurde sogar für tüchtige Leistungen gelobt. Kurz, der Kommerzienrath, der bis jetzt in diesen Räumen als die unsichtbare böse Macht gegolten hatte, die den Arbeitern, wie sie sich erbittert ausdrückten, „das Mark aus den Knochen saugte“, trat mit einem Male menschlich mitten unter diese Leute, sie verblüffend durch seine ungewohnte Theilnahme an ihrem Wohl und Wehe.

Besonders erfreute sich Hans der Aufmerksamkeit seines Chefs. Es verging fast kein Tag, ohne daß ihn dieser bei der Arbeit aufgesucht oder sich bei seinem Meister nach seiner Aufführung erkundigt hätte. Dieses liebevolle Interesse bewegte Hans mächtig und spornte ihn zum Aeußersten an. Es war, als ob er alle Hindernisse spielend überwinden könnte; jedem mußten seine Fortschritte auffallen. Den Mangel an theoretischem Können suchte er in seinen abendlichen Freistunden durch Privatstudien zu ersetzen, der Tag gehörte den Maschinen. Mit scharfen Augen verfolgte er ihr mühevolles stückweises Entstehen, ihre erste Lebensregung, ihren geheimstenl Pulsschlag, all ihre tollen Launen, ihre Krankheiten, deren Heilung, ihren letzten Athemzug. Er beobachtete, daß trotz ihrer mechanischen, nach unumstößlicher Berechnung sich vollziehenden Bewegung jeder einzelnen eine besondere [523] Individualität innewohne, eine Art Seele, die erst ihren Werth bestimmte. Und diese Seele, die nirgends zu sehen, aber überall zu fühlen war, ließ sich nicht wissenschaftlich nachweisen und berechnen, die mußte instinktiv gefunden und hineingearbeitet werden, und in diesem schöpferischen Ahnungsvermögen erblickte er den Höhepunkt seines Berufes, der weit über dem Handwerk lag. –

Die sonntäglichen Besuche bei dem Vater fanden regelmaßig statt, doch die Atmosphäre der „Fackel“ – Davis mochte sich trotz alles Zuredens nicht davon trennen – konnte seiner im Stahlbad ernster strebsamer Arbeit gestärkten Seele nichts anhaben. Aber Schmerz und eine unbestimmte Angst empfand er bei der Beobachtung des unsteten haltlosen Wesens seines Vaters. Er traf ihn in den verschiedensten Stimmungen; voll zufriedenen Muthes und wieder voll Trotz und Haß; oft väterlich zärtlich, Liebe und Dankbarkeit verrathend, oft voll höhnischen Spotts, neidisch auf die Stellung, die hoffnungsvolle Zukunft des eigenen Sohnes; oft weich wie ein Kind, zugänglich den Ermahnungen und Bitten des Sohnes, auszuharren, bis er in der Lage sei, mehr für ihn zu thun, für seine alten Tage zu sorgen; oft wüthend in sinnlosen Drohungen gegen Gott und Welt oder in rohen Worten jede Bevormundung durch so einen „grünenn Jungen“ zurückweisend.

Hans lebte dabei in der ständigen Furcht, sein Verkehr in der „Fackel“ könnte entdeckt werden, und er selbst mußte sich gestehen, daß der Ort ganz dazu angethan sei, um Herrn Berrys höchste Entrüstung zu rechtfertigen. Ein halbes Jahr ging so vorüber, da traf er eines Sonntags denselben Gesellen, der ihm einst den Weg zur „Fackel“ gewiesen hatte, bei seinem Vater. Beide waren offenbar nicht mehr sehr nüchtern, einige geleerte Weinflaschen standen vor ihnen. Davis stellte den Genossen als seinen Kollegen und guten Freund Holzmann vor, und aus dem gegenseitigen Anblinzeln und Zulachen glaubte Hans zu erkennen, daß dem Fremden sein Verhältniß zu Davis kein Geheimniß mehr war. Mit Widerwillen blieb er; und in der That – bei einer weiteren Flasche, welche die beiden Männer unter lärmendem Gespräch tranken, machte Holzmann plumpe Anspielungen auf das Schicksal von Hans und sprach dabei von dem Blutsauger Berry, dem einmal ordentlich zu Ader gelassen werden sollte. Dann wurde sein Ton immer vertraulicher, bis er endlich unvermittelt herausplatzte, Hans werde sich doch nicht einbilden, irgendwie diesem Berry verpflichtet zu sein, der ihn wie einen Sklaven gekauft und für seine hartherzigen Zwecke aufgezogen habe, nachdem sein Vater durch diesen Menschen ins Elend, die Mutter ins Wasser gejagt worden sei; im Gegentheil habe er allen Grund, sich zu rächen für solche Gemeinheit. Daran knüpften sich sonderbare Fragen über die Räumlichkeiten im Berryschen Hause, Ausdrücke der Verwunderung, daß es noch niemand probiert habe, an den goldenen Raub zu kommen, den der alte Fuchs jedenfalls aufgestapelt habe, das ware ja geradezu ein verdienstliches Werk.

Diese Dinge wurden allerdings in scherzendem Tone gesprochen aber die Blicke des Mannes ruhten lauernd auf Hans und schweiften dann wieder zu Davis hinüber, der durch seine Miene zur Vorsicht zu mahnen schien, so daß den scharf beobachtenden jungen Mann ein Schauer überlief bei der furchtbaren Ahnung dessen, auf was Holzmann abziele. Trotzdem unterbrach er den Redestrom des halb Betrunkenen nicht. Die Besorgniß machte ihn verschmitzt. Mochte dieser Mensch sein Innerstes nur aufdecken und den verbrecherischen Anschlag, mit dem er sich offenbar trug, bloßlegen. Nicht nur, daß der Vater auf diese Weise vor dem gefährlichen Umgang gewarnt wurde – es ließ sich so zugleich die Möglichkeit gewinnen, ein Verbrechen zu vereiteln.

Und Holzmann kroch immer mehr aus seinem Versteck, seine kleinen Augen blitzten vor Vergnügen und er vergaß sogar seine Flasche. Stück um Stück enthüllte er einen vollständigen Plan zur Beraubung des Berryschen Hauses. Der Vater hörte ruhig zu und stierte auf den Boden, nur in seinem Gesicht spiegelte sich eine lebhafte Theilnahme, eine das Gesprochene verfolgende lebhafte Phantasie. Als Holzmann seine Auseinandersetzungen mit den leisen Worten schloß: „Sie sehen, es handelt sich nur noch um einen Eingeweihten aus der Fabrik, und der könnte sich ja finden,“ erhob Davis unmerklich den gesenkten Blick und schielte gespannt hinüber zu dem bleichen Gesicht seines Sohnes, aus dem ihn zwei klare Augen fragend anschauten.

Eine peinliche Pause trat ein, dann lachte Davis hell auf und gab Holzmann einen Tritt mit dem Fuße. „Ich glaube gar, der Junge nimmt die Geschichte ernst und hält uns für die leibhaftigen Banditen, die alles zu thun imstande wären.“ Er lachte, daß ihm die Adern am Halse dick anschwollen, dann sprang er plötzlich empor und schlug heftig auf den Tisch. „Das aber ist eine Gemeinheit, weißt Du das! Eine Gemeinheit – ich verbitte mir das! Will das auch schon auf unsereinen herabsehen wie auf Lumpenvolk? Oder gar spionieren, kundschaften – wär’s das? Junge, nimm’ Dich in acht, wenn ich Dich wieder zwischen meinen Fäusten habe, geht’s nicht wieder so gut aus!“ Sein Gesicht hatte wieder denselben thierischen Ausdruck wie an jenem Abend im Fabrikhof, allein Hans fürchtete sich jetzt nicht mehr; fest sah er den Zornigen an.

„Du hast keinen Grund, so zu poltern,“ sagte er ruhig, „Du hast ja vorhin kein Wort gesprochen, also konnte ich von Dir nichts für Spaß oder für Ernst nehmen; nur dieser Mann hier spricht über Dinge, über die man auch im Scherze nicht sprechen soll –“

„Aha!“ rief jetzt Holzmann höhnisch, „hörst Du ihn, Deinen gestrengen Herrn Sohn? Schau nur, wie er predigen kann!“

Davis ging, die Hand in der Tasche, wie ein wildes Thier im Zimmer umher; nun blieb er mit einem Rucke vor Holzmann stehen und strich sich die zerwühlten schwarzen Haare mit einer zornigen Bewegung aus der Stirn. „Und recht hat er doch, der Herr Sohn; Du hast wirklich ein zu dummes Gewäsch, das einen ins Zuchthaus bringen könnte. Ich will’s auch nimmer hören, es stürzt mir ins Hirn wie der Wein da und macht mich ganz toll . . . Und sag’, Holzmann, hab’ ich je von so ’was gesprochen, daß ich wollte – oder könnte – oder – sprich, habe ich je – sprich, sag’ ich . . .“

Drohend, mit geballten Fäusten und herausquellenden Augen stand er vor dem Freunde. Der Blick des schmächtigen, durch den Trunk entkräfteten Menschen kroch scheu zu Boden, sein Körper drückte sich furchtsam beiseite, plötzlich sprang er geradeaus gegen die Thür.

„Du bist ein tolles Thier – mach’, was Du willst!“ rief er und war im Nu verschwunden.

Davis rannte mit einer blinden Wuth, welche den Vergleich Holzmanns rechtfertigte, gegen die ins Schloß fallende Thür. Als er sah, daß der Verfolgte außer dem Bereich seiner Fäuste war, schien er sich zu besinnen und kam langsam zu Hans zurück.

„Warum verkehrst Du mit einem solchen Menschen?“ fragte ihn dieser furchtlos.

„Dumme Frage! Wir arbeiten zusammen wie zwei Maulwürfe, ein Kollege von mir! Mit einem ‚solchen Menschen‘, sagst Du? Ja, was soll’s denn für ein Mensch sein? Er hatte freilich nicht das Glück, von einem Geldprotzen von der Straße aufgelesen zu werden wie Du, und hat natürlich ganz andere Ansichten wie Du. Er meint’s auch nicht so schlimm, und ich ärgere mich jetzt nur, daß ich so grob war gegen ihn. Aber daran bist nur Du schuld mit Deinem dummen Moralpredigen . . . Ja, wer bin ich denn eigentlich, daß ich mir das gefallen lassen muß?“

In neu aufsteigendem Zorne stampfte er mit dem Fuße. Hans ließ ihm Zeit, sich zu beruhigen, und faßte unterdessen seinen Entschluß

Endlich setzte sich Davis, wie ermattet von dem Wuthanfall, und brachte seinen Pfeifenstummel wieder in Brand. Es war ganz still, nur um den verschütteten Wein summten die Fliegen.

„Ich bin überzeugt,“ begann Hans, „daß dieser Mann nicht im Scherze sprach, daß er mich ausforschen wollte, daß er in mir diesen ‚Eingeweihten aus der Fabrik‘ zu finden hoffte.“

Davis blies eine Rauchwolke gegen die Wand und bewegte sich unruhig auf seinem Stuhle. „So laß ihm doch sein Vergnügen, was kann er schaden, wenn er doch in Dir den Mann nicht findet, den er braucht?“ antwortete er dann leichthin.

„Aber Dir kann er schaden, Vater, wenn Du unter seinem verderblichen Einfluß bleibst,“ entgegnete Hans eifrig.

„Du sprichst ja wie ein Pfarrer! Teufel, was hab’ ich für ein Söhnchen!“ Davis lachte spöttisch auf.

„Ich muß Dir erklären, daß ich nicht mehr zu Dir kommen kann, wenn Du den Verkehr mit diesem Menschen nicht aufgiebst.“

„Du hast also wirklich Angst für die Geldspinden Deines geliebten Herrn Berry?“

„Ich habe Angst, daß Holzmann Dich in irgend eine unrechte That verwickelt, wenn auch wider Deinen Willen, und dann wärst Du und ich für immer zu Grunde gerichtet.“

[524] „An mir ist nicht mehr viel zu Grunde zu richten! Wenn man einmal drin war im Häusl, liegt am zweiten Mal nicht mehr soviel. Freilich bei Dir ist es ’was anderes – da hast Du recht, das wäre schlimm, das möcht’ ich selbst nicht. Die Claire und alles futsch wegen mir – nein, das will ich nicht! Aber ich bin auch kein Kind mehr und laß mich nicht am Gängelband führen. Der Holzmann ist ein fideler Kerl, der sein letztes Hemd hergiebt für seinen Freund, das gefällt mir an ihm; eine Kneipfreundschaft also – weiter nichts. Uebrigens sollst Du ihn nicht mehr bei mir treffen, das verspreche ich Dir. Damit ist’s aber genug der Vorschriften, das merke Dir! Meine Freiheit verkaufe ich nicht für Deine Altersversorgung."

Hans stand auf und nahm seinen Hut. Davis sah ihn erstaunt an.

„Es ist also wirklich Dein Ernst? Du willst nicht mehr kommen wegen dieses Schwätzers? So sei doch vernünftig, ich muß ja mit ihm umgehen, wenn ich den ganzen Tag mit ihm arbeite; ich kann mir meine Gesellschaft nicht aussuchen wie Ihr Herrenleut’! Es wär’ mir wirklich leid, wenn Du nicht mehr kämest.“ Er wühlte mit der Hand in dem offenen Hemde an der Brust. „Und es ist eine große Frage, ob Du gut daran thust. Dann bin ich wieder ganz allein und hab’ auf nichts aufzupassen – aber allerdings. –“ seine Stimme klang wieder heftig – „wenn Du nur kommst, um zu spionieren und uns auszuforschen wie heute, dann bleibst Du mir besser ein für allemal weg.“

In Hans stieg ein heißes Mitleid auf, einen Augenblick besann er sich, dann versprach er, wiederzukommen am nächsten Sonntag, unter der Bedingung, daß Holzmann nicht da sei. Das wurde ihm von Davis feierlich zugesichert.

„Du verstehst unsere Sprache nicht, weißt nicht, was für dumme Gedanken einem kommen, wenn man den ganzen Tag in Staub und Schmutz herumpudelt, während einem die Wagen der Reichen über den Kopf wegrasseln – wenn das alles ausgeführt würde, was da gedacht wird!“

„Ich denke, das Bewußtsein redlich gethaner Arbeit müßte alle diese schlimmen Gedanken verscheuchen und einen Stolz wachrufen, wie ihn der reiche Müßiggänger nicht haben kann," sagte Hans im Tone innerer Ueberzeugung.

„Bei Deiner Arbeit mag das sein, aber unsere – die giebt überhaupt kein Bewußtsein. Mach’s einmal nur einen Tag und such’ dann das ‚Bewußtsein redlich gethaner Arbeit‘ und den ‚Stolz‘!“ Eine tiefe Verbitterung klang aus den Worten.

Hans fand keine Antwort darauf.

„Auf Wiedersehen!“

Er drückte dem Vater die Hand und wandte sich zur Thür; ihm stiegen die Thränen in die Augen, sie drangen aus tiefstem Herzensgrund.

Als er nach Hause kam – seit er festes Gehalt bezog, wohnte er bei Merks, deren Rolle als Pflegeeltern jetzt ausgespielt war, in freier Miethe – sand er auf seinem Tische ein großes Schreiben mit der Firma Berry auf dem Umschlag. Aufgeregt öffnete er den Brief.

„Es freut mich, daß Ihre gute Aufführung und Ihre Fortschritte mich in stand setzen, Sie zum Monteur zu ernennen mit dem Gehalt eines solchen. Ich benutze die Gelegenheit, Sie für morgen abend zu mir zu Tisch zu laden. Ihr geneigter J. Berry.“ 

Das Papier fiel ihm aus den zitternden Händen; er hob es auf, las immer und immer wieder „zum Monteur zu ernennen ... zu Tisch zu laden“. Er an Herrn Berrys Tisch geladen – er, der eben an einem Tische gesessen hatte mit diesem Holzmann, welcher die Beraubung des Kommerzienraths plante und daneben saß der Vater und wartete ab, was er dazu sagen, wartete ab, ob nicht auch in ihm ein verbrecherischer Gedanke sich regen würde – doch nein, das that er nicht, so weit war er noch nicht wie dieser Holzmann, der arme Vater! Und jetzt könnte er ihn ja vielleicht erlösen aus dem Staube und Schmutze, aus der häßlichen Luft unter der Erde, welche alle diese häßlichen Gedanken erzeugte! Er wollte so gern alles entbehren, um nur ihn zu retten. Wenn er rasch hineilte und ihm die Freudenbotschaft brächte, ob er ihn dadurch nicht ganz von Holzmann losreißen könnte?

Schon war er entschlossen zu gehen, da dachte er an morgen abend; jetzt noch einmal Herrn Berry zu hintergehen, jetzt mit diesem Briefe in der Hand, in welchem jede Zeile die Fürsorge des wohlwollenden Mannes verrieth – nein, das war nicht möglich! Nächsten Sonntag mochte es sein, und dann zum letzten Male! Ein Monteur verdiente hundertzwanzig Mark im Monat, mit der Hälfte konnte er leben; die andere sollte der Vater haben unter der Bedingung, daß er die „Fackel“ verlasse . . .

„Für morgen abend zu mir zu Tisch zu laden“ – las er immer wieder.

Was lag doch gar so Beglückendes in diesen Worten? Die Ehre hatte er ja früher schon genossen, als Claire noch hier war, aber nie war er so begeistert davon wie jetzt. Früher war sie ihm zu theil geworden als dem aus Barmherzigkeit angenommenen Knaben, als dem Automaten Nummer zwei; jetzt als einem Angestellten des Hauses – war es deshalb? Aber einen einfachen Monteur lud doch Herr Berry sonst nicht an seine Tafel – was also war der Grund? Hatte vielleicht Claire geschrieben, den Papa gebeten – –? Er hatte seit ihrer Abreise nichts mehr von ihr vernommen, den Kommerzienrath nach ihr zu fragen, wagte er nicht. Jetzt würde er wohl von ihr hören – über was sollte man denn mit ihm sprechen als über Claire? Und morgen durfte er auch fragen nach ihr, sie grüßen lassen! Ja, das war’s, was dies Glücksgefühl in ihm wachgerufen hatte, was ihn sogar seine überraschende Beförderung, den Vater mit seinem entsetzlichen Freunde – alles, alles vergessen ließ.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 18, S. 549–556
[549]
6.

Otto Berry hatte sein heißersehntes Ziel erreicht, er stak glücklich in der schmucken Uniform eines Kavalleristen. Seine Eitelkeit überwand die für seinen verzärtelten Körper großen Anstrengungen des Dienstes, sie half ihm auch über die schmerzliche Wahrnehmung hinweg, daß durchaus nicht, wie er gehofft, ein müheloses Genußleben für ihn begonnen hatte. An Stelle des Schlenderns in kleidsamer Uniform, des Säbelklapperns und Kaffeehaussitzens, wovon er geträumt, galt es zunächst, einer eisernen Disciplin, hohen Anforderungen an körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sich zu unterwerfen, und manchmal dachte er wohl reuevoll daran, daß dagegen ein Leben im Comptoir an der Seite des nachsichtigen Vaters die reinste Spielerei gewesen wäre. Aber in einem Punkte hatte er sich doch nicht getäuscht, und das versöhnte ihn mit allem anderen: in der gesellschaftlichen Bevorzugung seines neuen Standes. Der Offizierssäbel war das Symbol einer überlegenen Kaste; die höchste Arbeitskraft, ergraute Weisheit, Charakter und Talent, alles stellte der schmale Stahl in Schatten. Was Wunder, daß Otto in seinem aufs Aeußerliche gerichteten Sinn es kaum erwarten konnte, bis auch ihm das ersehnte Reich sich öffnete. Einstweilen mußte er sich wohl oder übel mit der bescheidenen Rolle begnügen, die ihm seine kürzlich erfolgte Ernennung zum Fähnrich gestattete.

Es hatte einer sehr nachdrücklichen Aufforderung des Papas bedurft, um ihn in dieser Stimmung zu veranlassen, bei dem Mahle, das den Fabrikbeamten gegeben wurde, zu erscheinen, und er hatte seine Zusage an die Bedingung geknüpft, einige Kameraden mitbringen zu dürfen. Abgesehen von der Mama, welche er durch diesen vornehmen Zuwachs – es waren Träger hochadliger Namen – geradezu zu Dank verpflichtete, hoffte er auch, dem Vater zu imponieren und ihn versöhnlicher zu stimmen. –

Hans machte zu dem Essen sorgfältig Toilette; er fühlte, daß von diesem ersten Auftreten als selbständiger Mann seine Zukunft abhängig sein könne. Frau Berry schrieb gewiß ihrer Tochter über den Abend nach Paris – wenn es dann hieß, er habe sich schlecht ausgenommen in der vornehmen Gesellschaft! Die Röthe stieg ihm ins Gesicht bei dem bloßen Gedanken. Er war nicht eitel, schon die strenge Arbeit ließ ihn nicht dazu kommen, aber heute betrachtete er sich zum ersten Male [550] lange im Spiegel. Das rastlose Vorwärtsstreben, die Sorge um den Vater, die Erfahrungen in der „Fackel“ gaben ihm ein älteres Aussehen, als ihm an sich zukam. Ein dunkler Bartanflug ließ die weiße Farbe seines Gesichts um so lebhafter hervortreten. Das schwarze Auge blickte scharf mit frühem männlichen Ernste, die Stirn war umrahmt von kurzlockigem, glänzend schwarzem Haar. Hans konnte nicht für schön gelten, dazu waren seine Züge zu derb und unregelmäßig, aber er hatte schon jetzt einen männlichen Charakterkopf, der durch seine gehaltvolle Kraft auffallen mußte.

Frau Berry war sichtlich überrascht, als der junge Mann in den Salon trat; sie hatte ihn seit Claires Abreise nur selten und dann nur oberflächlich gesehen, und so war er ihr immer noch als Kind, als der Spielgenosse ihrer Tochter in Erinnerung. Heute früh erst hatte sie einen Brief von Claire erhalten, in dem sich diese angelegentlich nach Hans Davis erkundigte; sie hatte sich gefreut über die Gutherzigkeit des Kindes, das mitten im Pariser Leben des armen Knaben gedachte; jetzt beim Anblick des jungen Mannes schoß ihr plötzlich ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf. Es war doch eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit gewesen, die beiden jungen Leute so lange wie Kinder unbeachtet miteinander verkehren zu lassen! Wie leicht hätte das schlimm ausfallen können . . . oder war es schon schlimm ausgefallen? Hatte Claire aus tiefer liegenden Gründen als aus Gutherzigkeit sich so angelegentlich nach dem alten Kameraden erkundigt? Aber nein, das war ja die reine Unmöglichkeit, Unsinn! Ein Monteur, der Sohn eines Arbeiters, und Claire Berry! Trotzdem sie sich auf diese Weise zu beruhigen suchte, wollte doch der thörichte Gedanke, der sie verfolgte, nicht weichen. Aber sie war nicht gewohnt, sich von halben Befürchtungen lange quälen zu lassen, und beschloß, der Sache rasch auf den Grund zu kommen. Sie war noch allein mit Hans, der sich in seiner freudigen Unruhe fast allzu pünktlich eingestellt hatte, so konnte sie ungestört ihren Zweck verfolgen. Scheinbar harmlos begann sie von der Kindheit ihres Pflegebefohlenen zu reden, von einzelnen Ereignissen daraus, die in enger Beziehung zu Claire standen.

Hans, dessen Herz bei diesem vertraulichen Gespräch und den alten Erinnerungen höher und höher schlug, hatte Mühe, seiner Aufregung Herr zu bleiben. Er war sich bewußt, wie viel er durch ein unvorsichtiges Wort verrathen könne, und widerstand daher lange der Versuchung, sich nach Claire zu erkundigen. Endlich vermochte er doch die langersehnte Frage nicht mehr zurückzuhalten.

„Wie geht es Fräulein Claire?“ Er fühlte, daß er glühend roth wurde, und schlug vor dem forschenben Blicke der Kommerzienräthin verwirrt die Augen nieder.

Frau Berrys Befürchtungen regten sich mit verdoppelter Macht. Mit bewußter Grausamkeit gegen Hans, dessen Frage so herzlich geklungen hatte, erwiderte sie daher leichthin:

„Gut geht es ihr, nur zu gut! Sie vergißt darüber fast ihre Heimath, ihre Eltern. Sie schreibt wenig und, wenn es geschieht, sichtlich zerstreut, mitten aus der Hochfluih des Pariser Lebens heraus. Gott, ich gönne es ihr von Herzen, sie soll ihre Jugend genießen! Aber sie wird nicht mehr zu kennen sein, wenn sie wieder kommt.“

„O, das glauben Sie gewiß nicht, Frau Kommerzienrath!“ erwiderte Hans in einem schmerzlichen Tone.

„Je nun, die Welt ist nun einmal nicht für Kinder da,“ entgegnete sie, „und Claire war ein Kind, ein rechtes Kind, das nie ernst zu nehmen war – immer seinen Einfällen folgend wie damals, als sie ein lebendiges Menschenkind, das jetzt in Gestalt eines jungen Mannes vor mir sitzt, gegen einen Automaten eintauschen wollte.“

Die Räthin sprach nachlässig, scheinbar gleichgültig mit dem Fächer spielend. Doch Hans fühlte deutlich genug die Absicht heraus, ihm den Abstand zwischen Claire und ihm zu zeigen.

„Der Automat liegt längst in der Rumpelkammer, vergessen, werthlos, ein toter Mechanismus; das Menschenkind aber lebt, fängt erst an, recht zu leben, und wird alles dran setzen, nicht auch in die Rumpelkammer geworfen zu werden,“ versetzte er. Seine Schüchternheit war verschwunden; an der Räthin war es jetzt, vor diesen flammenden Augen den Blick zu senken.

In diesem Augenblick betrat Herr Berry den Salon. Hans verneigte sich ehrfurchtsvoll und bedankte sich, noch erregt von dem Gespräch, in überstürzten Worten für seine Beförderung und Einladung.

Herr Berry betrachtete mit Wohlgefallen den jungen Mann. „Na, Emilie, was sagst Du zu unserem Schützling, sieht er nicht besser aus als mancher Kavalier?“ rief er in bester Laune. „Hast Du ihm die Grüße Claires schon ausgerichtet? Sie erkundigt sich in jedem Briefe nach Ihnen, Herr Davis.“

Hans rächte sich durch einen vielsagenden Blick auf die Kommerzienräthin, die ihren Aerger nicht verbergen konnte; ein triumphierendes, spöttisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Das Klirren von Säbeln unterbrach die für die Räthin peinliche Scene. Otto trat ein, von zwei Kameraden begleitet.

„Graf Troste“ – „Baron Sina,“ stellte er die beiden Herren seinen Eltern vor, mit Absicht Hans völlig übersehend.

„Herr Davis, Monteur in meiner Fabrik“ – übernahm in auffälliger Weise Herr Berry die Vorstellung seines Schützlings.

„Ah, Sie auch hier? Gar nicht bemerkt – pardon!“ schnarrte Otto in den eben üblichen militärischen Nasenlauten, die er bereits bewundernswerth beherrschte. Eine leise aufsteigende Röthe ließ dabei auf seiner Stirn eine kleine Narbe erscheinen, die Hans wohl kannte.

Inzwischen hatten sich die eingeladenen Beamten im Vorzimmer versammelt, und der Kommerzienrath bot seiner Frau den Arm, um die neuen Gäste zu begrüßen.

Man begab sich zu Tisch. Hans kam auf Anordnung des Herrn Berry mitten unter die Fähnriche zu sitzen, und Otto fand das so unpassend, daß er sich entschuldigen zu müssen glaubte. „Ich sagte es Euch ja voraus – sehr gute Weine, aber etwas gemischte Gesellschaft für heute,“ flüsterte er den Kameraden so laut zu, daß Hans es hören mußte.

Ein Gefühl der Verachtung stieg in diesem auf gegenüber dem feigen Benehmen des einstigen Spielgenossen, gegenüber diesen Herren, die demnach nur den guten Weinen des Herrn Berry zuliebe gekommen waren.

Das allgemeine Gespräch drehte sich anfangs selbstverständlich um geschäftliche Ereignisse. Die neuen großen Bestellungen von Lokomotiven, die der Staat für seine Bahnen in den Berryschen Werken gemacht hatte, beschäftigten die Gemüther; jeden Tag fand man Verbesserungen in der Einrichtung und Vertheilung der Arbeit, machte man neue Erfahrungen in Bezug auf Material und Bauart.

Hans hielt sich bescheiden zurück, obwohl ihm das Besprochene wohl bekannt war und er lebhaften Antheil an der ganzen Sache nahm; handelte es sich doch um seine Lieblinge, die Maschinen, deren geheimste Regungen er belauschte!

Otto unterhielt sich unterdessen angelegentlich mit den Fähnrichen über die jüngsten Vorgänge auf dem Gebiet der Kunst, des Theaters, des Rennplatzes; er sprach über alles in demselben überlegenen, halb geringschätzigen Tone, nur bei der Erörterung der Rennen erwärmte er sich etwas und nahm eine respektvolle, der „Wichtigkeit“ des Stoffes angemessene Haltung an.

Er that sich nicht wenig zu gute darauf, in diesen Dingen schon völlig bewandert zu sein, und wurde nur dann etwas in seinem Selbstgefühl gestört, wenn ihm bei einer nach seiner Meinung besonders gelungenen Behauptung sein Vater einen ironischen, fast verächtlichen Blick zuwarf, der einen schmerzlichen Ausdruck gewann, sobald er auf Hans hinüberschweifte, welcher auf einzelne Fragen des Direktors treffende, ernstes Studium verrathende Antworten gab. Es handelte sich um die überaus wichtige Verkuppelung der Triebräder, um eine Erhöhung des Adhäsionsgewichts, von welchem die Zugkraft der Maschine allein abhängig ist. Hans hatte diesem Gegenstand schon lange seine besondere Aufmerksamkeit zugewandt und war auf rein empirischem Wege zu einer neuen Idee gelangt, deren Ausführung ihm zwar noch nicht ganz klar war, die aber an sich durchaus nicht außer dem Bereich der mechanischen Möglichkeit lag. Der Direktor und Herr Berry wechselten vielsagende erstaunte Blicke und hörten den Auseinandersetzungen des jungen Mannes mit sichtlichem Eifer zu.

Da fiel der Name „Claire“ in der Unterhaltung der anderen Partei . . . Hans wurde zerstreut, verlor die Klarheit – die Triebräder und Kurbelstangen verwirrten sich plötzlich, eine [551] gewaltigere Kraft war auf sein Gedankenbild gestoßen und zertrümmerte es.

„Claire bewegt sich mitten in den schöngeistigen Kreisen von Paris, verkehrt mit den Großen der Kunst und Litteratur – ich beneide sie darum! Ihre Briefe beschämen mich geradezu, ich ersehe daraus, wie weit wir zurück sind. Das gute Kind wird sich schwer wieder in die hiesigen Verhältnisse finden –“ bemerkte eben Frau Berry.

„Allerdiugs, wenn sie hier nur von Maschinen-Verkuppelungen hört, oder wie das Zeug heißt, dann wird sie wohl auf und davon laufen und das Heimweh nach Paris ist ihr dann nicht zu verübeln,“ entgegnete Otto spitzig.

„Und doch bin ich überzeugt, daß Fräulein Claire sich für dieses Zeug lebhaft interessieren wird, sobald sie weiß, daß es von größter Wichtigkeit werden kann für das Haus ihres Herrn Vaters,“ rief Hans, fortgerissen von seiner Erregung.

„Bravo Davis! Sie haben meinen Herrn Sohn gut abgeführt!“ Eine starke Gereiztheit klang aus diesen Worten des Kommerzienraths.

„Abgeführt?“ fragte Otto, und die Narbe auf seiner Stirn brannte hochroth. „Ich merke nichts davon und kann Herrn Davis gegenüber wohl auch nie in diese Lage kommen!“

Die Entgegnung sollte scherzhaft sein, aber aus dem leichten Gesprächston klang tiefe Gereiztheit.

„Ich freue mich wirklich,“ setzte er dann zu seinem Vater gewendet hinzu, „wenn Claire wiederkommt, sie wird ein anderes Leben bringen und eine andere –“

Er stockte.

„Gesellschaft, meinst Du? Sprich’ es nur aus!“

„Nicht gerade, aber mehr Abwechslung, meine ich. Und das wird Dir selbst gut thun, Papa, und Dich erheitern. Ein Kreis von Kavalieren, Künstlern, Schriftstellern, kurz das, was man ‚Welt‘ nennt, wird sich hier versammeln. Oder willst Du Claire etwa zum weiblichen Leiter Deiner Werke heranbilden, zu einer Lokomotivenbauerin? Dafür ist Paris eine schlechte Schule!“

„Weder das eine noch das andere wird ausschließlich geschehen. Warum soll sich nicht beides vereinigen lassen, der Verkehr mit dem, was Du ‚Welt‘ nennst, und die Pflicht? Ich bin unter strenger Arbeit aufgewachsen, mitten im Gewoge der Fabrikthätigkeit, ich kenne daher den beglückenden Einfluß der Kunstgenüsse auf den Menschen zu wenig, um entscheidend darüber sprechen zu können; doch glaube ich daran. Aber jedenfalls ruht das wahre Glück, die echte Befriedigung nicht in solch schöngeistiger Beschäftigung allein, die doch immer nur ein Genießen ist, sondern in praktischer Arbeit, in dem Schaffen greifbarer Werthe . . . Sie mögen lächeln, meine Herren, über diese Anschauung, sie veraltetet nennen –“ fuhr er fort, indem er sich zu den Kameraden seines Sohnes wandte, deren Lippen sich wirklich verrätherisch kräuselten – „aber dies ist nun einmal meine Ueberzeugung. Ich bin daher auch kein besonderer Freund der Künstler, Dichter, Musiker von Fach – was diese schaffen, das sind in meinen Augen keine greifbaren Werthe; sie sind für mich mehr oder minder Drohnen.“

„Demnach bist Du auch ein abgesagter Feind aller Kavaliere?“ fiel Otto gereizt ein.

„Wenigstens kein Verehrer von ihnen – wenn sie nichts weiteres sind,“ war die mit starker Betonung gegebene Antwort.

Jetzt verlor Otto vollends die Ruhe. „Aber Papa! Was sollen sich die Herren hier denken? – Papa meint es nicht so, Troste –“

„Gewiß meine ich’s so; aber die Herren können und werden sich nicht dadurch getroffen fühlen, sie sind ja mehr als Kavaliere – sind die Beschützer dessen, was wir hervorgebracht haben, vor fremden Angriffen, und so lauge diese Beschützer nöthig sind und mit Aufopferung und Pflichttreue ihrem Beruf nachkommen, wird jeder vernünftige Mensch sie ehren –“

Man war allgemein froh über diese Wendung des allen peinlich gewordenen Gesprächs. Nur Otto beruhigte sich nicht, er fühlte den Hieb und wandte sich in seinem Zorne gegen Hans, der nach seiner Meinung allein die Schuld an dieser Erörterung trug.

Wenig schlagfertig, wie er war, suchte er vergeblich nach einem verletzenden und doch an diesem Orte möglichen Worte. Dadurch noch mehr gereizt, griff er zum nächsten besten, zu einer zufälligen Beobachtung, die in gar keinem Zusammenhang stand mit dem eben Gesprochenen.

„Sagen Sie einmal, Sie künftige Leuchte unter den Maschinenmenschen, was Sie jeden Sonntag in der äußersten Westvorstadt, in der Kleegasse – Verzeihung, meine Herren, daß ich diesen Namen hier nenne – zu suchen haben? Ich hatte bereits zweimal das Vergnügen, Ihnen auf dem Wege zur Kaserne dort draußen zu begegnen – einmal kamen Sie eben heraus, einmal gingen Sie eben hinein. Machen Sie da auch Studien über Triebräder, Verkuppelungen und dergleichen – was?“

Hans wechselte die Farbe, das Messer zitterte in seiner Hand und Herr Berry stutzte sichtlich. „Ein Spaziergang führte mich hinaus – ich verirrte mich –“ erwiderte Hans unsicher und verwirrt.

Allen fiel sein Benehmen auf, Otto staunte selbst über die unerwartete Wirkung seiner Worte; alles, was er gehofft hatte, war, den Verhaßten durch seine hämische Aeußerung in Verlegenheit und vielleicht für einen Augenblick in eine schlimme Beleuchtung zu bringen; nun ermuthigte ihn dessen Unruhe, weiter zu gehen; daß Papa auch jetzt wieder für seinen Schützling Partei nehmen würde, war nicht zu befürchten, denn eine wohlbekannte Falte erschien auf der Stirn des Kommerzienraths, als er erwartungsvoll zu Hans hinübersah. Der aber schien gar nicht kampfbereit und blickte ängstlich vor sich hin.

„Zweimal verirrt man sich doch nicht so leicht an derselben Stelle,“ warf Otto nachlässig hin, „vollends ein Maschinist wie Sie, der sich in dem Gewirr unzähliger Schrauben und Triebräder zurechtfinden muß. Wenn Sie keine bessere Erklärung finden können –“

„Ich suche keine, da ich Ihnen keine Rechenschaft über die Verwendung meines Sonntags abzulegen habe.“

Er betonte das „Ihnen“ stark mit einem Blicke auf Herrn Berry, durch den dieser bewogen wurde, so nachdrücklich das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu leiten, daß sein Sohn gezwungen war, zu folgen. Aber trotz der Bemühungen des Kommerzienraths wollte keine unbefangene Stimmung mehr aufkommen; der Zwiespalt zwischen Vater und Sohn war zu offenkundig hervorgetreten und das Bewußtsein dieser Spannung wirkte bedrückeud.

Am unglücklichsten war Frau Emilie, die sich alle Mühe gab, durch gesteigerte Liebenswürdigkeit den übeln Eindruck zu verwischeu, den „leider“ die Ansichten ihres Mannes auf die beiden Kameraden des Sohnes hatten machen müssen. Sie kannte ihren Gemahl nicht mehr, ein fremder Geist sprach aus ihm. Wer hätte heute in ihm den Nachkommen der Marquis von Berry erkennen sollen! Wie der nächste beste Volksredner hatte er gesprochen, und gerade heute mußte das sein in Gegenwart adliger Gäste, wie sie sonst in ihrem Hause sich nicht einfanden! Zum ersten Male während ihrer Ehe fühlte sie, die Tochter eines verarmten, aber altadligen Geschlechts, in ihrem Familienstolz sich verletzt.

Erleichtert athmete sie auf, als ihr Gatte früher denn gewöhnlich die Tafel aufhob und die Gäste sich rasch entfernten; weiß Gott, was am Ende noch alles hätte zum Vorschein kommen können! Otto verabschiedete sich mit seinen Kameraden.

„Ich muß noch ein paar Stunden in guter Gesellschaft zubringen, Mama, das wirkt reinigend,“ sagte er. „Wir gehen noch ein wenig in den Klub.“

Frau Emilie seufzte.

„Ich finde es ganz begreiflich, mein Sohn, es war ein schrecklicher Abend.“

„Hoffen wir auf Claire, sie wird unsere Bundesgenossin sein und durch Papas Pläne sehr bald einen Strich machen. Was ich dazu thun kann, soll geschehen.“

Mit einem Handkuß nahm Otto Abschied von der Mutter, die bedenklich und besorgt aufathmend das Haupt schüttelte, als sei ihre Hoffnung auf Claire nicht eben zuversichtlich. – –

„Folgen Sie mir, Herr Davis!“ sagte Berry zu Haus, als sich dieser empfehlen wollte. In tiefer Erregung kam Hans der Aufforderung nach. Die widersprechendsten Gefühle stürmten durch seine Brust. Nun wird der Kommerzienrath Rechenschaft verlangen über seinen Aufenthalt in der Kleegasse, und wenn er die Wahrheit erfährt, wird er sicher seine Hand [552] zurückziehen, den Schuldigen entlassen – der ganze Zukunftstraum ist zertrümmert. O diese Ketten an die ihn das Schicksal geschmiedet, an denen es ihn willenlos herumzerrte – sollten sie denn ewig klirren? Waren sie nicht zu zerreißen mit starker Hand? Was war zu thun? Frei bekennen und die Folgen muthig tragen oder feige lügen und ein andermal vorsichtiger sein – so stand die Wahl.

Die Minute, die verging, bis er im Arbeitszimmer Berrys stand, dünkte Hans eine Ewigkeit.

„Setzen Sie sich!“ begann der Kommerzienrath, als er in dem dunklen Raume Licht gemacht hatte.

Es galt also ein längeres Verhör. Aber Herr Berry sah nur sehr nachdenklich, nicht erregt aus – das gab Hans seine Fassung zurück.

„Sie sind ein guter Zeichner, Herr Davis, wollen Sie mir morgen Ihren Gedanken über die vorhin erwähnte Verkuppelung bei den Lokomotiven genau aufzeichnen? Er interessiert mich, und ich werde ihn von einem Ingenieur auf seine Verwendbarkeit prüfen lassen.“

Hans konnte seine Ueberraschung über diese unerwartete Wendung nicht verbergen.

Berry lächelte.

„Beruhigen Sie sich, ich werde dafür sorgen, daß Ihnen die Ehre und der Ertrag der Erfindung zugute kommt, wenn etwas an der Sache ist. Aber geben Sie sich keiner überstürzten Hoffnung hin, unter hundert scheinbar sehr geistreichen Problemen der Art zeigt sich vielleicht nur eines praktisch verwerthbar. Immerhin ist es für einen jungen Mann Ihres Alters und Ihrer Vorbildung schon sehr viel, wenn er überhaupt auf neue Ideen kommt. Und ich weiß das sehr wohl zu schätzen.“

„Ich werde mein Möglichstes thun, die Zeichnung zu machen, obwohl ich selbst noch nicht ganz im klaren bin, aber etwas ist daran, das fühle ich bei der Montierung einer jeden Maschine von neuem,“ erwiderte Hans beglückt.

„Gut.“

Berry stand auf.

„Nun zu etwas anderem. Was hatten Sie an den beiden Sonntagnachmittagen in der Kleegasse zu suchen? Es ist das doch ein sonderbarer Aufenthalt. Sprechen Sie offen!“

Hans zuckte zusammen und hob jetzt plötzlich den Kopf, den er, im Nachdenken über die zu entwerfende Zeichnung, gesenkt hatte. Da fiel sein Blick auf ein Gemälde über dem Schreibtisch – Claire als Mädchen, eine Puppe unter dem Arme, das liebe etwas trotzige Gesichtchen von blonden Locken umwallt; so hatte er sie in frühester Erinnerung. Sein Auge blieb starr daran haften, als habe er die Frage überhört.

Berry entging es nicht, er wartete ruhig, doch mit einer gewissen Spannung in den Zügen.

„Ich war bei meinem Vater!“ klang es dann fest aus dem Munde von Hans; sein Blick ruhte noch immer auf dem Bilde, als spreche er nur zu Claire.

„Ich wußte es. Gut, daß Sie die Wahrheit gesagt haben. Ich will Ihnen nicht vorhalten, was zu thun Ihre Pflicht gewesen wäre, ich will Ihnen einfach die Last abnehmen, mit der Sie doch nicht fertig werden können. Gehen Sie nächsten Sonntag wieder hin und bestellen Sie Ihren Vater für Montag früh acht Uhr zu mir aufs Bureau – es ist ja nicht anzunehmen, daß ihn jemand erkennt. Ich werde für ihn auf eine Weise sorgen, daß er Ihren Weg nicht weiter zu kreuzen braucht, verbitte mir aber dann jede weitere Gefühlsseligkeit von Ihrer Seite. Es giebt Nothwendigkeiten im Leben, die grausam zu sein scheinen und es manchmal auch sind, mit denen man aber rechnen muß.“

Hans war erschüttert. Dieser Mann häufte mit kalter Miene und dürren Worten Wohlthat auf Wohlthat. Jetzt fielen sie ja – die Ketten, die sich von Tag zu Tag enger um ihn geschlungen hatten, nun war er frei!

„Herr Kommerzienrath, wie soll ich Ihnen danken!“ stammelte er verwirrt.

„Mit einer guten Zeichnung vorderhand. Gehen Sie nur rasch daran, die Sache hat Eile! Gute Nacht, Herr Davis!“ Berry kehrte sich um und machte sich über seine Papiere. Hans war entlassen, kurz wie immer, als habe sich nichts weiter ereignet.

Mit einem Gefühl der Erlösung wanderte er durch die stille Nacht nach Hause; das gefährliche Geheimniß war weggewälzt von seiner Brust; wenige Tage noch und er sollte zum letzten Male die „Fackel“ betreten. Daß sich der Vater weigern würde, der Aufforderung Berrys zu folgen, war ja doch undenkbar. Jetzt bot sich dem Unglücklichen endlich die Möglichkeit, herauszukommen aus seiner jetzigen Umgebung und zugleich zu menschenwürdigerer Arbeit zu gelangen, und damit mußte der böse Geist von ihm weichen vor dem Hans zitterte, mußten jene wilden Anfälle aufhören, die den Verbitterten auf die Bahn des Verbrechens zu reißen drohten.

Vergeblich suchte Hans den Schlaf; seine Gedanken kehrten immer aufs neue zu seiner Erfindung zurück, deren Bild ihn unausgesetzt verfolgte. Zuletzt kleidete er sich wieder an, holte Reißbrett, Lineal und Feder hervor und begann beim Scheine der Lampe zu zeichnen, zu rechnen. Nie war sein Geist so frei, so klar gewesen. Rasch entfernte er den Aufriß einer Lokomotive, der vor ihm lag, er störte nur seine rege Phantasie, die alles, was hier. in starrer Ruhe vor ihm stand, in lebendiger, ineinander greifender Bewegung erblickte.

Stunden verrannen. Endlich verlangte die Natur ihre Rechte. Das Zimmer um ihn her verschwand. Aber noch im Traume sah er die arbeitende Maschine. So wie er sich’s gedacht, paßten die einzelnen Theile ineinander, Rad an Rad, Kurbel an Kurbel. Und plötzlich griffen die Räder und Kurbeln ineinander, in rasender Eile sich vorwärts bewegend. Es brüllte und stampfte und dampfte dahin über das weiße Papier hinaus, hinaus aus der Stube, an der Stadt vorbei, durch Wälder und Felder, über Brücken und Dämme, durch finstere Tunnels – und er selbst stand auf der Maschine, die Steuerung in der Hand, jauchzend über die stürmische Fahrt. Nun blitzte ein Meer von Lichtern durch die Nacht, die Maschine sauste mitten hinein, mitten durch eine dunkle schreiende Menschenmasse, über große Plätze, durch breite Straßen, bis vor einen mächtigen Palast – da hielt sie mit einem Rucke. Unter dem Portal stand eine vornehme Dame, ganz in Weiß, Blumen im Haar, vom Lichte umstrahlt, und er sprang hinab von der qualmenden Maschine, stürzte in ihre ausgebreiteten Arme, in die Arme Claires! Und alle jubelten und jauchzten umher – nur das Pfeifen der Maschine tönte schrill dazwischen. Eben wollte er zur Lokomotive zurück, die gellende Pfeife abzustellen, da erwachte er, den Zirkel noch in der Hand.

Verstört hob er den Kopf, der auf dem Reißbrett geruht hatte, auf der vollendeten Zeichnung. Im Dämmerschein des Morgenlichts, das zum Fenster hereinfiel, hoben sich sauber und klar in der Mitte des weißen Papieres die Linien der Maschine ab. Allein Hans achtete nicht weiter darauf, nur die Bilder seines Traumes suchte er sehnsüchtig festzuhalten. Im Fabrikhof erwachte schon das Leben – die Arbeit rief! Er löste die fertige Zeichnung ab, legte sie in einen Umschlag und übergab sie dem Mädchen, das ihm sein bescheidenes Frühstück brachte, mit der Weisung, das Paket noch diesen Morgen ins Bureau des Herrn Kommerzienraths zu bringen. Dann ging er ernst und ruhig wie immer hinüber in die Monteurwerkstätte.

*               *
*

Am nächsten Sonntag machte sich Hans früher als sonst auf den Weg zur Kleegasse. Er konnte den Augenblick nicht mehr erwarten, wo er seiner Sorge ledig sein würde, und eine gewisse Unruhe beschlich ihn, ob sein Vater auch willfährig sich erweisen würde. Zugleich trat der Vorgang mit Holzmann am vorigen Sonntag wieder in allen Einzelheiten vor sein Auge und steigerte seine Qual.

Ohne das Wirthszimmer zu betreten, begab er sich auf einer Hintertreppe sofort hinauf zur Kammer des Vaters. Sie war heute verschlossen. Er pochte ungeduldig an die Thür – keine Antwort! Also nicht zu Hause! Vielleicht war er unten in der Wirthschaft.

Das Schanklokal war überfüllt, ein wüster Lärm herrschte an allen Tischen und über dem ganzen Raume lag ein dicker Dunst von Branntwein und Tabaksrauch. Noch nie war ihm der Ort so abstoßend erschienen. Forschend hielt er Umschau, aber auch hier war der Gesuchte nicht zu erblicken.

Da wurde er von der Wirthin bemerkt. „Warten Sie einen Augenblick!“ rief sie ihm zu. Aus einer Schublade am Schenktisch [554] holte sie einen beschmutzten zusammengefalteten Zettel, den sie ihm mit einem neugierigen Blicke übergab. Ohne die Frau weiter zu beachten, entfaltete er das Papier und las bei der grauen trüben Beleuchtung mit klopfendem Herzen die unbeholfene Schrift.

„Ich will Dir nicht weiter im Wege stehen, und das Kommandieren vertrage ich auch nicht, darum verschwinde ich. Die Stadt ist ja groß. Freu’ Dich, so viel Du willst, mir ist auch wohler so. Wir passen nicht zusammen. Vielleicht glückt’s mir auch einmal, dann werde ich mich vielleicht melden. Bis dahin adieu! Sei gescheit und sorge für Deinen Vortheil, alles andere ist fauler Witz, ich pfeife drauf. J. D.“ 

Als Hans zu Ende gelesen hatte, schwamm vor seinen Augen alles durcheinander in einem brausenden Nebel, aus dem fahle Lichter leuchteten. Mühsam faßte er sich. Ein Gedanke stieg in ihm auf – er rief die Wirthin, die sich mittlerweile entfernt hatte. „Erinnern Sie sich noch des Mannes, welcher vorigen Sonntag bei Davis und mir war?“ fragte er erregt.

„Freilich erinnere ich mich, der Holzmann war’s,“ entgegnete die Frau.

„Ganz richtig, Holzmann heißt er. War dieser Holzmann während der Woche öfters bei Davis?“

Die Wirthin sah ihn mißtrauisch an. „Ich mag das Spionieren nicht,“ sagte sie dann gehässig. „Ich merke die Sache schon lange; mich wundert nur, daß er’s so lange ausgehalten hat, der Davis, er ist sonst nicht so. Und so durchsichtig wie Sie ist mir noch keiner von der Sorte vorgekommen. Sie sind einmal nicht der Rechte zum Aushorchen für die Zwei; lassen’s die Händ’ davon und mir meine Ruh’!“ Mit einem verächtlichen Blicke ging sie zu ihren Gästen.

Es blieb für Hans nichts anderes übrig, als sich zu entfernen. Die letzten Worte der Wirthin beschäftigten ihn nachhaltig. „Für die Zwei" hatte sie gesagt – kein Zweifel, der Vater war die Woche über mit Holzmann zusammengewesen, auf seine Veranlassung hatte er diesen Schritt gethan. Nun war er wohl ganz in der Macht dieses Schurken, der ihn nur allzugut für seine Zwecke zu benutzen wußte. Und er selbst? Aufs neue preßte ihn die Kette, von der er eben gelöst zu sein meinte.

Herr Berry zuckte die Achseln, als ihm Hans die Mittheilung brachte, und schaute ihn mit einem sonderbaren mitleidigen Blicke an. „Sie sehen, ich thue, was ich kann. Sollten Sie je etwas Näheres von Ihrem Vater erfahren, so verschweigen Sie es mir nicht . . . Die Zeichnung hat mich sehr interessiert, Sie werden noch davon hören. Lassen Sie sich inzwischen durch diese Wendung der Angelegenheit mit Ihrem Vater, so ärgerlich sie ist, nicht in Ihrer Arbeit stören!“ sagte er nachdenklich und gab das Zeichen der Entlassung.

Hans stieg langsam die Treppe hinab. Zu ebener Erde lagen die Kassenräume. Es war gerade Zahltag, die Thüren gingen beständig auf und zu, das Klirren des auf die Marmorplatte hingeworfenen Geldes drang heraus und rief ihm die verdächtigen Worte Holzmanns ins Gedächtniß zurück. Nun wird sie der gewissenlose Mensch dem Vater alle Tage vorsprechen, in den finsteren häßlichen Höhlen unter der Erde und zuletzt – – einem plötzlichen Instinkt folgend, ging Hans in das Kassenzimmer; wenn man ihn nach seinen Wünschen fragte, konnte er sich ja Kleingeld einwechseln.

Riesige eiserne Schränke standen in dem vergitterten Raume, sie machten einen sicheren Eindruck. Seine Blicke prüften die Wände, sie waren offenbar von Eisen oder mit Stahlplatten beschlagen – trotz des Anstriches entgingen ihm die runden Köpfe der Schrauben nicht. Die Fenster waren vergittert und hatten eine Vorrichtung für dichten Verschluß. Außerdem war ein eigener Nachtwächter da. Das Gelingen eines Einbruches schien also unmöglich ohne das Einverständniß und die Hilfe eines treulosen Angestellten, und wie sollte ein solcher zu haben sein?

Beruhigter verließ er das Lokal; niemand hatte in dem herrschenden Durcheinander auf ihn acht gegeben. Seine Besorgniß schwand mehr und mehr – der Vater hatte am Ende recht, daß er die Sprache dieser Menschen nicht verstehe und Dinge fürchte, die nur in seiner Einbildung beständen. Sein jugendlicher Sinn half ihm rasch über die letzten Bedenken hinweg, und bald füllte ihn sein neuer Wirkungskreis ganz aus und der Gedanke: Empor zu Claire!


7.

Kommerzienrath Berry hatte auf den ersten Blick in der Zeichnung seines Schützlings einen vortrefflich verwerthbaren Gedanken gefunden; er selbst war als Techniker hervorragend genug, um durch Verbesserungen im einzelnen, für welche dem jugendlichen Erfinder die nöthige technologische Erfahrung fehlte, der neuen Idee ihre volle Tragweite zu geben.

Bei dem ungeheuren Wettbewerb gerade in diesem Industriezweig war eine so wesentliche Verbesserung von unabsehbarer Bedeutung für sein Haus.

Er ließ, ohne Wissen von Hans, ein Modell der Maschine herstellen, um ihre Leistungfäigkeit zu erproben. Der Erfolg war ein entschiedener, soweit er sich in solch verkleinertem Maßstab beobachten ließ. So entschloß er sich denn, zur Fabrikation im großen zu schreiten; unter dem Namen des „Berryschen Systems“ sollte die neue Konstruktion in die Welt gehen. Er that das weniger aus persönlichem Ehrgeiz als aus praktischen Gründen. „System Berry“ war ein Name, der Aufsehen und Vertrauen erwecken mußte, ganz anders als ein „System Davis“, wie es von rechtswegen hätte heißen sollen. Wer ist denn dieser Davis? Ein junger Monteur, der nicht einnmal auf einer technischen Hochschule war! Wenn man das erfährt, wird man darin einen willkommenen Anlaß finden, alles Mögliche und Unmögliche an der Maschine auszusetzen zu haben und tausend Zweifel zu hegen.

Trotz seiner guten Gründe war es dem Kommerzienrath peinlich, Hans diesen Vorschlag machen zu müssen, und ohne seine Einwilligung konnte er doch nicht handeln. Er ließ ihn kommen, theilte ihm seinen Entschluß mit und setzte ihm die Veranlassung dazu auseinander. Jedenfalls, so schloß er, werde er dafür Sorge tragen, daß der Ertrag der Erfindung, falls sie sich in der Praxis bewähre, was ja immerhin noch eine Frage sei, dem Erfinder nicht entgehe; sobald es ohne zu großes Aufsehen und ohne üble Wirkung auf die anderen Angestellten geschehen könne, werde er zudem Hans eine seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten angemessene Stellung einräumen. Vorderhand verlange er aber von ihm unbedingtes Schweigen über seine Urheberschaft, die sich ja ohnehin nur auf den Grundgedanken beziehe und ohne Uebertragung ins Praktische von mäßigem Werthe sei. Hans ging nicht nur willig auf den gemachten Vorschlag ein, ohne irgend eine feste Bedingung daran zu knüpfen, er zeigte sich sogar selig darüber, eine solche Anerkennung gefunden zu haben und Herrn Berry einen Dienst erweisen zu können. Strahlend vor Glück verließ er das Zimmer seines Chefs.

So leicht hatte sich Berry die Sache nicht gedacht; nun trug die einstige Wohlthat seiner Gattin kostbare Frucht. Zu der natürlichen Neigung, welche er neuerdings für Hans gefaßt hatte, trat jetzt noch das gesteigerte Interesse des Geschäftsmannes, und der Fremde drohte in seinem Herzen immer mehr die Stelle einzunehmen, welche sein eigener Sohn Otto von Tag zu Tag mehr preisgab.

Dieser glaubte, als der Sohn eines reichen Vaters die Verpflichtung zu haben, dem Namen Berry, welcher bisher nur unter den Industriellen, auf dem Maschinenmarkt einen guten Klang hatte, auch in den ersten Kreisen der Gesellschaft Geltung zu verschaffen. Papa war zwar zu kurzsichtig und einseitig, um darauf etwas zu geben, und erschwerte ihm durch Knauserei diesen edlen Beruf; er aber war nicht der Thor, sich dadurch abschrecken zu lassen; für den einzigen Sohn des mächtigen Fabrikherrn gab es überall gegen einfache Unterschrift Geld genug.

Das Ziel seiner Wünsche, der Rennplatz, war dem Fähnrich noch verschlossen, doch bereitete er sich jetzt schon mit einem Eifer und einer Ausdauer, die ihm sonst nicht eigen war, auf die Zeit vor, wo mit dem Lieutenantspatent die ersehnten Pforten dieses Paradieses sich ihm öffnen sollten. Dem „Pferde“ war daher alles gewidmet, was er an jugendlicher Begeisterung zu vergeben hatte.

Seine Standesgenossen in dem elterlichen Hause heimisch zu machen, unternahm er keine weiteren Versuche, der erste war zu kläglich ausgefallen; damit wollte er warten, bis Claire zurückgekehrt war.

Auf sie setzte er alle Hoffnung, denn er hegte keinen Augenblick Zweifel, daß sie mit ihren ganzen Anschauungen auf seiner und der Mama Seite stehen würde. Das war ja nicht anders denkbar nach einem zweijährigen Aufenthalt in einem der [555] vornehmsten Häuser von Paris. Ja, er dachte schon weiter und schaute sich unter seinen Kameraden bereits nach einem passenden Schwager um, der durch seinen altadligen Namen und sein gesellschaftliches Ansehen ihm selbst zu einer gesicherten Stellung in den neuen Kreisen verhelfen sollte. Die reiche, schöne, feingebildete Claire hatte jedenfalls die Auswahl unter den Söhnen der ersten Häuser. Wenn Reichthum und Schönheit allein nicht verfingen, so blieb es ja jedem unbenommen, das Wappen der alten Marquis von Berry wieder hervorzuholen und neben dem seinen auf den Kutschenschlag malen zu lassen. So sah er denn mit rosigen Hoffnungen dem Ablauf seiner Fähnrichszeit entgegen; wenn alles gut ging, dann konnte seine heißersehnte Beförderung zum Lieutenant ungefähr mit der Rückkehr Claires zusammenfallen.

Mit solchen Gedanken war Otto ein fremdes Element im Hause Berry, und wenn er auf dem Rücken seiner schlankfüßigen „Thespis“ zum Stalle hinausritt, über den Fabrikhof der Stadt zu, gab er dem Pferde nervös die Sporen, um möglichst rasch herauszukommen aus dem eklen Dampf und Rauch, der nur die hellen Schnüre und den farbigen Besatz seiner Uniform schmutzig färbte.

Und der Dampf und Rauch schien täglich zuzunehmen, wie ein schwarzer Mantel lag er über den Werken, umsäumt von der purpurnen Gluth der flammenden Hochöfen. Herr Berry hielt sich jetzt mehr wie je in den einzelnen Werkstätten auf; es galt die Herstellung der neuen Maschine, über die bereits die abenteuerlichsten Gerüchte unter den Angestellten umgingen. Der Kommerzienrath war bisher noch nie als schöpferischer Mechaniker aufgetreten – alle Neuerungen, alle Entwürfe waren seither aus dem Konstruktionssaal der angestellten Ingenieure gekommen. Dort herrschte denn auch eine allgemeine Verstimmung, daß nicht wenigstens der Plan zur Ausarbeitung oder Prüfung vorgelegt worden war. Berry selbst machte jede einzelne Zeichnung und gab die einzelnen Theile an die einschlägigen Werkstätten aus; in eigener Person beaufsichtigte er auch die Anfertigung. In seiner Begleitung befand sich nicht einmal ein theoretisch gebildeter Techniker, sondern nur der junge, schon längst mit Neid betrachtete Monteur Davis.

Sollte am Ende gar dieser junge Mensch auf die neue Konstruktion gekommen sein? Begabt war er, ja mehr noch, er war ein technisches Genie, das mußte man ihm lassen – aber eine so weittragende Erfindung, wie dem Gerede und den Vorbereitungen nach die in Frage stehende war, die konnte doch nicht von einem einfachen Monteur ausgehen, der nur die Gewerbeschule hinter sich hatte!

Für Hans war es eine wonnevolle Zeit. Er sah seinen glücklichen Gedanken aus dem rohen Metall heraus allmählich zur Wirklichkeit werden. Unter den riesigen Eisenhämmern formten sich die glühenden Achsen und Kurbeln. Dann durfte er sie auf ihrem ganzen weiteren Entwicklungsgang begleiten an der Seite des Herrn Berry, der selbst auf den im Rohen geschmiedeten Stücken die Zeichnung punktierte, nach welcher die Stanz- und Schneidemaschinen arbeiten mußten, bis endlich die Dreherei die letzte Vollendung und Politur gab. Unermüdlich überwachte Berry besonders die Modellierung der Triebräder, in deren Anordnung und Form der neue Gedanke hauptsächlich zum Ausdruck kommen sollte. Er, der sonst nur in tadellosem Anzug durch die rußigen Räume gegangen war und nirgends selbst mit Hand angelegt hatte, steckte jetzt in alten Kleidern – der peinlich gepflegte, fast schneeweiße Bart, das Gesicht waren häufig geschwärzt, ja er griff wohl in seinem Eifer eigenhändig zu.

Die Arbeiter machten große Augen, wenn sie sahen, wie er mit dem Werkzeug nicht weniger sicher umzugehen wußte als sie selbst, und ihr Eifer wuchs; ihrem alten Hasse begann sich fast gegen ihren Willen ein gut Theil Respekt beizumischen. Dem Kommerzienrath entging dies nicht, und immer mehr erkannte er seine früheren Fehler. Er trat jetzt unwillkürlich in ein engeres Verhältniß zu den Arbeitern, lernte die Leute besser kennen und war nahe daran, wenn er so mitarbeitete unter den geschwärzten Gesellen, sich selbst nur noch als den ersten Arbeiter in diesen Räumen zu betrachten. In solchen Augenblicken ahnte er auch, wo der künftige Ausgleich liege für die beiden feindlichen Elemente der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden, die er bisher im letzten Grunde für unversöhnlich gehalten hatte. Am innigsten gestaltete sich sein Verhältniß zu Hans. Die begeisterte Liebe des jungen Mannes zu seinem Beruf, dessen scharfer Blick für alles und jedes, was mit der Technik der Maschinen zusammenhing, flößte ihm die größte Achtung ein. Er bedauerte schon, daß er ihm keine höhere Ausbildung hatte zutheil werden lassen.

Es sollte so eingerichtet werden, daß die neu konstruierte Maschine gerade die fünfhundertste war, welche die Werke verließ; damit sollte für die Arbeiter und alle Angehörigen der Fabrik ein großes Fest verbunden sein, das im Frühjahr stattfinden sollte.

Berry hatte noch einen anderen Plan dabei, er wollte das Fest zusammenfallen lassen mit der Ankunft Claires – sie sollte das väterliche Haus in seinem vollsten Glanze, den Vater auf der höchsten Stufe seines Erfolges sehen. Sein Sohn war für ihn verloren, auf ihn würde auch dieses Ereigniß keinen Eindruck machen. Aber auf das höchste Glück eines Vaters, Freude und Stolz über die mühevollen Errungenschaften seines Lebens im Angesicht seiner Kinder zu lesen an einem solchen Ehrentag, darauf wollte er nicht verzichten. Was Otto ihm weigerte, sollte Claire ihm geben.

Er machte unzählige Pläne; auch dabei war Hans sein einziger Vertrauter, in dem es hell aufjubelte vor Freude, als er von der Rückkehr Claires zu der Feier erfuhr. Nun hatte sein Eifer keine Grenzen mehr; sein Traum von damals, als er über der Zeichnung einschlief, sollte zur Wirklichkeit werden – die Maschine trug ihn Claire entgegen! „Schwing Dich empor, so hoch Du kannst!“ Er hatte ihren Auftrag treu erfüllt mit all seinen Kräften.

Aber würde er denn nun auch etwas bedeuten für die vornehme Dame? Hätte er nicht noch mehr leisten, Größeres, Weittragenderes erfinden müssen? War nicht sein Können noch immer so gering?

Der letzte Gedanke erfüllte ihn mit bitterer Qual. Dann aber sagte er sich wieder in erwachendem Selbstbewußtsein, nicht an den Schranken seines Könnens liege es, nur an dem „Nicht dürfen“. Er selbst hätte dem neuen System seinen Namen geben müssen, das vielleicht die Welt sich eroberte, aber er – durfte nicht! Und warum? Weil er eben der simple Hans Davis war, gerade gut genug, um durch seine Leistungen den Glanz des Hauses Berry zu vermehren. Was ihm vor kurzem noch ganz natürlich erschienen war, schmerzte ihn jetzt, und ein geheimes Mißtrauen gegen den Kommerzienrath wollte ihn beschleichen. Wenn er nur wenigstens Claire hätte mittheilen dürfen, daß er mehr war als ein einfacher Monteur, dann würde er ja gern auf jeden Ruhm, auf jede Ehre, auf die Anerkennung der ganzen Welt verzichtet haben.

Mittlerweile rückte der wichtige Zeitpunkt immer näher, schon war der riesige Kessel in den Montierungsraum gebracht. Es war für Berry sehr schwer, dem jungen Davis die Oberleitung bei der Montierung zu übergeben, ohne die alten Werkmeister zu kränken oder den Gedanken nahezulegen, daß dieser Davis mehr als er selbst bei der Sache betheiligt sei. Nur durch seine ständige Gegenwart, indem er scheinbar selbst die Leitung übernahm, war es möglich, Hans in allem beizuziehen und doch weitere Unannehmlichkeiten hintanzuhalten.

Inzwischen fügte sich ein Glied nach dem anderen dem unförmlichen Körper an, der unter den Hammerschlägen erzitterte, von Tag zu Tag gewann er mehr Form und Leben. Die Ingenieure beobachteten mit kritischen Blicken und gaben sich alle Mühe, das sorgfältig gehütete Geheimniß ihres Chefs zu entdecken, der keine Zeichnung aus der Hand gab; die meisten waren erfüllt von der Hoffnung eines offenkundigen Mißerfolges. Auf den jungen Mann, der mit unermüdlichem Eifer drauf los hämmerte, achtete man kaum und verlachte die Arbeiter, die in ihm die Hauptperson sehen wollten. Lieber traute man noch dem Chef, der doch ein erfahrener Techniker war, eine gelungene Entdeckung zu als diesem grünen Jungen.

Es herrschte eine allgemeine Aufregung im Werke; in allen Sälen, unter dem Geschwirr der Treibriemen, dem Kreischen, Poltern, Schlagen der Maschinen wurde von der neuen Lokomotive gesprochen; es galt als eine Ehre, bei deren Herstellung beschäftigt zu sein. Schon machten sich die Lackierer daran, ihr ein flottes grünes Gewand anzuziehen.

[556] „Wie meinen Sie, daß ich sie taufen soll?“ fragte eines Tages Berry seinen Schützling, der eben mit dem Einsetzen der letzten Schrauben beschäftigt war.

Blitzartig kam diesem ein Gedanke, der Taufname lag ihm auf den Lippen – doch er wagte nicht, ihn auszusprechen.

„‚Berry‘ – nach dem System selbst, denke ich,“ sagte er dann zögernd, mit gerunzelter Stirn weiter arbeitend.

Berry erröthete leise, er glaubte einen leisen Spott herauszuhören. „Was meinen Sie zu ‚Claire‘, Davis?“ fragte er langsam.

Da sprang Hans aus seiner knieenden Stellung auf, hob hoch den Hammer und ließ ihn dröhnend auf den Kessel fallen. „Claire!“ rief er jubelnd – er selbst taufte die Maschine.

„Ei, da scheine ich ja Ihren Herzenswunsch erfüllt zu haben! Nun wohl, Sie haben entschieden dabei mitzureden. So dampfe sie denn als ‚Claire‘ durch die Welt, der Name wird ihr hoffentlich Glück bringen, und meine Tochter kann stolz darauf sein. Sorgen Sie jetzt nur, daß sie mir keine Schande macht, die neue ‚Claire‘! Und passen Sie auf die Röhrenlager recht auf! Der geringste Fehler wird natürlich dem neuen System zugeschrieben, wenn er auch ganz wo anders liegt, darauf müssen wir uns schon gefaßt machen; meine Herren Ingenieure hätten einen Mordsspaß, wenn alles schief ginge und die ‚Claire‘ sich gründlich blamierte!“

„Das wird sie nicht, verlassen Sie sich darauf, das wird sie nicht!“ Mit Feuereifer ging Hans von neuem ans Werk, so daß ihm der Schweiß in großen Tropfen von der Stirn perlte.


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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 19, S. 581–588
[581]
8.

Die Werke ruhten; über den geschwärzten Dächern flatterten Fahnen in der milden klaren Frühlingsluft als Wahrzeichen fröhlichen Lebens; sonst hätte man fast vermuthen können, der Tod sei eingezogen in diese langgestreckten Hallen, Schuppen und Höfe, in die schweigenden Kamine. Er stand ihnen nicht gut an, dieser Schlummer, man erwartete unwillkürlich ein plötzliches jähes Auferstehen wie aus einer künstlichen Betäubung. Selbst das Kindergeschrei im Arbeiterviertel war verstummt, das Gelächter der Frauen, als fürchteten sich alle vor dieser ungewohnten Stille, die jeden Laut, jedes Wort verrieth. Da und dort bildeten sich Gruppen von Männern, die erwartungsvoll nach den Fabrikgebäuden hinüberblickten. Von der Villa Berrys her ertönte Wagengerassel, eine Reihe von Equipagen fuhr den Stallungen zu. Da verkündete die Fabrikuhr die neunte Morgenstunde – sonst hörte man sie kaum, heute prahlte sie mit ihrer rauhen Stimme. Beim letzten Schlage schoß aus dem geöffneten Glasdach des Maschinenhauses eine silbergraue Dampfwolke schnurgerade in die Höhe; alles schaute ihr nach, wie sie langsam in der [582] Luft zerfloß. Eine zweite folgte, eine dritte – gewaltige Athemzüge tönten herüber.

Die Gruppen wurden lebendig, vergrößerten, sammelten sich. Eine Schar Jungen mit wehenden Fahnen kam gezogen, Kommandoworte ertönten, Glieder bildeten sich, und, die Jungen voraus, ging es in langgestrecktem Zuge dem Maschinenhaus zu; Frauen und Kinder bildeten den schwärmenden Troß.

Im Maschinenhaus, dicht hinter dem weitgeöffneten Portal, aus dem ein Schienenstrang durch den Hof, an der Villa Berrys vorbei, in weitem Bogen um die Werke herumführte, stand die „Claire“, den blitzenden funkelnden Leib mit Tannenreis geschmückt, vorn an der breiten Brust in glänzenden Lettern den mit Lorbeer umkränzten Namen. Förmlich ungeduldig schien sie des Zeichens zu warten, um zum ersten Male ihre stolzen Glieder zu recken, der Welt sich zu zeigen. Ein leichtes Beben durchlief den blanken Körper, sie holte immer tiefer Athem. Gespannt beugte sich der Führer hinaus, um das festgesetzte Signal von der Villa her sofort mit der That beantworten zu können und abzufahren. Neben ihm stand Hans Davis, der Monteur. Herr Berry hatte es ausdrücklich so angeordnet. Der angekuppelte Tender war dicht besetzt mit den Werkführern und Arbeitern, die beim Baue beschäftigt gewesen waren. Bei allen herrschte die höchste Spannung, forschend glitten die Blicke über das blitzende Triebwerk hin, das in seiner äußeren Form wenig abzuweichen schien von dem anderer Maschinen; nur der zierliche, trotz seiner gewaltigen Masse den Eindruck des Leichten hervorrufende Bau des Ganzen fiel sofort in die Augen.

Inmitten der allgemeinen Unruhe stand Hans scheinbar unbewegt, aber in ihm stürmte und wogte es, und eine fliegende Röthe, die von Zeit zu Zeit über sein Gesicht zog, konnte seine Erregung verrathen. Mit sehnsüchtigen Blicken schaute er den Schienenstrang entlang – wenige Minuten noch und sein Traum war erfüllt! Gestern nacht, hinter einem der mächtigen Bäume verborgen, hatte er den Wagen anfahren sehen, der sie brachte, hatte einen Augenblick sie selbst geschaut – ihre hohe Gestalt, den Goldschein ihres Haares, und mit süßem Schauer war er sich deutlicher als je bewußt geworden, daß Claire ihm nicht mehr die Jugendfreundin war, die Herrin, deren geduldiger Sklave er einst gewesen, sondern die Geliebte, Heißbegehrte, der Inhalt, der Preis seines ganzen Lebens, um den er ringen mußte mit all seinen Kräften. Da ertönte ein Böllerschuß, hoch über den Gebäuden schoß an hohem Maste eine Flagge empor – ein Griff des Führers der Maschine, ein geller Pfiff wie ein mächtiger erster Lebensschrei, und in weiße Dampfwolken wie in einen Brautschleier gehüllt, glitt die „Claire“ zur Halle hinaus, begrüßt von einem donnernden „Hurra“ der Arbeiter. Und sie schien den Zuruf zu verstehen, das Kolbengestänge blitzte in hastigem Schwunge, mit jugendlicher Schnellkraft kreisten die Räder. Elastisch, fast ohne Erschütterung fuhr die Maschine dahin. Im Nu stand sie dann unter vollem Dampfe und stürmte durch den Hof, an den Hallen vorbei.

Hans hielt sich mit der Hand an der Eisenstange der Brüstung; den Körper weit hinausgebeugt, horchte er auf den Pulsschlag der „Claire“, sein Blick schien ihre äußere Hülle durchdringen und ihr bis ins Herz sehen zu wollen. Da nahm sie wie eine Schlange geschmeidig eine enge Knrve.

Lauter Zuruf erscholl von ferne. Er schaute auf; von einer kleinen fahnengeschmückten Erhöhung herab winkten weiße Tücher, grellfarbige Schirme, Hüte. Seine Hand krampfte sich um die Eisenstange – tausend Gedanken, Erinnerungen kreuzten sich blitzartig in seinem Gehirn. „Schwing’ Dich empor, so hoch Du kannst!“ klang es, alles übertönend.

Nun schieden sich die Farben; eine große Gesellschaft stand auf der Tribüne, vorn an der Brüstung eine Dame, ein weißes Tuch schwingend – Claire! Und jetzt warf der Führer einen scharfen Blick durch die runde Scheibe neben seinem Platze – es galt die „Claire“ tadellos vorzuführen wie ein edles Rennpferd. Ein Ruck und mächtig griff die Bremse ein, mitten im Laufe hielt die Maschine, zischend den Dampf ausstoßend, der sie einen Augenblick fast verhüllte. Dann zerriß der Schleier; von der Tribüne herab schritt Claire, an der Hand ihres Vaters, begleitet von Herren und Damen. Vor der Lokomotive blieb sie stehen. „Glück auf, ‚Claire‘, gute Fahrt allweg!“ rief sie mit lauter Stimme und reichte einen Kranz aus weißen Kamelien hinauf. Hans griff danach, auch ihre Hand hielt noch den Kranz, der so eine duftige Brücke zwischen ihnen bildete. Mit flammendem Blicke sah Hans zu ihr nieder, und erröthend senkte sie eine Sekunde lang das Haupt. Dann hob sie wieder ihr Auge, das nun an der männlichen Erscheinung ihres Jugendgespielen haften blieb.

„Herr Davis hat sich redlich bemüht um diesen Täufling und steht ihm näher, als Du glaubst,“ sagte Herr Berry, die Erregung der beiden ahnend und ablenkend.

Claire ließ den Kranz los. Hans schwang sich hinauf und befestigte ihn über dem glänzenden Namen vorn am Kessel.

Da begann die Musik – die Arbeiter hatten sich in der Nähe gesammelt. Herr Berry trat zu ihnen und hielt eine Ansprache, nicht in dem geschäftsmäßigen Stil von sonst, ein höherer Schwung beseelte sie heute. Er dankte allen, die mitgewirkt hatten an dem Werke, für ihre redliche Pflichterfüllung und drückte die Hoffnung aus, daß die „Claire“ dem Hause Berry zur Ehre gereichen werde. Plötzlich machte er eine Pause. Sein Blick ruhte auf Hans, der noch immer auf der Maschine stand. Ein innerer Kampf spiegelte sich in den erregten eisernen Zügen des Fabrikherrn. „Noch habe ich eine Pflicht zu erfüllen,“ fuhr er dann fort, „den Namen eines Mannes, eines Arbeiters habe ich zu nennen, der eng verbunden ist mit diesem neuen Werke, in dem der Gedanke zu dem neuen vielversprechenden System, dessen erste Vertreterin die ‚Claire‘ ist, geboren wurde – denn ich schäme mich nicht, zu gestehen, daß nur die praktische Verwerthung dieser Idee mein Eigenthum ist. Hans Davis, mein Monteur, ist der eigentliche Erfinder! Kommen Sie nur herab, Davis, und genießen Sie die Ehre, die Ihnen zukommt – stimmen Sie ein mit uns in den Ruf: ‚Es lebe die Arbeit für und für!‘ und brausend erschallten die Zurufe.

Hans war aschfahl geworden; er konnte sich kaum noch aufrecht halten und bedurfte der hilfreichen Hand Berrys, um herunterzukommen. Alles tanzte vor seinen Augen in wildem Reigen, nur Claire sah er deutlich; ihr Blick war auf ihn gerichtet.

Der Kommerzienrath stellte ihn seinen Gästen vor, dem Eisenbahnminister, der zur Verherrlichung dieses industriellen Festes in eigener Person erschienen war, seinen Kollegen die von weit und breit gekommen waren. Neugierig betrachtete man den Helden des Tages; gnädige Herablassung mischte sich mit erzwungener Achtung vor dem Genie und der Thatkraft dieses Jünglings, mit dem Neide über den kostbaren Besitz Berrys. Die Geschichte seines Lebens ging in kurzen Umrissen von Mund zu Mund, und ihre Romantik erhöhte noch die allgemeine Antheilnahme.

Den Damen entging über dem allem nicht die männliche Kraft des jungen Mannes, welche in dieser höchsten seelischen Erregung voll zur Geltung kam.

Nur Frau Berry und Otto blieben kalt abseits; ihre abfälligen Mienen sagten deutlich, daß nach ihrer Ansicht Papa einen großen Fehler begangen habe.

Hans hörte nur die Hälfte der Lobsprüche, die ihn umschwirrten; sein einziger Gedanke war: was wird Claire mir sagen? Diese hatte sich in den Hintergrund zurückgezogen und beobachtete ihn durch ihr Augenglas. Das verwirrte, schmerzte ihn – eine geringschätzige Neugierde, etwas Hochmüthiges lag in der ganzen Bewegung. Dieses Glas schien ihm eine beabsichtigte Scheidewand; Claire besaß ein so gutes scharfes Auge, und eben noch hatte es so klar, so voll Kindlichkeit ihn angeblickt wie einst!

Jetzt klappte die junge Dame ihre Lorgnette zu und trat heran. Ein hellgraues Kleid hob durch seinen einfachen Schnitt ihre edlen Formen; das Haar erglänzte röthlich wie Gold unter dem grauen Hütchen. Die Züge des Antlitzes hatten sich verfeinert, aber der kindliche Ausdruck war daraus geschwunden, und trotz des jugendlichen Inkarnats zeigten sie eine gewisse kränkliche Schlaffheit, an der allerdings die Anstrengung der Reise schuld sein mochte. Der schelmische Blick von einst war noch da, aber nicht mehr so unbewußt wie früher; er schien jetzt ganz in ihrer Gewalt zu sein. Für einige Sekunden ließ sie demselben freie Bahn, während sie sich näherte, dann war es, als ob sie wieder durch das Glas blicke – so kalt und tot schaute sie Hans an. Sie reichte ihm die behandschuhte Rechte. „Ich freue mich, gerade zu Ihrem Ehrentag gekommen zu sein, Herr Davis, und gratuliere Ihnen von Herzen. Sie sind ein Glückskind – Sie haben einen hohen Weg genommen!“

[583] Hans durchzuckten die Worte wie ein Feuerstrahl. Er preßte die kleine Hand und ließ sie nicht los. „Ich stieg, so hoch ich konnte,“ sagte er leise, das Auge fest auf sie gerichtet.

„So hoch Sie konnten, kein Zweifel, Herr Davis! Und ich als die Tochter meines Vaters zolle Ihnen dafür alle Anerkennung.“ Sie zog rasch die kleine Hand aus seiner Faust und hielt wieder das schützende Glas vor die Augen. „Wollen Sie die Güte haben und mir die guten Eigenschaften meines Täuflings auch erklären?“ setzte sie dann in leichtem Tone hinzu, als Hans stumm zurücktrat.

Sie näherte sich der Maschine, welche jetzt von der ganzen Gesellschaft umdrängt wurde.

Hans glaubte deutlich zu erkennen, daß trotz allem, was er gethan und errungen hatte, die Kluft zwischen Claire und ihm nicht kleiner geworden war, ja daß Claire gar nicht wünschte, sie zu überbrücken. Er wunderte sich nur, jetzt den Schmerz nicht zu empfinden, der in bangen Stunden bei dem Gedanken an diese Möglichkeit sein Herz bestürmt hatte. Ihn durchströmte vielmehr ein Kraftgefühl, wie er es ihr gegenüber noch nie empfunden. Nun galt’s, ihr die Ketten anzulegen, die er bis jetzt getragen. Sein männliches Bewußtsein flammte auf, die kindische sklavische Verehrung von einst mußte sterben, wenn sich aus ihrer Asche die echte, eines Mannes und eines Weibes würdige Liebe erheben sollte.

So folgte er der voranschreitenden Claire mit aller Ruhe und erklärte ihr die Konstruktion der Maschine so kühl und nüchtern, als hätte zwischen ihnen nie ein tieferes Gefühl gewaltet.

Herr Berry lud seine Gäste ein, auf dem Tender Platz zu nehmen und die Rundfahrt um die Fabrik mitzumachen.

Unter Vorantritt Claires stieg man hinauf, Berry selbst trat mit Hans auf die Maschine. Nur Otto und Frau Berry dankten für das Vergnügen und gingen in eifrigem Gespräch voraus, der Villa zu.

Claire war sehr in Anspruch genommen; man vergaß die Fahrt über dem Bemühen, der reizenden Dame den Hof zu machen. Für Hans hatte sie keinen Blick mehr.

Es war für den Kommerzienrath der glücklichste Tag seines Lebens, der Ehrentag seines industriellen Schaffens, der ihm zugleich seine geliebte, lang entbehrte Claire in blühendster Schönheit wiedergebracht hatte. O, wenn er den Tag festhalten könnte! Aber der rollt dahin, rastlos und unaufhaltsam gleich dieser Maschine, tausend andere folgen ihm nach, und dann – dann kommt ein anderer Tag, wo er nicht mehr sein wird, wo alles, was er geschaffen hat, verwaist stehen, verkauft, in totes Geld verwandelt werden wird. So mußte es gehen, wenn nicht etwa Claire dies Erbe antrat – aber dazu gehörte eben ein Mann, ein Mann der Arbeit. Sein Blick blieb unwillkürlich auf Hans haften und schweifte von da zu Claire hinüber, ein Gedanke, der wohl schon oft in ihm aufgestiegen war, den er jedoch intmer wieder zurückgedrängt hatte, gewann an Raum, und der Zweifel regte sich in ihm, ob er recht gethan habe, seine Tochter nach Paris zu senden. –

Nach beendeter Rundfahrt begaben sich die Herrschaften auf den Festplatz der Arbeiter, wo für Trank, Speise, Lustbarkeit aller Art gesorgt war. Berry mischte sich mitten unter die Leute und fühlte sich zu seinem Erstaunen wohl unter ihnen; es war ihm, als habe er etwas gut zu machen, als müsse er noch zur rechten Zeit des Schicksals drohende Rache für lang aufgehäuftes Unrecht versöhnen.

In der Villa harrte ein glänzendes Mahl der Gäste und Beamten der Fabrik. Hans Davis war von Berry dazu eingeladen. Der junge Mann mit den breiten Schultern, den muskulösen arbeitsharten Händen und dem intelligenten charaktervollen Gesicht erregte die allgemeinste Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte man in ihm, dem diese außergewöhnliche Erfindung in so jugendlichem Alter, ohne höhere technische Bildung gelungen war, eine jener genialen Naturen vor sich, wie sie von Zeit zu Zeit urplötzlich aus dem Dunkel des Volksschoßes auftauchen und mit einer Art überirdischen Schauens allen mühsamen Fortschritt der Wissenschaft leicht und sicher überflügeln. Außerdem bot sich da eine ungefährliche Gelegenheit, seine liberale Gesinnung zu zeigen, seine Achtung vor dem sich emporschwingenden Arbeiter. Sogar der Minister und seine hohen Beamten wandten sich huldvoll an Hans.

Trotz dieser fortgesetzten Inanspruchnahme entging dem Gefeierten keine Bewegung, kein Blick Claires, die ihm schräg gegenüber saß und die einzige Dame war, welche nie ein Wort an ihn richtete. Er sah eine Absichtlichkeit darin, und obgleich ganz unerfahren in den wechselnden Stimmungen der weiblichen Natur, glaubte er doch eben hinter dieser scheinbaren Mißachtung seiner Person eine ständige Beschäftigung ihres Geistes mit ihm selbst zu erkennen; einige Streifblicke, die offenbar nicht dazu bestimmt waren, von ihm bemerkt zu werden, bestärkten ihn in seiner Annahme. Das Vorpostengefecht des künftigen unerbittlichen Kampfes hatte also begonnen. Claire schien sich alle Mühe zu geben, die Aufmerksamkeit der Tischrunde von Hans ab auf sich zu lenken; sie erzählte lebhaft und witzig von Paris, von ihren gesellschaftlichen Genüssen dort, schwärmte mit einer auffälligen Absichtlichkeit von dem feinen Geschmack in französischer Kunst und Litteratur, von der Strenge der Gesellschaft in der Auswahl ihres Verkehrs, spottete über deutsche Sentimentalität und Schwerfälligkeit. Aber so sehr sie sich bestrebte, die Unterhaltung an sich zu reißen – Hans war und blieb entschieden der stärkere Anziehungspunkt besonders für die übrigen Damen, die den „interessanten Erfinder“ immer wieder ins Gespräch zogen. Zum ersten Male in seinem Leben sah sich dieser in solcher Weise bevorzugt, und er hätte nicht ein junger Mann sein müssen, wenn ihn das nicht berauscht hätte: selbst Claire trat bei ihm für den Augenblick in den Hintergrund. Und er verstand es so gut, die Gesellschaft zu fesseln, „mit angeborener Unverschämtheit die kleine Bresche auszunützen, welche Papa unvorsichtigerweise ihm geöffnet“, wie sich Otto entrüstet ausdrückte. Claire sah sich nach aufgehobener Tafel geradezu auf ihren Bruder und einige ältere Herren angewiesen. Eine Zeitlang schaute sie mit einer Art inneren Grimmes zu. Wie konnte dieser Mensch, der ihr alles zu danken hatte, der ihr Geschöpf war, auf so beleidigende Weise sie völlig übersehen? Glaubte er am Ende, die Freundschaft ihres Vaters löse die Kette, die ihn an sie band? O, er sollte fühlen, daß die Fessel noch nicht gefallen war; gerade jetzt, wo er frei zu sein meinte, sollte er tiefer als je der alten Herrschaft sich beugen müssen! Sie wollte geduldig warten, bis er sich zu ihr wandte, dann aber alles aufbieten um ihn wieder unter ihren Einfluß zu zwingen.

Claire mußte sich lange gedulden; endlich trat Hans zu ihr. Sie kam seiner Anrede zuvor.

„Sie sind ja sehr galant geworden in den letzten Jahren, Herr Davis!“ sagte sie, mit dem Fächer nervös auf die Marmorplatte eines Tischchens klopfend. „Das machen wohl die Erfindungen?“

„Man hat in meiner Stellung wenig Gelegenheit, Galanterie zu lernen, Fräulein Claire!“

„Und wohl auch keine Zeit, kindische Erinnerungen zu bewahren? Aber natürlich, Sie haben etwas erreicht, werden mit Ihrem Talent und Ihrer Energie noch mehr erreichen, Sie brauchen keine Beschützerin mehr – – also fort mit den unbequemen Erinnerungen – nicht wahr?“

„Sie sind ungerecht, Fräulein Claire, und Sie wissen, daß Sie es sind – Sie wissen, daß ich nie vergessen werde, wie Sie für mein Leben alles wurden, der rettende Engel, der Geius, der mich zu dem begeisterte, was ich erreicht habe!“

Diese Worte, aus denen sein volles Herz sprach, verfehlten bei Claire ihre Wirkung nicht. Die ganze Vergangenheit trat in diesem Augenblick an sie heran, von jenem ersten Weihnachtsabend an bis zu dem stürmischen Abschied am Abend vor ihrer Abreise. Ihre letzten Worte damals waren es also gewesen, was ihn über seine Sphäre hinausgehoben, zum Erfinder gemacht hatte! Das schmeichelte ihrem weiblichen Stolze. Was waren dieser That gegenüber die faden Huldigungen in schöngedrechselten Worten, die sie in Paris genossen hatte, die sie wohl auch hier genießen würde? Schöpferisch zu wirken in einem groß angelegten Geiste, dessen anfeuernde Macht zu sein, war das nicht mehr als alle gesellschaftlichen Erfolge? So klangen ihre Worte nicht mehr spöttisch, sondern nur vorwurfsvoll, als sie erwiderte. „Ich glaube Ihnen, Hans! Aber wie können Sie am ersten Tage so rücksichtslos sein und mich derart vernachlässigen? O, bis ich dieses harte rauhe verletzende Wesen hier wieder gewohnt sein werde! Sie glauben nicht, wie mir das weh thut! Meine Nerven sind nun einmal nicht aus Stahl und Eisen wie die Ihrer ‚Claire‘.“

Hans war empört über sich selbst. Wie war es nur möglich, daß er sich so benommen, daß er Claire über den anderen nur eine Sekunde hatte vergessen können!

[586] „Claire – Fräulein Claire wollt’ ich sagen, verzeihen Sie mir! Ich bin rücksichtslos gewesen, ich fühle es, aber sehen Sie, ich weiß ja selbst nicht, wie das so kam. Für einen einzigen freundlichen Blick, für einen Druck Ihrer Hand würde ich ja durchs Feuer gehen!"

Claire vergaß das Spiel mit ihrem Fächer, den Kopf halb auf die Brust geneigt, blickte sie erröthend Hans an, dessen Züge von edler Gluth durchleuchtet waren. Fast verlegen reichte sie ihm die Hand. „Ich danke Ihnen, Hans – aber nicht wahr, mich nicht mehr vergessen über den anderen! Ich habe es nicht um Sie verdient.“

Hans war es, als müßte er die kleine Hand, die fast verschwand in seiner derben Arbeitsfaust, vor Seligkeit zerdrücken. „Ich will sterben für Sie, Claire!" kam es leidenschaftlich von seinen Lippen.

Claire lachte nicht über diese schwärmerischen Worte, die ihr aus dem Munde jedes anderen ungeheuer komisch vorgekommen wären, und überließ dem jungen Manne willig ihre Hand, als er sie mit einer ungestümen Bewegung an die Lippen führte.

In diesem Augenblick hatte sich Otto den beiden genähert. Er hatte die Schwester scharf beobachtet; ihre Unterredung mit diesem Davis hatte ihm zu lange gedauert, und nun kam er gerade recht, um die letzten Worte zu hören und den Handkuß zu sehen. Aus dem Gesicht Claires erkannte er auch deren völliges Einverständniß mit dieser Huldigung. Das reizte ihn nur noch mehr.

„Herr Davis,“ rief er spöttisch, „Sie machen ja erstaunliche Fortschritte als Salonheld! Sagen Sie mir einmal, guter Mann, woher nehmen Sie denn eigentlich dieses – na, sagen wir – Selbstvertrauen zu Ihrem Auftreten bei uns her?“

„Aus dem Bewußtsein, dasselbe Recht dazu zu haben wie jeder andere ehrenhafte Mann, der hier verkehrt,“ entgegnete Hans in festem Tone, „ja vielleicht besitze ich noch ein größeres Recht.“

Claire zuckte zusammen, eine Falte erschien auf ihrer klaren Stirn.

„Ah – das wird interessant! Inwiefern denn noch ein größeres Recht?“ fragte Otto mit einem Blicke auf die Schwester. „Sie meinen wohl als Miterfinder des neuen Systems?“

„Daran dachte ich nicht; nein, als – der von Ihrem Herrn Vater von der Straße aufgehobene Hans Davis. Es giebt Wohlthaten, die Verpflichtungen nach sich ziehen auch für den Wohlthäter!“

„Wie, Sie philosophieren auch in Ihren freien Stunden? Also Universalgenie! Nützt Ihnen aber alles nichts. Für meine Schwester und mich bleiben Sie doch das Hänschen von damals – Sie wissen schon, das mit der blauen Zipfelmütze.“ Lachend drehte er sich um und entfernte sich.

Ein Zittern lief durch den Körper des auf so rohe Weise Beleidigten, seine Muskeln spannten sich, und er machte eine Bewegung, als wollte er dem Fortgehenden nachstürzen. Da legte sich eine Hand mit sanftem Drucke auf seinen Arm.

„Begehen Sie keine Thorheit, Hans!“ mahnte Claire. „Sie dürfen überzeugt sein, daß mein Bruder sehr gegen meinen Willen mich zum Zeugen für seine Meinung aufgerufen hat. Daß ich Sie mit anderen Augen ansehe, Ihren Werth anders bemesse, das muß in Ihnen unerschütterlich feststehen nach allem, was voranging.“

„Ich danke Ihnen,“ erwiderte Hans und begab sich mit mühsam beherrschter Aufregung zur Gesellschaft zurück. Er fürchtete mit Recht, daß seine lange Unterhaltung mit der Tochter des Hauses aufgefallen sein könnte.

Herr Berry hatte das vertrauliche Gespräch, die starke Gemüthsbewegung der beiden wohl bemerkt, aber ohne sich entschließen zu können, sie zu stören.

Nachdem Otto es abgelehnt hatte, sein Lebenswerk fortzusetzen, galt es, Claire dafür zu gewinnen; daß ihm dabei seine Gattin und sein Sohn entgegenarbeiten würden, wußte er. Davis dagegen konnte ihm ein erwünschter Bundesgenosse werden – vielleicht aber auch ein gefährlicher! Claire war zwar fast ebenso alt wie ihr einstiger Spielgenosse, sie war stolz geworden in Paris, verwöhnt, offenbar regte sich auch in ihr das aristokratische Blut der Mutter. Aber Davis war ihr Jugendfreund, Dankbarkeit und Zuneigung fesselten ihn an sie, er war zudem von einnehmendem Aeußeren, durch Geist und Willenskraft hoch hinausgehoben über seinen Stand – wie leicht konnte sich da trotz aller Hindernisse eine unbesiegliche Leidenschaft in seiner Tochter entwickeln! Und was sollte dann werden? War das denkbar – Davis, der Sohn eines verkommenen Arbeiters, welcher jeden Augenblick wieder auf der Bildfläche erscheinen konnte, und die Tochter des Kommerzienraths Berry? Aber war denn Hans überhaupt nur der Sohn seines Vaters? Davis, der berühmte Techniker, die Zukunft der Berryschen Werke, die unter seiner Leitung den Weltmarkt beherrschen würden – warum nicht so? – –

Abends war auf dem beleuchteten Festplatz Arbeiterball, zu welchem sich auch die eingeladenen Gäste einfanden. Die Frau des Hauses eröffnete denselben auf den bestimmten Wunsch ihres Mannes durch einen Tanz mit dem ersten Direktor, ihr folgte Claire mit Hans Davis, der nun einmal der Held des Tages war. Rings um den Festplatz her lagen die schweigenden Werkstätten und bildeten zu der bunten Beleuchtung, dem wehenden Fahnenschmuck und den Klängen der Musik, in die sich die Jubelrufe der Menge mischten, einen sonderbaren Gegensatz, der aber die Festfreude der Arbeiter nicht zu stören schien. Es war, als sei alle Noth, aller Schweiß, alles Murren vergessen, als sei hier wenigstens Kapital und Arbeit versöhnt.

Nach dem ersten Rundtanz unter den blühenden Kastanien sausten Raketen gegen den Nachthimmel, ein bunter Regen von Leuchtkugeln schwebte empor, Feuerräder drehten sich sprühend, der Name „Berry" erschien, von Strahlen umgeben, flammend in der Luft, während zugleich die neue Maschine bengalisch beleuchtet wurde.

Ein Hurra für Berry brauste aus tausend Kehlen durch die Nacht. „Hurra für ‚Claire‘, Hurra für Hans Davis!“ rief eine Stimme, kaum daß der erste Ruf verklungen war, und aufs neue fielen die Arbeiter ein, in dem Kameraden sich selber ehrend.

Hans hatte noch immer Claire am Arme, als mitten in das Geknatter des Feuerwerks hinein ihre beiden Namen brausend erschallten und gleichsam ineinanderflossen. Da blickte unwillkürlich alles auf das schöne Paar, und sie selbst zuckten zusammen, mächtig ergriffen von einem ahnungsvollen Gefühl, das für Hans eine berauschende Verheißung war, für Claire ein Räthsel, an dessen Lösung sie sich nicht wagte. Schweigend zog sie ihren Arm aus dem seinigen; sie fühle sich müde und möchte sich ausruhen, erklärte sie. Förmlicher als je trennten sie sich.

Hans hielt es jetzt nicht mehr aus auf dem Festplatz, der Lärm that ihm weh;^ müde von den hunderterlei Eindrücken des Tages begab er sich auf seine Stube. Eine Zeitung lag auf seinem Tische. „Ein Festtag bei Berry“ las er als Ueberschrift eines Artikels; mitten drin leuchtete sein Name gesperrt gedruckt. Die geheimnißvolle Kraft des gedruckten Wortes wirkte auf ihn, er las mit klopfendem Herzen den Bericht über die Vorgänge des Morgens, die Worte, die Berry dabei gesprochen hatte. Und die ganze Stadt wird es jetzt mit ihm lesen, Tausende werden bewundernd den Namen „Davis“ aussprechen! Die Wonne befriedigten Ehrgeizes schwellte seine Brust. Sein Stern stand hoch, strahlend leuchtete sein Ziel – Claire!

Schon wollte er das Blatt weglegen, da sah er dicht unter dem Artikel einen anderen Namen gesperrt gedruckt – „Holzmann“. Hastig überflog er die Zeilen, die vor seinen Augen zu schwanken begannen.

„Gestern Nacht fand ein verwegener Einbruchsversuch in dem Juwelengeschäft von Somatsch statt. Die Diebe drangen von der Straße her durch den infolge der Kanalisationsarbeit offenen Abzugsgraben in das Haus, den Boden des Verkaufslokales durchbrechend. Glücklicherweise hörte ein vorbeikommender Schutzmann den verdächtigen Lärm und störte die Einbrecher in ihrem sauberen Handwerk. Einer derselben, ein schon oft bestraftes Individuum Namens Holzmann wurde im Kanal selbst wie in einer Falle gefangen; sein Genosse ist leider entkommen!“

„Sein Genosse ist leider entkommen!“ Auf dieser Zeile blieb der starre Blick von Hans haften. Er sah das Gaunergesicht dieses Holzmann deutlich vor sich, hörte sein teuflisches Flüstern – sein Genosse horcht darauf wie gebannt, dann schlägt er ein. „Sei es, ich thu’ mit! Die Wagen der Reichen sollen mir nicht länger über dem Kopfe wegrollen, während ich in dem Schmutze da unten verkomme – bin doch begierig, wie das [587] Reichsein schmeckt! Ans Werk also!“ Und dieser Genosse war Jakob Davis – mit unwiderstehlicher Gewißheit drängte sich Hans diese Ahnung auf. Wo mochte er sein, der Vater? Wohl war er entkommen, aber was konnte ihm das nützen! Holzmann wird ihn sicher verrathen, dann war er bald aus seinem Versteck aufgestöbert, und der Name Davis, der heute in dem Glanze des Erfinderruhms strahlte, war der Schmach preisgegeben.

Vom Festplatz her klang die frohe Musik, das Jauchzen der übermüthigen Menge, während Hans verzweifelnd in seinem engen Stübchen auf und ab schritt und ohnmächtig wüthete gegen das grausame Spiel des Schicksals, das ihm die lastenden Ketten immer nur abnahm, um ihn, der kaum der Freiheit froh geworden, desto grausamer damit zu fesseln.


9.

Die Hoffnung Ottos, daß sich die gesellschaftlichen Verhältnisse seines Elternhauses nach der Rückkehr der Schwester rasch verändern würden, hatte sich erfüllt. Berry war selbst zu stolz auf sein blühendes geistvolles Kind, als daß er nicht die Pforten seines Hauses weit geäffnet hätte. Und alles strömte herbei, was immer durch Reichthum und Schönheit angelockt wurde. .

Claire, die reiche schöne Erbin, stand im Mittelpunkt des hauptstädtischen Interesses. Tausend neue Hoffnungsstrahlen zuckten im Herzen der Mütter auf, die sich des Besitzes stattlicher Söhne rühmten. Ehrwürdige, aber abgenutzte und verblichene Wappenschilder rasselten wohl in der Geisterstunde vor freudiger Ahnung. Die Männerwelt rüstete sich denn auch nach Gebühr zu dem Wettkampf, der hier entbrennen mußte.

Claire war in Paris eine Verehrerin der Kunst geworden, vor allem der dramatischen; es war ein Leichtes, die Größen der Hauptstadt auf diesem Gebiet in das gastfreundliche Haus zu ziehen. Die Offiziere und der hohe Adel fanden sich von selbst ein, Otto brauchte sich um sie gar nicht erst zu bemühen. Die Witterung von dem Edelwild, das hier gejagt wurde, war Lockung genug. So konnte es denn nicht fehlen, daß die Abende bei Berrys in kürzester Frist einen ausgezeichneten Ruf erhielten, und nach einem halben Jahre gehörte es zum guten Tone, dort gewesen zu sein.

Der Kommerzienrath fühlte sich nichts weniger als wohl bei dieser Entwicklung der Dinge, die ihm über den Kopf gewachsen war. Die ihm verwandten, sympathischen Elemente wurden mehr und mehr verdrängt, und in den neuen Kreisen, die sich um ihn her sammelten, fühlte er sich nicht heimisch. Der ganze Ton der Unterhaltung behagte ihm nicht, alles schien ihm Geflunker – Redensarten und gewandte Manieren mußten die innere Hohlheit verdecken. Oft floh er mitten aus der glänzenden Gesellschaft hinüber in die Werkstätten und athmete dort mit Wonne die rauchgeschwängerte Luft.

Außerdem wußte er, warum sie kamen, die jungen Herren – Claire war der Magnet, und vielleicht war der Räuber seines besten Kleinods schon unter diesen würdigen Genossen seines Sohnes, die nur genießen wollten, denen die ganze rührige segensvolle Welt, welche hier geschaffen worden, nur eine tote Sache war, die vernünftigerweise möglichst rasch in Geld umgesetzt werden müßte. Und der Weg dazu hieß für sie „Claire“. Wenn solche Gedanken in Berry aufstiegen, dann hielt er mit angstvollem Blicke Musterung. Die Künstler fürchtete er nicht, denen war es mehr um angenehme Gefälligkeit und schöne Frauenköpfe zu thun; sein Feind war viel eher unter dem Adel, in der Uniform zu suchen. Ein glänzender Name, vornehmes Aeußere, gewandte Formen – das waren ja in den Augen eines jungen Mädchens gefährliche Vorzüge. Und bald glaubte Berry den Gesuchten entdeckt zu haben in einem Grafen Maltiz, einem Regimentskameraden seines Sohnes.

In so unauffälliger Weise Claire ihn auch bevorzugte, dem Vaterauge entging es nicht. Der Kommerzienrath beobachtete scharf den jungen Mann. Dieser besaß eine Art männlicher Liebenswürdigkeit, der man sich nicht leicht entziehen konnte, und, was Berry für ihn einnahm, er zeigte wirkliches Interesse auch für das praktische Leben, für die Industrie. Schon einige Male hatte Berry mit ihm die Werke besichtigt und dabei lebhaftes Verständniß gefunden; sein Vater war Besitzer von Eisengruben und Hüttenwerken in Schlesien, das war eine Verbindungsbrücke mehr.

Berrys Urtheil über den Grafen begann unter diesen Umständen allmählich ein besseres zu werden. Da präsentierte man ihm eines Tages wieder einmal einen Schuldschein Ottos. Für gewöhnlich ärgerte er sich nicht mehr über solche Erfahrungen und brachte die Sache, wenn die Summe nicht zu hoch war, schweigend in Ordnung. Aber diesmal stand unter dem Namen seines Sohnes der des Grafen Maltiz als des Bürgen, das schmerzte ihn tief. Die festen Grundsätze, die Maltiz vor ihm stets im Munde führte, gehörten wohl auch zu den Salonlügen, sein Interesse für die Industrie war erheuchelt, vielleicht von Otto eingegeben, der seines Vaters schwache Seite kannte! Von diesem Augenblick an war ihm der Graf zuwider, und er überlegte, wie er der von dieser Seite drohenden Gefahr begegnen könnte.

Unwillkürlich stieß er dabei in seinem Gedankengang immer wieder auf Hans Davis. Nach dem Rathe eines sachverständigen Freundes ließ er ihn auf einige Zeit zu weiterer Ausbildung die technische Hochschule besuchen. Er sah in ihm schon den künftigen Direktor seiner Werke, ja er dachte bereits weiter. Warum sollte der geniale junge Mann nicht der einstige Besitzer sein? Allerdiugs, er war der Sohn eines Arbeiters, eines heruntergekommenen Menschen, aber Geist und Charakter deckten ja heutzutage jeden Makel der Geburt. Der Vater konnte, wenn er je wieder auftauchen sollte, gegen eine Abfindungssumme für immer entfernt werden. Und auch Claire schien dem jungen Freunde eine lebhafte Theilnahme entgegenzubringen, die vielleicht nur der Ermunterung bedurfte, um zum tieferen Gefühl zu werden. Ja, oft war es dem beobachtenden Vater, als sei eine solche Ermunterung gar nicht mehr nöthig, als stürze sich Claire nur deshalb in den Strudel der Geselligkeit, um sich zu betäuben, um den Sinn von etwas Unmöglichem, das sie quälte, abzulenken. Er glaubte zu bemerken, daß sie im geheimen immer wieder nach Hans blickte, gerade wenn sie zu Maltiz am liebenswürdigsten war, wie um die Wirkung ihres Benehmens auf den Jugendfreund zu beobachten. Sollte sie ein verdecktes Spiel spielen, hinter dem sich eine starke Leidenschaft verbarg?

Wenn dem so war, so wagte sie sich offenbar nicht hervor mit ihren geheimsten Wünschen, deren Erfüllung ihr unmöglich schien. Berry aber konnte sich nicht entschließen, einen entscheidenden Anstoß zu geben und die Zagende zu ermuthigen. Trotzdem zürnte er seinem Schützling, daß dieser keinen Schritt vorwärts that und sich ängstlich von Claire fernhielt.

Hans schleppte sich, seit er den Bericht über den Einbruch gelesen hatte, mühsam unter der Last seines dunklen Verhängnisses dahin. Er hatte sich am anderen Tage zu dem von Neugierigen umdrängten Orte der That begeben, hatte vorsichtige Fragen nach dem Entflohenen gestellt, dessen Festnahme man sicher erhoffte, und war endlich in die Kleegasse gegangen. Vielleicht wußte man in der „Fackel“ etwas über den „Schwarzen Jakob“, ja vielleicht hatte sein Vater die fragliche Nacht dort zugebracht, und alle Besorgniß war umsonst, der Genosse Holzmanns ein ganz anderer. Aber er hatte nicht gewagt, in die Wirthschaft einzutreten, nach dem Vater zu fragen – die thörichte Angst hielt ihn ab, selbst irgendwie in die Untersuchung verwickelt zu werden, da man ihn mit Holzmann zusammen gesehen hatte. So trug er die alte Ungewißheit weiter. Bald sollte die Verhandlung gegen Holzmann vor dem Gericht stattfinden – so lange hatte er noch zu leben als ehrlicher Mann, dann war vielleicht sein Name öffentlich gebrandmarkt, der Weg zu Claire ihm für immer abgeschnitten!

Mit solcher Qual im Herzen mußte er das Haus Berry besuchen, Claire gegenübertreten, mußte es mit ansehen, wie sie umschwärmt, vergöttert wurde, wie dieser Graf Maltiz täglich mehr an Boden gewann. O, wäre er frei gewesen, er hätte ihn nicht gefürchtet und alle nicht, so hoch und vornehm sie waren! Er wußte es jetzt, sie war ihm hold; er verstand ihre ermuthigenden Blicke, ihren Spott, ihren Aerger über seine Verzagtheit, er wußte, daß die Bevorzugung des Grafen ihr nicht ernst war, er glaubte zu merken, daß Herr Berry selbst seine Hand nicht zurückstoßen würde, wenigstens lag dieser Schluß nahe nach der Art, wie der Kommerzienrath jetzt oft über die Zukunft seiner Werke mit ihm sprach – er fühlte den höchsten Muth, die höchste Kraft in sich und – war gefesselt! Er hatte kein Recht, mit seinem geschändeten Namen in die Schranken zu treten um Claire, kein Recht, in dieser Gesellschaft zu verkehren. Er lebte eine beständige Lüge, mußte stets gewärtigen, daß man nach [588] Bekanntwerden des Schrecklichen ihn für immer aus diesen Räumen wies.

Der Tag der Verhandlung gegen Holzmann kam, der Tag des Urtheils auch für Hans. Wurde der Name Davis von dem Einbrecher genannt, so war mit dem Vater er selbst verloren. Er hatte beschlossen, der Verhandlung nicht beizuwohnen und die Berichte abzuwarten; aber eine Stunde vor Beginn der Sitzung stand er schon im Gerichtsgebäude.

Endlich öffneten sich die verschlossenen Thüren, ungestüm drang er in den Saal. Im Nu war die Zuhörertribüne gefüllt, und eine lebhafte Unterhaltung über den „Fall“ kam in Gang. Gespannt hörte Hans zu. Einer behauptete, die Sache stehe sehr gut für Holzmann und verhalte sich anders, als man gelesen habe, der Entkommene sei der eigentliche Thäter. Er fand allgemeinen Glauben, man schimpfte über die Polizei, die wie immer den Unrechten gepackt und den Hauptschuldigen habe laufen lassen. Hans spürte, wie sich die Gedanken in seinem Hirne zu verwirren drohten, er starrte nur noch nach der kleinen Thür, zu welcher der Angeklagte hereingeführt werden sollte.

Die Richter nahmen ihre Plätze ein. Jetzt öffnete sich die Thür, und, geführt von einem Schutzmann, erschien Holzmann. Hans erkannte ihn sofort wieder – das war dasselbe verschmitzte Lächeln, derselbe unverschämte lauernde Blick wie damals.

Nach Eröffnung der Verhandlung wurde die Anklage verlesen und dann an Holzmann die Frage gerichtet, ob er seinen Genossen bei der That nennen wolle.

Das Blut brauste Hans in den Ohren, er glaubte, den Namen „Davis“ zu hören, und doch hatte Holzmann noch gar nicht gesprochen.

„Wie soll ich ihn denn nennen, wenn ich ihn gar nicht kenne?“ antwortete dieser jetzt laut lachend.

Das Publikum war sichtlich ärgerlich über die freche Lüge.

„Sie weigern sich also, die Wahrheit zu sagen?“ sagte der Richter, die Stirn bedenklich faltend.

„Ich kann nicht aussagen, was sich gar nicht oder vielmehr nur in der Einbildung der Herren zugetragen hat.“

Der Richter wies den Angeklagten zur Ordnung. „Noch eine solche Aeußerung und Sie werden abgeführt.“

Holzmann zuckte die Achseln. „Ich sage, was ich weiß. Ich ging in jener Nacht ziemlich spät von der Kneipe nach Hause, vom ,Schwarzen Rößl’, wenn’s die Herren interessiert – ich habe Zeugen dafür – und kam so gegen ein Uhr bei Somatsch vorbei. Der Kanal war offen, und ich wäre fast hineingefallen – natürlich, die Polizei hat andere Dinge zu thun, als für die Knochen der Bürger oder gar von unsereinem zu sorgen. In diesem Augenblick höre ich ein Geräusch, das vom Boden unter dem Juwelierladen auszugehen schien. Ich horche eine Zeit lang – da ist was los, denke ich, da geht’s an dem Somatsch seine Diamanten! – Schaust einmal nach, denke ich weiter, kriegst Du den Dieb zu fassen, wird der Somatsch sich nicht lumpen lassen, und Du kriegst zudem ein gutes Renommee und das kann Dir auch nicht schaden. Also steig’ ich am Gerüst in den Kanal hinunter, gehöre ja selber zu dem Geschäft – richtig geht da seitwärts eine Röhrenleitung unter den Laden wie in einem Fuchsbau. Vorsichtig schleiche ich mich näher, dem Geräusch zu, plötzlich – es war stockfinster – saust mir von oben herab Staub und Sand ins Gesicht, etwas stürzt über mich her, überrumpelt mich und weg war’s – ob es ein Thier, ein Mensch war, ich wußt’ es im Augenblick selber nicht. Recht ist Dir geschehen, sag’ ich mir, was kümmerst Du Dich um dem Somatsch seine Diamanten und bringst einen armen Teufel, der sich vielleicht nicht mehr zu helfen weiß, ins Elend. Ich tapp’ zurück, steig’ wieder hinauf, da hat mich schon einer am Kragen wie einen Dachs, den man mit der Zange holt – natürlich war alles Reden umsonst, ich mußte der Dieb sein! Willig ging ich mit – wird sich schon aufklären, dacht’ ich, daß Du ein ehrlicher Kerl bist. Aber man glaubt unsereinem die Ehrlichkeit nicht mehr, besonders wenn’s einmal schon einen kleinen Haken g’habt hat wie bei mir. Na, jetzt wird’s weiter keinen Anstand mehr haben, Sie wissen ja nun alles. Mein Alibi kann ich auch ausweisen, daß ich um ein Uhr aus dem ‚Schwarzen Rößl‘ fortgegangen bin. Und das werden’s doch auch nicht glauben, daß ich mich so dumm hätte fangen lassen, anstatt durchzubrennen wie der andere, wenn ich sein Kollege gewesen wäre.“

Das Erstaunen über diese Darstellung des Thatbestands war allgemein; so unwahrscheinlich dieselbe auch bei dem schlechten Leumund Holzmanns war, die Richter mußten bei sich die Möglichkeit eines solchen Sachverhalts zugeben, und das war schon ein großer Gewinn für den Angeklagten, der jetzt mit einer unschuldigen Miene dasaß und die günstige Wirkung seiner Worte beobachtete.

Im Zuschauerraum freute man sich in raschem Umschlag der Stimmung über den verschmitzten Menschen, der sich so vortrefflich aus der Schlinge zog.

Hans athmete auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wußte bestimmt, daß die Erzählung Holzmanns erlogen, daß er nicht nur der Helfershelfer des Entkommenen, sondern sogar der Anstifter des Ganzen war, und doch beseelte ihn ein förmliches Dankgefühl gegen den Strolch, der durch seine Schlauheit das Furchtbarste von ihm fernhielt. Nur das eine war ihm unbegreiflich, daß er in der Falle geblieben war, während der andere entkam – er war doch der Ueberlegene, der Erfahrenere in diesem Fache … wenn der Vater wirklich der zweite Einbrecher gewesen war. Aber am Ende war dieser doch nicht dabeigewesen! Dieser freudige Gedanke rang sich immer mehr empor in Hans, so daß er der weiteren Verhandlung ruhiger folgte.

Der Vertheidiger wußte die Erzählung Holzmanns vortrefflich zu verwerthen; er hob die schwere Verantwortlichkeit hervor, einen Mann, der mit Gefahr seines Lebens beisprang, um einen Mitbürger vor Schaden zu bewahren, auf Grund einer verhängnißvollen Verkehrung der wirklichen Vorgänge als den Thäter zu verurtheilen. Das müßte geradezu verwirrend wirken und das Ansehen des Gerichts allenthalben aufs äußerste schädigen.

Zu guter Letzt brachte er als Haupttrumpf zwei Zeugen bei, welche die Anwesenheit Holzmanns im „Schwarzen Rößl“ bis um ein Uhr nachts beschworen. Der Schutzmann gebe ein Uhr zehn Minuten als die Zeit der Festnahme an, zehn Minuten seien nöthig, um von einem Orte zum anderen zu gelangen, wie hätte sich also Holzmann an dem Einbruch betheiligen können? Er war einfach ein Vorübergehender, der seine Pflicht erfüllte, außerdem noch durch die Aussicht auf Belohnung von seiten des Juweliers bewogen wurde, thätlich einzugreifen.

Die Wirkung dieser Rede, besonders des geschickt verwertheten Schachzugs mit den beiden Zeugen war die Freisprechung des Angeklagten. Holzmann verließ nach zweimonatiger Haft frei den Gerichtssaal, mit einer grinsenden höhnischen Gebärde gegen die Richter.

Auf dem Gauge, den er triumphierend durchschritt, drängten sich gute Kameraden um ihn, drückten ihm die Hand und blinzelten ihm verständnißvoll zu. Auch Hans, der Gewißheit haben wollte um jeden Preis, trat dem Manne in den Weg.

Holzmann stutzte, als er ihn erblickte, sein graues Auge ruhte durchdringend auf dem ungebetenen Besucher. Dieser wagte nicht, Holzmann vor allen Leuten anzusprechen. Man drängte sich die dunkle Stiege hinab, dort [spürte] Hans plötzlich eine Hand auf seiner Schulter.

„Wo kann ich Sie heute abend treffen? Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu reden,“ flüsterte eine Stimme. Hans wußte, wem sie gehörte, und schauerte zusammen.

„In der ‚Fackel‘, Punkt sieben Uhr,“ antwortete er leise. Es fiel ihm kein anderer Ort ein, daher nannte er mechanisch den für ihn so verhängnißvollen Namen. Halb besinnungslos wankte er die Treppe hinab. Er war nicht darüber im Zweifel, welche Enthüllung ihm bevorstand.

Bald bereute er sein Versprechen; warum hatte er auch die Zusammenkunft gerade in die „Fackel“ verlegt, wo man, ihn und den Vater kannte, wo alle die häßlichen Erinnerungen mit neuer Stärke ihn überkommen mußten. Und heute war der wöchentliche Gesellschaftsabend bei Berry, er mußte dort erscheinen – aus der „Fackel“ zu Claire! Er war nahe daran, sein Wort zu brechen. Allein um die festgesetzte Zeit stand er doch am Eingang der Kleegasse; zögernd blieb er dort einen Augenblick stehen, dann bog er entschlossen ein.

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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 20, S. 636–641

[636] Wieder klimperte das Klavier, wieder ertönte das wüste Lachen aus dem „Jörgl“ und lärmten die „Jungen“ beim „Prasser“, wieder glühten im Dunkel die roth verhangenen Fenster der „Fackel". Hans trat in das von übelriechendem Dunste gefüllte Lokal der „Fackel“, ein Blick überzeugte ihn, daß Holzmann noch nicht da sei.

Die Wirthin empfing ihn mit mißtrauischer Miene. „Suchen Sie den ‚Schwarzen Jakob‘?" fragte sie barsch. „Er hat sich nicht mehr sehen lassen seitdem, er haßt das Geschnüffel – war ein guter Gast.“

„Bringen Sie ein Glas Bier und kümmern Sie sich nicht darum, wen ich suche oder nicht!“ entgegnete Hans abweisend.

Eingeschüchtert durch den entschiedenen Ton entfernte sich die Wirthin, um das Verlangte zu bringen. Jetzt trat auch Holzmann ein, mit offenbar von reichlichem Alkoholgenuß getrübten Augen stierte er im Zimmer umher. Hans wurde von unbezwinglichem Ekel erfaßt, es war ihm, als müsse er entfliehen. Da erblickte ihn Holzmann; über die Entdeckung vergnügt mit dem Finger schnalzend, trat er näher. Ohne Umstände setzte er sich neben Hans und nahm ungeniert einen tüchtigen Schluck aus dessen Glas.

„Hab’ ich’s nicht fein gemacht?“ fragte er, mit den Augen zwinkernd. „Bin ich nicht ein wahrer Freund?“

Hans zuckte unter dieser Andeutung zusammen und dachte nicht einmal daran, von dem Menschen wegzurücken, der ihm vertraulich die Hand auf die Schulter gelegt hatte; sie lastete darauf wie Blei.

„Na, so reden Sie doch, jetzt brauchen Sie ja keine Angst mehr zu haben – ich schweige wie das Grab!“

„Ich verstehe Sie nicht,“ stammelte Hans.

„Sie verstehen mich nicht? Na, das ist gut! Warum sind Sie denn hier? Oder habe ich meine Sache wirklich so gut gemacht, daß auch Sie ...? Na, hören Sie, da wär’ ich wirklich stolz. Aber machen Sie keine Flausen, zwischen uns zwei muß alles klar sein. Also die Geschichte war so: ich und er – Sie wissen, wen ich meine – hatten alles vortrefflich vorbereitet, es klappte soweit auch ganz gut, er war schon glücklich drin im Laden – da überkommt ihn ein Schrecken, er glaubt wunder was draußen auf der Straße zu hören, springt durch die Oeffnung wieder herunter, wirft mir dabei die halbe Decke auf den Kopf und ist auf und davon, während ich in der Patsche sitze. Na, ich will’s ihm nicht nachtragen.“

In Hans war, während Holzmann in seiner frechen Weise erzählte, ein dumpfer Zorn aufgestiegen. „Also haben Sie meinen Vater wirklich so weit gebracht, Sie Schurke!“ flüsterte er zwischen den Zähnen. Sein Antlitz war weiß, sein Auge leuchtete unheimlich.

„Natürlich, ich bin der Verführer! Er ließ sich übrigens sehr gern verführen, der Herr Vater – doch das ist ja jetzt ganz einerlei, verlieren wir keine Zeit mit solchen Dummheiten! Rollen Sie die Augen nicht so, ich fürchte mich nicht – Ihnen muß alles dran liegen, daß Ihr Vater nicht entdeckt oder aufgegriffen wird, und wenn ich spreche . . .“

Das letzte Wort klang wie eine Drohung; Hans ließ finster das Haupt sinken.

„Ich spreche aber nicht, wenn Sie vernünftig sind.“

„Was nennen Sie vernünftig?“

„Sie kaufen mir das Geheimniß ab – das ist doch sehr vernünftig!“

„Womit? Ich bin arm.“

„Weiß ich, und ich bin kein Blutsauger, das überlass’ ich den ehrlichen Menschen. Es giebt ja auch Abschlagszahlungen, und Sie werden nicht arm bleiben –“

„Gut, ich bin bereit. Was fordern Sie?“

„Das ist schwer zu sagen. Je weiter Sie es bringen, desto mehr muß Ihnen an meinem Schweigen liegen. Sagen wir vor der Hand dreißig Mark monatlich! Gewiß anständig! Haben Sie Glück, machen vielleicht eine gute Partie – ’s ist ja so was in Aussicht, wie ich hörte – na, dann läßt sich weiter drüber reden, dann kann man’s vielleicht mit einmal abmachen.

Hans hatte nicht einmal mehr die Kraft des Zornes gegen diesen offenbaren Hohn. Die Anspielung auf Claire machte ihm seine furchtbare Lage doppelt klar.

„Sie sollen das Geld haben. Aber geben Sie sich keiner Hoffnung hin in Bezug auf meine Zukunft –“ Er lachte schmerzlich. „Ich habe keine Zukunft mehr von heute an und werde nie –“

„‚Heirathen‘, wollen Sie sagen? Ah bah, das sagen Sie jetzt. Nicht heirathen? Ein so schöner Mann mit diesen Aussichten! Da ist mir nicht bange. Also vor der Hand dreißig Mark monatlich. Sie senden es an den Wirth zum ‚Schwarzen Rößl‘, meinetwegen unter fremdem Namen, ich weiß dann schon, von wem es kommt. Aber noch etwas: ich könnte doch einmal einen besonderen Wunsch haben – man hat hie und da größere Ausgaben – und ich möchte Sie von Zeit zu Zeit doch auch persönlich sehen, damit ich Sie nicht ganz aus dem Gesicht verliere . . . also kurz und gut: ich verlange, daß Sie sich alle Vierteljahre, sagen wir: immer am Ersten jedes dritten Monats von heute an, im ‚Schwarzen Rößl‘ sehen lassen. Kommen Sie nicht, so müßte ich schreiben, und das ist gefährlich für uns beide. Also einverstanden?“

„Ich muß!" stöhnte Hans. „Nun aber – wo ist mein unglücklicher Vater?“

„Er ist jetzt auf eine Zeit lang verschwunden; ich glaube, er ist in der Schweiz. Doch das kann Ihnen ja gleich sein. Auch wenn er wiederkommt, wird er sich vor Ihnen nicht sehen lassen auf diese Geschichte hin, er fürchtet Sie –“

„Und wer giebt mir die Versicherung, daß Sie ihn dann nicht zum zweiten Male zu einem solchen Verbrechen verführen?"

„Ich, Verehrtester!“ erwiderte Holzmann lachend. „Er taugt nicht zu dem Geschäft, es fehlt ihm die Ruhe, die Kälte; mitten drin reut es ihn, und er macht lauter Dummheiten.“

Hans war dem Gauner für dieses Wort beinahe dankbar, bewies es ihm doch, daß sein Vater kein Verbrecher von Natur war, daß ihn nur seine Leidenschaftlichkeit, seine widrigen Verhältnisse und die Künste Holzmanns soweit gebracht hatten. Aber was nützte es seinem Vater und ihm selbst, daß dem so war? Befanden sie sich deshalb weniger in der Gewalt des Schurken? War er selbst nicht in Zukunft ein Sklave Holzmanns? O, das war die schändlichste Fessel, die er je getragen! Doch wie – wenn er sie abschüttelte mit einem energischen Rucke, mochte draus entstehen, was da wollte? Sein Vater war in Sicherheit, und selbst wenn er infolge einer Anzeige den Gerichten verfiel, war es nicht besser, daß er seine Schuld büßte, statt mit dem Bewußtsein, ein Ausgestoßener und Verfolgter zu sein, immer weitergetrieben zu werden auf der dunklen Bahn und vielleicht dem Schlimmsten zu verfallen. Und konnte denn Holzmann überhaupt den Genossen verrathen, ohne selbst mit in die Falle zu gerathen? Aber dieser Mensch mit seinem rachsüchtigen Charakter und seiner bösartigen Schlauheit würde sicher einen Weg finden, seine Drohung wahr zu machen, ohne sich selbst zu gefährden. Im Nothfall würde er wohl auch vor einem Meineid nicht zurückschrecken, um den Vater als den alleinigen Schuldigen hinzustellen. Ja, es war zu erwarten, daß er sich dann die Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, auch den Sohn in Verdacht zu bringen. Anhaltspunkte dafür bot ihm ja der Verkehr in der berüchtigten „Fackel“. Und dann – wo blieb dann sein Glück, seine Zukunft, die er sich nur zu denken vermochte an der Seite Claires!

Im Gefühl seiner Ohnmacht verlegte sich Hans zu seiner eigenen inneren Beschämung aufs Bitten.

„Erlassen Sie mir die Besuche im ‚Schwarzen Rößl‘,“ begann er, „sie sind mir unmöglich.“

„Thut mir leid, aber auf diese Besuche verzichte ich nicht, ich muß sogar um große Pünktlichkeit bitten. Abgemacht also!“ Er streckte Huns die schmutzige Hand hin. Ich will Sie nicht länger aufhalten. – Warum schlagen Sie nicht ein? Die Hand färbt nicht ab! Mein Gott, wenn alle Spitzbubenhände Farbe lassen würden, wir gingent alle umher wie die Färber. Uebrigens ist der Humbug mit dem Handschlag auch nicht nöthig, solche Sachen halten sich von selbst. Aber noch etwas – haben Sie vielleicht die erste Monatsrate bei sich? Ich meine nur – es eilt nicht gerade –“

[637] Hans griff in die Tasche und warf das Geld auf den Tisch.

„Stimmt!“ sagte Holzmann schmunzelnd. „Auf Wiedersehen im ‚Schwarzen Rößl‘ genau auf Tag und Stunde, wie wir’s besprochen haben. Ich liebe die Pünktlichkeit! Und nun – nichts für ungut, Herr Davis!“ Mit diesen Worten erhob er sich, drückte seinen Hut tief ins Gesicht und verließ das Lokal.

Hans blieb betäubt zurück. Das Fürchterlichste war eingetroffen – wohin mochte ihn die Gemeinschaft mit diesem Verbrecher noch führen! Da schlug es acht Uhr, um diese Zeit sollte er bereits im Salon bei Berrys sein. Er schauerte zusammen bei dem Gedanken. Was sollte er sagen, wenn man ihn fragte, wo er so lange geblieben sei, wenn Claire ihn fragte mit dem stummen Vorwurf im Blicke, der ihm jedesmal das Herz zerriß? Sollte er ihr alles bekennen, ihr zurufen: „Ich bin der Sohn eines Verbrechers, der Sklave eines Schurken – aber ich liebe Dich mehr als das Leben, und wenn auch Du mich liebst – Liebe kann alles vergessen, verzeihen!“ Aber wie würde sie da entsetzt, voll Ekel, aufspringen, die schöne verwöhnte Claire, wie würde sie ihn verachten, hassen, daß er, der Geschändete, Ehrlose, sich in ihr Herz geschlichen! Es gab nur eines, wenn er ein Mann war: das Haus verlassen, in dem sein ganzes Glück beschlossen lag.

Die Wirthin hatte das seltsame Paar scharf beobachtet, auch die Zahlung an Holzmann war ihr nicht entgangen. Sie hatte doch dem jungen Menschen unrecht gethan, es war keiner von der Polizei. Als sie das Geld für die Zeche nahm, nickte sie ihm daher freundschaftlich zu.

[638] „Ja, zwischen uns, Fräulein Claire. Ich sage das getrost, ich bin kein junger Fant mehr, kein schmachtender Jüngling, ich bin ein Mann – mit tausend Fehlern vielleicht, aber mit dem einen Vorzug, daß ich mit meinen Gefühlen nicht Versteck zu spielen weiß. Ein Reiter liebt die rasche kühne Entscheidung!“

„Das ist ja ganz schön, Herr Graf,“ unterbrach ihn Claire in leicht ironischem Tone, „aber ich bin leider zu Fuß und kann dem raschen kühnen Reitersmann nicht folgen.“

„Sie verleugnen sich selbst, Fräulein Claire! Seit wann gehören Sie zu diesen matten Naturen, die, einer raschen kräftigen Leidenschaft nicht fähig, ängstlich hin und her schwanken, überlegen, fürchten und zagen. Entweder bin ich Ihnen gleichgültig, zuwider, dann haben Sie Ihr Spiel mit mir getrieben, oder ich bin Ihnen mehr als die anderen. Warum aber dann noch zögern? Oder will Ihr Papa den leichtsinnigen Offizier nicht, der mit seinem Sohne ein flottes Leben führt, und Sie lieben den Papa über alles? Ist es dies?“

Der Graf war schön in seiner rücksichtslosen Erregung, die ihn die gute Sitte so weit mißachten ließ, daß er zornig mit dem Säbel auf den Boden stieß.

Claire entzog ihm den Arm.

„Sie vergessen sich, Herr Graf! Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig über die Gründe meines Benehmens. Sind Sie ein Mann, der kühne Entscheidungen liebt, so bin ich eine Frau, die sich ihre Gefühle nicht in blindem Ansturm entreißen läßt. Sie wählen eine Taktik, Herr Graf, mit der Sie vielleicht oft gesiegt haben, die aber nicht immer die richtige ist.“

Maltiz ergriff die beiden Hände des Mädchens und sank, hingerissen von seiner Leidenschaft, vor ihr auf die Knie.

„Taktik? Ich kenne keine in diesem Augenblick. Ich liebe Sie, Claire, nun müssen Sie es hören! Mein sollen Sie werden . . . nur einen Hoffnungsstrahl geben Sie mir!“ Jäh sprang er auf und beugte sein heißes Gesicht so nahe an das ihrige, daß sie seinen Athem spürte.

Nun verlor auch Claire die mühsam bewahrte Ruhe, das Feuer, das verzehrend in dem Manne vor ihr loderte, drohte auch ihre Sinne zu ergreifen. Eine Müdigkeit überkam sie, daß sie wie betäubt die Augen schließen mußte. Es war ihr, als müsse sie um Hilfe rufen gegen sich selbst – warum nur fehlte Hans gerade heute!

Da glaubte sie Schritte zu vernehmen, sie blickte auf – unter dem Vorhang der Thür stand Hans Davis, bleich und verstört; in der nächstelt Sekunde war er wieder verschwunden. Ob er es nun wirklich gewesen war oder das Ganze nur eine Täuschung ihrer erregten Sinne – die Erscheinung hatte ihr die ersehnte Hifle gebracht, sie gehörte wieder sich selbst. Stolz richtete sie sich auf.

„Man hat uns beobachtet, verlassen Sie mich!“ rief sie befehlend. Achselzuckend verbeugte sich der Graf und ging.

Als Claire, nach Fassung ringend, den Salon betrat, fiel ihr erster Blick auf Hans. Es war also keine Vision gewesen – er hatte sie belauscht! Der Schmerz über das Gehörte, Gesehene lag offenbar noch in seinen Zügen. Warum nur hatte sie gerade an ihn denken müssen in dem entsetzlichen Augenblick, als sie jede Kraft in ihrem Inneren erschlaffen fühlte? Warum wich die qualvolle Betäubung bei seinem Anblick? Mit einem Male sah sie klar: sie liebte diesen Mann! Ihm hätte sie gern tausendmal die Antwort gegeben, die der Graf vorhin mit stürmischer Leidenschaft von ihr hatte erzwingen wollen! Aber weshalb wagte Hans nicht dasselbe wie dieser Maltiz – warum verrieth er mit keinem Worte, was er fühlte? Entschlossen trat sie auf Hans zu.

„Wo bleiben Sie so lange? Ich habe Sie überall gesucht. Es giebt Leute, die sich keine Sekunde rauben lassen von diesem Abend, ich dachte, Sie gehörten vor allem dazu.“ sprach sie ihn an.

„Dringende Geschäfte, gnädiges Fräulein! Uebrigens werden Sie mich wohl nicht vermißt haben. Sie sehen so blühend, so strahlend aus von freudiger Lebenslust, daß ich mir doppelt dunkel und unscheinbar vorkomme, so gar nicht, als könnte ich vermißt werden.“

„Wäre es nicht moglich, daß Sie mein Aussehen falsch deuten? Vielleicht ist es nicht Lebenslust, was mich erfüllt, sondern etwas anderes, Entrüstung – Empörung über etwas . . .“

Hans blickte ihr fest ins Auge, mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes. „Empörung über mich, den Lauscher, nicht wahr?“ Claire erröthete tief. „Also Sie waren es wirklich? Nein, das meinte ich nicht.“

„Das meinten Sie nicht? Aber dann – dann bleibt nur eine Erklärung übrig . . .“

„. . . daß ich empört bin über die ungerechtfertigte Zudringlichkeit des Grafen, von der Ihr Erscheinen mich erlöste!“

Hans fühlte, wie sich ihm alles Blut zum Herzen drängte – da stand ja das Glück vor ihm, nahe, greifbar nahe. Aber – o Hohn des Schicksals! – er durfte die Hand nicht danach ausstrecken, er, den das Verhängniß in seine Bande geschlagen, durfte nicht mehr frei wählen, wollte er nicht auch die, die ihm das Liebste war auf Erden, mit sich in Schmach und Schande bringen. Gewaltsam raffte er seine Selbstbeherrschung zusammen.

„Aber der Graf liebt Sie, Fräulein Claire,“ erwiderte er scheinbar gelassen, „und er hat alle Berechtigung dazu. Urtheilen Sie deshalb nicht zu streng! Seine Leidenschaft macht ihn unvorsichtig; o, ich begreife das – sie kennt keine Rücksicht, kein Bedenken, unaufhaltsam drängt sie vorwärts, ihrem Ziele zu!“

„Wirklich, thut sie das?“ entgegnete Claire. „Was wissen denn Sie von Leidenschaft bei Ihren langweiligen fühllosen Maschinen, für die Sie schwärmen? Wie kalt Sie das sagen: ‚der Graf liebt Sie‘, als ginge Sie das gar nichts an!“ Eine tiefe Bekümmerniß klang durch den spöttischen Ton dieser Worte hindurch.

Das Herz krampfte sich in Hans zusammen. Sie standen abseits von der Gesellschaft, niemand konnte sie belauschen – es galt nur ein Wort, das fühlte er, und Claire war sein! Und dieses Wort – er durfte es nicht sprechen! Noch klang die Stimme Holzmanns widerlich in sein Ohr. Er mußte dieses fürchterliche Gespräch beenden, jäh und gewaltsam, sonst erlag er der Versuchung.

„Es darf mich nichts angehen, wenn ein anderer Sie liebt. Der Graf ist der Mann, Sie glücklich zu machen, ist Ihrer würdig, das ist das einzige, was mich dabei interessieren kann, mich, Ihren Jugendfreund, Ihren kleinen Automaten!“

Er athmete schwer auf nach diesen Worten, die nüchtern mit vernünftiger Kühle über seine Lippen gekommen waren.

Claire lachte spöttisch. „Wirklich – Sie sind fest überzeugt, daß der Graf mich glücklich machen würde, daß er meiner würdig ist? Diese Aeußerung erinnert mich wirklich an den Automaten von einst mit seinen toten, langweiligen Bewegungen. Uebrigens haben Sie ganz recht – es geht Sie wirklich nichts an, ob der Graf mich liebt oder nicht, darum lassen Sie in Zukunft das Belauschen!“

„Fräulein Claire!“

Sie hörte nicht mehr auf ihn, sie hatte ihm den Rücken gewandt.

Hans lehnte sich an die Fensterbrüstung und drückte die heiße Stirn an die kalten Scheiben. Das Opfer war vollbracht!

„Warum so einsam, Davis?" weckte ihn plötzlich eine Stimme neben sich – es war die Berrys. Erschrocken wandte sich Hans um.

„Wie sehen Sie denn aus? Krank, überarbeitet und unglücklich! Mir scheint, Sie fühlen sich immer gedrückt in meinem Hause – warum denn? Haben es ja gar nicht nöthig! Sie müssen sich mehr umthun, müssen sich dieser Welt mehr anpassen, wenn es Ihnen auch nicht immer angenehm ist! Sie sind nun einmal berufen, darin zu verkehren, und ich darf es geradezu von Ihnen verlangen, daß Sie sich nicht absondern. Heutzutage macht man seinen Weg nicht mehr allein mit den Kenntnissen, auch Aeußerlichkeiten sind nicht zu unterschätzen, wenn man eine Stellung einnehmen will. Und das wollen Sie doch, und ich will es auch! Ja, ja, ich muß es Ihnen einmal sagen, es fehlt Ihnen an Selbstgefühl, und das ist nothwendig gerade diesen Leuten gegenüber, die wunder meinen, was sie sind. Kommen Sie, kommen Sie – Claire fragte auch schon nach Ihnen!“

Hans lachte gezwungen, entschuldigte sein Alleinbleiben mit Kopfschmerz und folgte dann Herrn Berry.

Claire stand bei Otto und Maltiz. In Hans brauste alles wirr durcheinander, mechanisch sprach und antwortete er. Dazwischen hinein tönte dämonisch das Lachen Claires und des Grafen.

Wie ein wüster Traum ging der Abend vorüber, er sah noch, wie der Graf zum Abschied lange Claires Hand hielt, dann eilte er durch die Nacht seiner Wohnung zu.


10.

Mit Claire war eine auffallende Veränderung vorgegangen. Sie zog sich von der Gesellschaft immer mehr zurück und ließ sich selbst an den Empfangsabenden öfters entschuldigen, so daß diese dadurch ihre Anziehungskraft verloren. „Claire wird Gräfin Maltiz und deshalb dieser Rückzug,“ hieß es in der Stadt; was [639] hatte man also noch bei dem langweiligen Maschinenmenschen weiter zu suchen! Die Beute war erjagt, und es war verlorene Liebesmühe, sich noch weiter um sie zu bemühen. Die jungen Löwen zogen sich knurrend zurück, eine andere Fährte zu suchen, ihnen folgten bald die Künstler und sonstigen Koryphäen der Hauptstadt. Herr Berry verstand es nicht, sie zu halten, es wurde langweilig in dem Salon; Graf Maltiz allein blieb auf dem Platze.

Er war der intimste Freund Ottos, mit dem zusammen er einen Rennstall hielt, und auch Claire behandelte ihn durchaus kameradschaftlich. Der Scene an jenem Abend, bei der Hans sie überrascht hatte, geschah nie mehr Erwähnung, und Claire schien dem Grafen gerade durch den freien Umgang jede Gelegenheit entziehen zu wollen, sie zu wiederholen.

Nichts ist schmerzlicher für einen Liebhaber, denn als Freund behandelt zu werden, mit all der nüchternen Offenheit, welche diesem zukommt. Jedes zärtliche Wort, jedes süße Geheimniß stockt ihm da auf der Zunge und scheint ihm lächerlich. Maltiz war unglücklich, er verstand Claire nicht. Warum entzog sie ihm nicht ihren Umgang, wenn sie seine Werbung ein für allemal abgewiesen haben wollte? Wenn sie ihm aber doch ein tieferes Gefühl entgegenbrachte, warum dann diese Kälte, die erkältend auch auf ihn zurückwirken mußte? Die kostbare Zeit verstrich – wenn nicht wenigstens die Verlobung bald stattfand, so ließen sich seine Gläubiger nicht länger beschwichtigen . . .

Otto kannte die Verhältnisse seines Freundes sehr wohl, er stak selbst tief in Schulden und konnte deshalb die Eile, aus der Maltiz ihm gegenüber gar kein Hehl machte, recht gut begreifen. Ja, der Graf ging so weit, Otto aus Erkenntlichkeit für seine Mithilfe die Uebernahme seiner zahlreichen Verpflichtungen zu versprechen. sei er einmal verheirathet, so gehe das bei dem Alten in einem hin. Otto, weit entfernt, darin eine Taktlosigkeit zu erblicken, faßte das als ritterliche Großmuth von seinem vornehmen Freunde auf und machte die größten Anstrengungen, um Claire zur Entscheidung zu bringen. Doch mußte er die Sache mit aller Vorsicht angreifen, um nicht ihr Mißtrauen zu erregen.

Das Benehmen der Schwester war ihm selbst unbegreiflich, es war fast, als wartete sie auf etwas; oft traf er sie mit verweinten Augen. Sollte eine heimliche Liebe daran schuld sein? Seit ihrer Rückkehr aus Paris war sie doch nur dem Grafen nahe getreten, und um den brauchte sie doch nicht zu weinen! Wiederholt ließ er alle, die seitdem im Hause verkehrt hatten, an sich vorüberziehen, sogar Hans Davis. Und obwohl ihm der Gedanke zuerst lächerlich erschienen war, er drängte sich ihm immer wieder auf. Wie oft hatte er die beiden in lebhaftem Gespräch getroffen! Die unverzeihliche Vertraulichkeit der Jugendjahre wirkte wohl noch immer nach, zudem bevorzugte Papa den jungen Mann immer mehr und zog ihn mit Gewalt in seine Kreise; so unmöglich war also die Sache nicht, und er wurde den Verdacht nicht mehr los. Gerade jetzt entdeckte er auch durch einen Zufall, daß Claire Krankenbesuche im Arbeiterviertel machte. Das war trotz ihrer Gutmüthigkeit ganz gegen ihre sonstige Art, sie liebte das schmutzige Getriebe nicht und betrat nur äußerst selten die Fabrik. Sollte sie aus Interesse für Davis um das „Pack“ sich kümmern, dem auch dieser entstammte?

Der Gedanke, daß er auf der richtigen Spur sei, empörte ihn – das wäre ja eine öffentliche Blamage, ganz abgesehen davon, daß dann alle seine Hoffnungen auf die Hilfe des Grafen in nichts zerfielen! So beschloß er einen entscheidenden Schritt. War etwas an seinem Verdacht, wie er allmählich fest überzeugt war, so wuchs die Gefahr mit jedem Tage, den er verstreichen ließ, ohne zu handeln.

Eines Tages trat er geradezu als Freiwerber für seinen Freund bei Claire auf. Ihr Benehmen gegen Maltiz sei so unklar, daß dieser, eine Abweisung befürchtend, ihn gebeten habe, seine Schwester um eine Entscheidung zu bitten. So stelle er ihr offen und ohne Umschweife die Frage, die sie unzweideutig zu beantworten habe, da ein längerer derartiger Verkehr des Grafen mit ihr unmöglich sei, ohne daß beider Ehre und gesellschaftliche Stellung gefährdet sei. Ein rascher Entschluß sei also unbedingt nöthig. Jeder Anpreisung seines Freundes enthielt er sich absichtlich.

Claire ließ sich zugänglicher finden, als er erwartet hatte; sie spottete nur über den schwachen Muth des sonst als so schneidig gerühmten Grafen, sie habe diese Werbung schon längst vorausgesehen und habe sich bereits damit „ausgesöhnt“, wie sie sich ausdrückte. Sie sehne sich hinaus aus diesem einförmigen Leben, und wenn sie auch nicht gerade eine innige Liebe zu dem Grafen fühle, so könne sie sich doch als seine Gattin denken, und mehr könne man ja auch nicht verlangen, wenn man das Unglück habe, eine reiche Erbin zu sein. Uebrigens habe Papa das letzte Wort zu sprechen.

Otto hörte aus diesen Worten nur die Erfüllung seiner Hoffuungen, nicht den Verzicht eines unglücklichen Herzens, das in verhängnißvollem Irrthum Heilung und Vergessen suchte im Strudel des Weltgetriebes.

Herr Berry betrachtete die Werbung des Grafen als unabwendbares Schicksal. Seine stillen Hoffnungen auf Davis hatte ihn betrogen; Hans war wirklich kein Mann für Claire, es fehlte ihm der persönliche Muth, das Selbstbewußtsein, das allein Großes schafft und auch über die niedrigste Geburt erhebt; er hatte offenbar keine „Rasse“. In der letzten Zeit ließ auch sein Eifer im Geschäft bedeutend nach; seine Schwungkraft war sichtlich erschöpft, die glückliche Idee von damals vielleicht nur ein Zufall.

Er bewegte sich jetzt nur noch in den gewöhnlichen Geleisen der Arbeit. Woher sollte ihm da die Kraft kommen, als sein künftiger Erbe die Fabrik zu leiten? Freilich, Graf Maltiz war ihm auch nicht erwünscht als Schwiegersohn – aber war es dieser nicht, der Claire gewann, so war es ein anderer, der seinen Wünschen noch weniger entsprechen mochte. Daß seine Tochter dem Grafen geneigt war, daran glaubte er nicht mehr zweifeln zu können, wenn sie sich auch immer wieder merkwürdig scheu in sich zurückzog. Der Graf bot ihr einen glänzenden Namen, er war schön, nicht ohne Geist, wohl geeignet, auf ein Mädchenherz Eindruck zu machen. Nur hätte er seine Tochter für tiefer angelegt gehalten, er hätte ihr zugetraut, daß sie noch etwas mehr von ihrem künftigen Gatten verlange. Aber nun war es einmal ihr Wille so – auch gut!

So wurde die Verlobung des Grafen Maltiz mit Fräulein Claire Berry bekannt gemacht; sie überraschte niemand mehr. Otto und der Bräutigam drückten sich verständnißvoll die Hände und machten sofort neue Ankäufe für den Rennstall.

Hans Davis hatte geglaubt, für diese Verlobung gerüstet zu sein, es mußte ja so kommen. Doch als nun das Ereigniß wirklich eintrat, da drohte der Schmerz darüber ihn beinahe zu erdrücken. So lange als möglich schob er die Gratulation hinaus, die er wohl nicht anders als persönlich darbringen konnte. Endlich raffte er alle Kraft zusammen und begab sich zur Villa; man sollte in ihm nur den Bediensteten erblicken, der die leere Form erfüllte. Doch als Claire ihm dann bleich, die Züge matt und schlaff, entgegentrat, da zuckte es in ihm auf wie Freude, und unwillkürlich fiel er aus der selbstgewollten Zurückhaltung heraus. Vergebens nahm Claire eine herablassende Miene an, vermied selbst den herzlichen Ton der Freundin, als sie ihm für seinen Glückwunsch dankte. Er sah unter die Maske, – sie litt mit ihm, vielleicht mehr, weil sie den Grund für sein Verhalten nicht kannte und an Stelle des düsteren Verhängnisses, dem er sich beugte, Feigheit und Mangel an Liebe vermuthen mußte.

„Ich verzichte von heute an auf mein Eigenthumsrecht, Sie sind frei, Herr Davis,“ sagte Claire, in der deutlichen Absicht, dem peinlichen Zusammensein ein Ende zu machen. Hans küßte die kleine Hand; zu spät erhob er das Haupt, eine Thräne war auf die Hand gefallen.

Claire zog sie erschrocken zurück. „Wie – eine Thräne? Bei Ihnen, dem Manne von Stahl und Eisen?“ sagte sie langsam. „Da darf ich mir ja etwas einbilden. Sie erinnert mich an einen Weihnachtsabend, wo die kleine Claire die Thränen, die Sie vergossen, noch trocknen konnte – –“

„Und wo Ihnen der fremde Junge zum Spielzeug geschenkt wurde –“

„Ja – und er wurde mein liebstes Spielzeug, und als er zum Spielzeug zu groß geworden, ward er mein liebster Freund,“ fuhr Claire leise fort. Ihr großes Auge, das erst so kalt geblickt hatte, ruhte jetzt voll innigen Ausdruckes auf Hans, der alle seine Vorsätze darüber vergaß.

„Und als er zum liebsten Freunde zu groß wurde, da trennte man die beiden –“ rief er mit mühsam verdeckter Leidenschaft.

„Ja, da trennte man sie . . . Doch genug dieser Rückblicke auf die Vergangenheit!“ Ihre Stimme klang wieder kühl. „Es beginnt jetzt für mich ein neues Kapitel, und wenn ich Ihrer Prophezeihung Glauben schenken darf – Sie erinnern sich ja noch [640] an jenen Abend in unserem Hause, wo Sie über meinen jetzigen Bräutigam schwärmten – so wird es für mich ein glückliches sein. Ich danke Ihnen nochmals, Herr Davis, für Ihre freundlichen Glückwünsche. Apropos, was macht denn ‚Claire‘ Nummer zwei?"

„Sie macht Ihnen alle Ehre, sie befährt den Mont Cenis und ist die beste Bergmaschine.

„Das freut mich, vielleicht fahre ich mit ihr auf meiner Hochzeitsreise – das wäre reizend – nach dem ‚System Davis‘!“ Sie lachte hart auf. „Auf Wiedersehen, Herr Davis!“ Mit einer leichten Verbeugung ging sie aus dem Zimmer.

Hans stand noch lange, als hätte er ihren Abgang gar nicht bemerkt. Er hielt die geballten Hände gekreuzt, als trüge er wirklich Fesseln. Dann fuhr er plötzlich auf. „Dem ‚System Davis‘, dem System der Feigheit, der fortgesetzten Lüge,“ sprach er vor sich hin, „ich will ihm ein Ende machen!“ Er eilte hinaus, die Treppe hinab; vor dem Arbeitszimmer Berrys hielt er einen Augenblick an. Das Geräusch von Schritten drang heraus; seine Hand lag auf dem Drücker – dem Kommerzienrath alles zu gestehen und um seine Entlassung zu bitten, das war sein Entschluß.

Da sprengten Maltiz und Otto über den Hof; der Graf grüßte lächelnd hinauf zu Claire.

Bei diesem Anblick fühlte Hans in seinem Innern eine Woge des Hasses aufrauschen gegen diesen Mann. Maltiz war ein Freund Ottos – wenn er von demselben Stoffe war wie dieser, wenn er Claire am Ende nur ihres Reichthums wegen heirathete, und sie, die offenbar litt, unglücklich wurde! Dann war er schuld! Nein, er durfte nicht gehen, sein Platz war an ihrer Seite, wie sehr er auch darunter leiden mochte.

Still ging er an Berrys Thür vorüber.

*               *
*

Graf Maltiz war nahe daran gewesen, seinen Rennstall aufgeben und sich aus den Sportskreisen, in denen er die erste Rolle spielte, zurückziehen zu müssen. Das wäre aber in seinen Augen der gesellschaftliche Tod gewesen, dem er wahrscheinlich den wirklichen vorgezogen hätte. Der Papa auf Schloß Kossan war selbst noch trotz seiner alten Tage ein Durchgänger und konnte dem Sohne mit dem besten Willen nicht mehr aus der Noth helfen. Der Ertrag der Hüttenwerke hatte sich von Jahr zu Jahr verschlechtert, und die Herrschaft selbst war Fideikommiß und nicht mit Schulden belastbar.

Gerade in der letzten Zeit hatte besonderes Unglück auf dem Rennplatz die Lage für Maltiz verschlimmert; nicht nur seine Stellung in der Gesellschaft, auch die Uniform stand auf dem Spiele. Es gab nur noch zwei Wege für ihn: Claire, die Tochter des Millionärs, oder eine Kugel vor den Kopf! Der Wille zum Leben hatte ihn zu den Füßen Claires getrieben und ihm im Verein mit ihrer bezaubernben Erscheinung die Gluth wahrer Leidenschaft verliehen.

Es war nach alledem wohl begreiflich, daß die Freude des Grafen, als er sich jetzt am Ziele seiner Wünsche sah, keine Grenzen kannte. und sein neuer Schwager theilte dieses Gefühl nach Kräften.

Ottos pekuniäre Angelegenheiten waren nicht weniger zerfahren als die des Grafen, aber als der Verlobte der reichen Berry hatte Maltiz wieder einen unbeschränkten Kredit, den Otto in vollen Zügen mitgenoß. Die beiden Freunde trugen sich mit großen Plänen für die nächsten großen Herbstrennen, die alle früheren Verluste reichlich hereinbringen sollten.

Otto that sich etwas zu gute auf seinen spekulativen Sinn, den er vom Vater geerbt haben wollte. Nur nicht kleinlich sein und sich durch Mißgeschick im Anfang verblüffen lassen! Das war seine Losung. „Helios“ der Sieger im letzten Derbyrennen, war im Stalle des Fürsten R. kurz nach seinem Siege an einer Sehnenentzündung erkrankt. Die Ansichten über seine Herstellung gingen unter den Sachverständigen weit auseinander. Otto beredete nun den Grafen, den Renner um den billigen Preis von zwanzigtausend Mark zu erwerben – kurz nach dem Siege waren dem Fürsteu hunderttausend geboten worden. Auch der Graf war bald gleich seinem Schwager von der Möglichkeit überzeugt, das Pferd wieder völlig herzustellen, und beglückwünschte sich schon im voraus zu dem ungeheuren Gewinn, wenn „Helios“ unter seiner eigenen Führung den ersten Preis davontragen würde. Es war kein Pferd auf dem Turf, das sich mit „Helios“ nur annähernd messen konnte, wenn dieser wieder bei vollen Kräften war.

Maltiz ließ den kostbaren Besitz keinen Tag aus den Augen und überwachte seine Pflege mit gewissenhafter Sorgfalt.

Das Rennen um den großen Preis fand kurz vor dem Tage statt, auf welchen die Hochzeit festgesetzt war. Erfüllte sich des Grafen Hoffnung so konnte er seine Verhältnisse wenigstens so weit ordnen, daß er nicht sofort die Hilfe seines Schwiegervaters in Anspruch nehmen mußte. Und warum sollte diese Hoffnung trügen, die auf so sicherer Berechnung aufgebaut war!

In diesen frohen Erwartungen, in denen Maltiz sich wiegte, war er doppelt aufmerksam gegen seine schöne Braut, und auch seinem Schwiegervater gegenüber bot er seine ganze Liebenswürdigkeit auf. Sein Interesse für die Fabrik schien stetig zuzunehmen, ja er spielte wiederholt darauf an, daß er sich wohl entschließen könnte, seine militärische Laufbahn aufzugeben und sich ganz dem Berryschen Besitz zu widmen, falls Otto wirklich keine Lust dazu habe. Und über dieser verlockend wiederauftauchenden Zukunft, die er gänzlich aufgegeben hatte, war Berry nur zu geneigt, den Rennstall sammt „Helios“ und all den verschiedenen Gerüchten über den Grafen, die ihm zu Ohren kamen, zu vergessen.

Auch Claire konnte sich dem Eindruck des ritterlichen, mit allem Blendwerk eleganter weltmännischer Sicherheit ausgestatteten Wesens ihres Verlobten nicht entziehen. Und glücklich darüber, auch ihr Herz, das bisher ihm gegenüber nicht zu Wort gekommen war, ein wenig sprechen lassen zu können, gab sie sich dieser Regung willig hin, sich gewaltsam über die innere Leere hinwegtäuschend.

Schwerer als Claire trug Hans die neue Last. Er suchte sich im Lärme der Arbeit, beim dröhnenden Getöse der Hämmer [641] und Maschinen zu betäuben, und nur die geheime Hoffnung hielt ihn noch aufrecht, daß irgend eine unerwartete Fügung des Schicksals dieses unnatürliche Band zwischen Claire und dem Grafen lösen werde. Allein der Herbst kam, die Blätter welkten und mit ihnen die stille Hoffnung, an die er sich geklammert hatte. In wenigen Wochen sollte die Hochzeit Claires stattfinden.


11.

Graf Maltiz und Otto sahen mit fieberhafter Erregung dem großen Rennen entgegen. „Helios“ war völlig wieder hergestellt, der englische Trainer, den sie um hohe Summen angestellt hatten, versprach sicheren Erfolg. Die ganze Sportswelt blickte auf „Helios“ und ärgerte sich jetzt schon über den glücklichen Kauf des Grafen. Hohe Wetten wurden geschlossen. Siegte „Helios“, so war der Gewinn ein ungeheurer.

Claire begrüßte diese Nervenerregung eben jetzt, wo der Tag ihrer Vermählung immer näher rückte, mit Freuden, sie gewährte ihr eine erwünschte Ablenkung von den quälenden Gedanken. Am Ende gehörte ja der Sport zu ihrem künftigen Leben – so wollte sie auch eine Rolle dabei spielen, und nicht die letzte. Maltiz, der schöne Reiter, als Sieger im Rennen umjauchzt von der Menge, gefeiert von seinen Standesgenossen, sie auf der Tribüne als seine beneidete Braut, den Triumph mitgenießend – ihre lebhafte Einbildungskraft beschäftigte sich ständig mit diesem farbenprächtigen Bilde und fand darin eine gewisse Befriedigung für so vieles andere, was sie schmerzlich vermißte.

Da kam vier Tage vor dem Rennen eine für den Grafen schlimme Post. Sein Vater war auf den Tod erkrankt, seine Anwesenheit auf Schloß Kossan dringend nothwendig. Da gab es kein Ausweichen. Starb sein Vater, so war seine eigene Betheiligung am Rennen eine Unmöglichkeit. Für diesen Fall, der bei dem Alter des Grafen und der Art seiner Krankheit der wahrscheinliche war, mußte also Otto den „Helios“ reiten, denn es war Vorschrift, daß der Besitzer selbst, nicht ein Jockey reite. Und damit war der ganze Erfolg in Frage gestellt; Otto konnte sich als Reiter nicht entfernt mit dem Grafen messen, auch war er noch zu unerfahren und hatte den „Helios“ noch nie bestiegen. Der Graf zögerte mit seiner Abreise, allein die Nachrichten wurden immer schlimmer. „Helios“ zurückzuziehen und nicht gehen zu lassen, war unmöglich; nicht nur der hohe Betrag des Reugelds kam dabei in Betracht – was die Hauptsache war: die Wechsel, welche die Freunde in sicherer Erwartung des Sieges noch reichlicher als sonst ausgestellt hatten, liefen kurz nach dem Rennen ab. Es galt also va banque. Otto erhielt von dem Freunde noch die dringendsten Weisungen, dann nahm dieser mit schwerem Herzen, sein Verhängniß ahnend, Abschied von Claire.

Otto freute sich im stillen; er empfand längst Neid gegen Maltiz, der ihn als Sportsmann und Reiter völlig in Schatten stellte. Jetzt war ihm Gelegenheit geboten, seine eigene Meisterschaft zu zeigen und dem thörichten Gerede der Leute, die ihn immer nur als Schüler des Grafen gelten lassen wollten, ein Ende zu machen. Ein „Helios“ trug auch ihn zum Ziele. Er wartete fieberhaft erregt auf die Nachrichten des Grafen; sie kamen und lauteten zu seinem Aerger günstig – der alte Graf schien sich zu erholen. Da plötzlich, am Abend vor dem Rennen, für das Maltiz schon seine Rückkehr in Aussicht gestellt hatte, traf die Todesnachricht ein. Es war entschieden, Otto mußte den „Helios“ reiten.


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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 21, S. 656–662

[656] Für Claire war durch den Tod des alten Grafen ein Besuch der Rennen unmöglich gemacht, ihr Vater haßte den Sport und wäre so wie so nicht hinzubringen gewesen. So fuhr Frau Emilie allein auf den Rennplatz, um den Triumph ihres Sohnes mit anzusehen.

Auf dem Sattelplatz herrschte große Aufregung, als es bekannt wurde, daß Otto Berry für Maltiz reiten werde. Vergeblich machten die, welche auf Helios gewettet hatten, Einwendungen – der Stall und Helios gehörten beiden Herren zusammen, jeder von ihnen hatte somit die Berechtigung, zu reiten.

Am Totalisator rief die Nachricht einen völligen Umschwung der Stimmung hervor, das Vertrauen auf Helios sank bedeutend. Aber um so höher mußte der Gewinn sein, wenn sich das Mißtrauen, das man dem neuen Reiter entgegenbrachte, nicht bewahrheitete.

Otto selbst war voller Zuversicht. Noch tags zuvor hatte er das Pferd geritten, es war willig seiner Führung gefolgt; auch der Trainer hatte ihm Muth zugesprochen, das Pferd gehe ja von selber, er solle nur anfangs dessen Kräfte schonen. Jetzt saß er schon im Sattel und ritt mit seinen Rivalen dem Startplatz zu. In diesem Augenblick brachte ihm ein Diener des Rennvereins einen Expreßbrief mit dem Poststempel Kossan. Er steckte ihn uneröffnet in die Tasche. Er wußte ja, was darin stand: Verhaltungsmaßregeln, Befürchtungen, die ihn höchstens beunruhigen konnten. Nach dem Rennen war Zeit genug, ihn zu lesen.

Das Zeichen ertönte, das Summen der tausendköpfigen Menge erhob sich einen Augenblick zu einem tosenden Brausen, dann trat lautlose Stille ein. Die Reiter flogen dichtgedrängt die Bahn entlang, nun tauchten sie unter in der schwarzen wogenden Masse der Zuschauer, nun tanzten sie, farbige Punkte bildend, in weiter Ferne wieder auf der Oberfläche. In Zwischenräumen erscholl donnerndes Hurra von den Hindernissen her.

Nach dem ersten Umritt saß noch alles im Sattel; Helios lief an dritter Stelle – Otto zügelte sichtlich sein Feuer. Aber der Sprung des edlen Thieres war elastisch; tadellos, spielend nahm es eben das Hinderniß vor der Tribüne, von seinem Reiter vortrefflich unterstützt. Laute Zurufe belohnten die Leistung. Im Umsehen nahm Helios den zweiten Platz ein und behauptete ihn, so weit man blicken konnte.

Die Aufregung wuchs, der Name Helios ging von Mund zu Mund; die, welche ihrem Vertrauen auf das Pferd trotz des jugendlichen Reiters treu geblieben waren, jubelten. Der Totalisator verhieß fünfzigfachen Gewinn, im Falle Helios siegte. Die Gegner hofften noch immer auf einen Fehler des Reiters im entscheidenden Augenblick, Berry hatte ihrer Ansicht nach das Pferd ohnehin schon zu früh ausgelassen. Nun galt es den letzten Umritt, nachdem Helios beim zweiten bis um eine Kopflänge an das führende Pferd herangekommen war. Das erste Hinderniß, das jetzt passiert werden mußte, nahm Helios nicht mehr so leicht, der linke Hinterfuß stieß hörbar an die Schranke an; ein bedauerndes „O!“ ging durch die Menge. Dennoch hielt er seinen Platz, ja er rückte sogar unmerklich vor. Da erschien das zweite Hinderniß – Helios stutzte, sein Rivale flog in weitem Bogen voraus. Man sah Otto aufrecht in den Bügeln stehen, die Gerte schwingend, das Pferd sprang in kurzen Sätzen an – da, ein dumpfer Krach, ein wilder Aufschrei, wirres Drängen und Laufen – „Helios gestürzt!“ flog die Kunde bis zu den Tribünen.

Eine Dame in der ersten Reihe fiel in Ohnmacht – es war die Kommerzienräthin Berry. Ein junger Arzt, der sich in ihrer Gesellschaft befand, ließ ihren Wagen kommen und fuhr mit ihr durch die gaffende Menge, welche, den Zusammenhang nicht kennend, mit ihrer Aufmerksamkeit zwischen den beiden pikanten Schauspielen, der ohnmächtigen Frau und dem verunglückten Reiter, schwankte, nach der Villa Berry zurück. Ein Blick hatte ihn überzeugt, daß für den Gestürzten schon gesorgt wurde. Dieser lag, die Zügel noch in der Hand, den Tod im fahlen Antlitz, neben seinem Pferde, das den Hinterfuß gebrochen hatte und qualvoll stöhnte. Ein Arzt war um Otto beschäftigt, Offiziere umstanden ihn. Nun richtete sich der Arzt mit einer bezeichnenden Bewegung auf. „Vorbei!“, sagte er leise. „Das Genick gebrochen.“

Auf ein Zeichen von ihm näherten sich Leute mit einer Tragbahre und nahmen den regungslosen Körper auf.

In diesem Augenblick tönte die Glocke vorn am Sattelplatz. Donnerndes Hurra, Hüteschwenken von der Tribüne her! Das Rennen war beendet, man jauchzte dem Sieger zu, und die Menge drängte von der Unglücksstätte hinweg einem erfreulicheren Anblick zu.

Der traurige Zug mit dem Toten zog einsam über die öde Fläche dem Sattelplatz zu, begleitet von einigen Weibern und Kindern, die sich von dem aufregenden Schauspiel nicht trennen konnten.

*               *
*

Als Frau Berry zu sich kam, sah sie Claire und den Gatten um sich bemüht. Erst allmählich dämmerte ihr das Bewußtsein des Geschehenen auf. Aber sie konnte sich nur noch des Rufes erinnern: „Helios gestürzt!“ – was war aus Otto geworden? Herr Berry tröstete sie, selbst nicht das Schlimmste fürchtend – jede Minute müsse Nachricht eintreffen. Diese blieb jedoch auffallend lange aus. Auch Claire wurde jetzt von tödlicher Angst erfaßt. Der Bruder hatte ihr nie besonders nahegestanden, zwischen ihren grundverschiedenen Naturen bestand eigentlich von jeher nur das Band der Gewohnheit, allein der Gedanke, daß er mitten aus dem üppigen Leben heraus seinen Tod gefunden haben könnte, erfüllte sie mit Grauen.

Endlich fuhr ein Wagen vor. Berry bestimmte die Damen, zu bleiben, dann eilte er die Treppe hinunter. Ein Kamerad Ottos kam ihm entgegen – die ernste, feierliche Miene desselben redete deutlich genug.

„Sie bringen meinen Sohn – tot?“

Der Offizier nickte stumm.

Die Hausthür ward weit geöffnet, Diener trugen die in einen schwarzen Mantel gehüllte Leiche herein. Mechanisch griff Berry nach dem Treppengeländer, um nicht zusammenzubrechen. Da lag sein einziger Sohn vor ihm, einem waghalsigen Spiele geopfert! Der Ernst des Todes in den jugendlichen Zügen verlöschte die Erinnerung an die Schmerzen, die ihm dies Kind bereitet, unter heißen Thränen küßte er das starre Antlitz.

In diesem Augenblick ertönte ein gellender Schrei – Frau Berry hatte sich aus den Armen ihrer Tochter losgerissen, war in furchtbarer Angst die Treppe hinuntergeeilt und fiel nun vor der Leiche in die Knie.

Zum ersten Male hielt der Tod Einzug in dieses glückliche Haus. Claire, die der Mutter gefolgt war, erschauerte vor seiner grauenvollen Majestät; blitzartig fühlte sie die ganze Armuth, die ganze Leere ihres Lebens in den letzten Monaten. Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, ob sie, wenn der Verlobte an des Bruders Platz wäre, dann wohl größeren Schmerz empfinden würde ... aber ihr Herz gab keine Antwort auf diese Frage. –

Die Leiche wurde in die oberen Räume gebracht. Als sich der Offizier verabschiedete, um nicht länger die Trauer der Familie zu stören, reichte er Herrn Berry einen verschlossenen Brief, den der Arzt gefunden hatte, als er Ottos Uniform öffnete. Berry erkannte die Handschrift des Grafen und glaubte sich berechtigt, das Schreiben zu öffnen. Vielleicht waren es wichtige Nachrichten, die rasch beantwortet werden mußten. Er las:

 „Lieber Freund!
Meine Unruhe ist unerträglich! Wie nur mein Alter mir diesen Possen spielen konnte und gerade jetzt – verdammtes Pech! Du weißt, was morgen für uns beide auf dem Spiele steht – alles! Schone Helios bis zuletzt, ich kenne ihn; auf kurze Entfernung leistet er unglaubliches, in der Länge, wenn er zu früh angestrengt wird, nichts. Sollte es wirklich schief gehen, so beschwöre ich Dich, thue bei Deinem Alten alles, um die Hochzeit zu beschleunigen. Der Tod meines Vaters darf unter keinen Umständen ein Hinderniß sein, man kann die Feier ja in aller Stille halten. Wir sind verloren, wenn Dein Vater oder Claire zögern – der Wechsel von Lehner ist fällig und wird dem Regiment [658] präsentiert, die Ehrenschuld an Graf C. muß bezahlt werden. Bin ich Claires Gatte, so kommt alles in Ordnung, auch Du kannst dann auf mich rechnen. Die Verhältnisse hier stehen sehr schlecht, Papa hat unverantwortlich gewirthschaftet. Ich verlasse mich in

jedem Falle auf Dich und komme in wenigen Tagen.
Dein Maltiz.“  

Berry schüttelte verächtlich den Kopf. „Schurke!“ flüsterte er und ging hinaus in das Totenzimmer. Claire und die Mutter knieten vor der Leiche.

Trockenen Auges betrachtete Berry, den Brief in der Hand, die Züge des Geschiedenen, dann legte er sachte die Hand auf Claires Schulter.

„Komm’ einen Augenblick mit mir!“

Sie folgte ihm in das Nebenzimmer.

„Bist Du auf weitere schlimmere Botschaft gefaßt, die Dich vielleicht noch mehr erschüttern wird?“

„Auf alles!“ entgegnete Claire.

„So lies diesen Brief des Grafen – es muß sein!“

Claire nahm das Schreiben und las es; ruhig gab sie es zurück. „Sonderbar,“ sagte sie, zu Boden blickend, „eben als Du kamst, träumte ich so etwas mit offenen Augen. Es schien mir alles so lügenhaft, was ich in der letzten Zeit erlebte, diese ganze glänzende, ewig lachende, ewig glückliche Welt, ihre schönen Worte und Schmeicheleien, ihre Liebesbezeigungen – selbst dieses Totenantlitz draußen. O pfui der Heuchelei, in die man mich verstrickte!“ setzte sie mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit hinzu.

„. . . ‚in die ich mich selbst verstrickte‘ – mußt Du sagen. Meine Absichten waren ganz andere, und der Graf hatte von Anfang an nicht mein Vertrauen. Du weißt, Otto täuschte die Hoffnungen, die ich auf ihn setzte. Die Berryschen Werke, die Arbeit meines Lebens und mein Stolz, sie hatten keinen Erben. Da blickte ich auf Dich . . . wenn Du einem Manne meines Schlages die Hand reichtest, so war er ja gefunden, der Erbe!“

Claire fuhr überrascht auf, sie horchte gespannt auf jedes Wort.

„Und wenn der Erwählte ein einfacher Mann der Arbeit gewesen wäre, von niedrigster Geburt – ich hätte den thörichten Hochmuth, der auch mich erfüllte, bezwungen.“

„Aber hätte sich denn überhaupt in unserer Umgebung ein Mann gefunden, wie Du ihn schilderst?“

„Ich fand ihn,“ erwiderte Berry. „Allein eben in unserer Umgebung voll glänzender trügerischer Aeußerlichkeiten mußte er mit seinem natürlichen Wesen in den Hintergrund treten, vielleicht sogar abstoßend erscheinen; trotzdem hoffte ich einige Zeit – ich hatte Gründe, zu hoffen. Aber bald sah ich ein, daß ich mich getäuscht – Maltiz, der blendende Kavalier, mußte ihn ausstechen. So kam es denn, wie es kommen mußte.“

„Und wer . . . wer war der Mann Deiner Wahl?“ fragte Claire leise, ihrer Erregung nicht mehr Meister.

„Hans Davis, das Arbeiterkind, der Findling, der Gespiele Deiner Kindheit, den wir einst wie eine Puppe Dir zu Weihnachten schenkten, der sich wie von einer unbekannten Macht getrieben immer höher emporschwingt."

Claire hatte gewußt, daß dieser Name kommen mußte, aber sie wollte aus dem Munde des Vaters ausdrücklich bestätigt erhalten, wie nahe sie ihrem Glücke gewesen, wie viel sie verscherzt hatte. Der Brief in ihrer Hand brannte wie Feuer, er war der wohlverdiente Lohn für den Leichtsinn ihres Herzens. Und doch trug sie denn wirklich alle Schuld, kam nicht der größere Theil davon Hans zu, der nicht den Muth besaß, um sie zu werben, der sie am Ende gar nicht liebte mit der Kraft, die den Muth verleiht. Ja, das war’s! Er liebte sie nicht! In qualvollem Kampf der Gefühle warf sie sich an die Brust des Vaters.

„Vater!“ schrie sie auf, und der Strom ihrer Thränen brach sich endlich Bahn, „Vater, Hans liebt mich ja gar nicht!“

Sanft legte Berry die Hand auf den Scheitel seines unglücklichen Kindes, dessen innerste Seele sich ihm eben enthüllt hatte. „Beruhige Dich, Claire, es kann ja noch alles gut werden. Und nun komm’, es ist jetzt keine Zeit zu solchem Gespräch!“

Eng aneinandergeschmiegt kehrten sie zu dem Toten zurück. –

Die Nacht senkte sich herab auf die Werke, rothe Gluthen wallten auf und ab über den schwarzen Dächern und den schlanken Kaminen, die hohen Bogenfenster der Werkstätten schienen lichterloh zu brennen – da huschte eine Frauengestalt über den verlassenen, von schwankenden Strahlen durchkreuzten Hof – Claire!

Es duldete sie nicht im einsamen Gemach, unwiderstehlich trieb es sie hinaus, dahin, wo das Tosen der Arbeit erscholl; in dem donnernden Aufruhr der Kräfte, der diese Hallen erfüllte, wollte sie Ruhe suchen vor dem Aufruhr in der eigenen Seele – ja Ruhe bei ihm, nach dessen Anblick ihr Herz mit ganzer Macht verlangte, dem sie ihren Schmerz klagen wollte wie ein Kind der Mutter. Aber wenn sie ihn fand, was dann? Hatte sie noch ein Recht an ihn, nachdem sie ihn freigegeben? Mußte er sich nicht der Freiheit freuen, da er sie doch nicht liebte, nicht lieben durfte . . . sie, die Braut eines anderen! Aber das war sie ja nicht mehr, sie verachtete, sie haßte den Grafen. Und ein bißchen Liebe hatte Hans in seinem treuen Herzen gewiß noch übrig für die Jugendfreundin. Hatte er nicht einst gesagt: „Ich würde für Sie sterben“?

So zuckte es in ihr auf und ab wie der glühende Dampf über den Werken. Bald blieb sie zögernd stehen, bald eilte sie raschen Schrittes vorwärts.

Aus der Kupferschmiede drang der betäubende Lärm der Hämmer, eine rothe Feuerstraße lief zu dem weiten offenen Thore heraus über den Hof. Sie wollte darüber wegeilen, da fiel ein breiter Schatten aus der Schmiede heraus – eine große Gestalt, im grellen Lichte, das von hinten kam, schwarz erscheinend, näherte sich von dort. Claire wankten die Knie. Wenn er es wäre! Sie konnte, sie durfte ihn nicht sehen, jetzt nicht, mit einer jähen Bewegung wandte sie sich zur Flucht. Aber Hans hatte sie schon erkannt und rief besorgt ihren Namen. Sie stutzte und hielt inne in ihrem wilden Laufe – mit ein paar Sprüngen war er an ihrer Seite, gerade zeitig genug, um die Wankende in seinen Armen aufzufangen.

Wortlos hielt er die halb Ohnmächtige einen Augenblick in seinen Armen, dann rief er besorgt: „Fräulein Claire, Sie sind krank ... der Schmerz um Ihren armen Bruder . . . o, ich begreife! Glauben Sie mir, ich fühle mit Ihnen. Und der, der Sie am besten trösten könnte, Ihr Bräutigam, ist fern, steht selbst an einem offenen Grabe ... Doch Sie sollten nach Hause, Fräulein Claire, jeden Augenblick können die Arbeiter aus den Fabriken kommen. Sie wollten wohl zu einem Kranken drüben in den Arbeiterwohnungen?“

„Zu einem Kranken? Ich will zu keinem Kranken, ich will nur zu Ihnen – ja, zu Ihnen, ich will nicht mehr lügen! Zu Ihnen, Hans, um Sie anzuklagen als falsch, als undankbar, als, was weiß ich . . . Sie drangen ihn mir auf, diesen elenden Maltiz . . . ‚er wird Sie glücklich machen,‘ das waren Ihre Worte. Er aber wollte nicht mich, sondern nur das Geld meines Vaters, das häßliche abscheuliche Geld – ich war ihm nur eine lästige Beigabe, und mein eigener Bruder verhandelte mich an ihn; ein Brief, den man bei Otto fand, verrieth alles. O, es ist schändlich, schändlich . . . und Sie wußten vielleicht darum und sahen geduldig zu, wie Ihre Claire – ja, undankbar, falsch haben Sie gegen mich gehandelt!“

Unaufhaltsam, sich überhastend, mit leidenschaftlicher Gewalt strömten die Worte wie ein Wildbach aus verborgenen Tiefen und Hans erblickte bebend in seinen Wellen das kostbare Kleinod, das er schon für immer versunken glaubte. Sein gestählter Arm zitterte unter der theuren Last.

„Falsch, undankbar – ich? Blicke um Dich!“ flüsterte er. „Kennst Du den Platz? Es ist derselbe, wo wir vor Jahren Abschied nahmen. Hier schlang sich Dein Arm um meinen Hals, hier blieb ich zurück, berauscht von meinem Glücke, als Du mit einem Kusse verschwunden warst im Dunkel, und seit dieser Zeit hatte ich nur einen Gedanken, ein Verlangen, Dich, Claire! Seit der Zeit liebe ich Dich – nicht mehr wie ein Freund, der Dir alles zu danken hat, nein, als Mann!“

Claire hatte gierig seinen Betheuerungen gelauscht, bei dem letzten Worte schnellte sie wie von einem Schlage getroffen empor und entwand sich seinen Armen. „Als Mann?“ rief sie schneidend. „O, wenn dieser Mann nur auch den Muth gefunden hätte, seine Liebe zu bekennen, um sie zu ringen . . . O, über diesen herrlichen Mannesmuth!“

Der Hohn Claires entzündete in Hans einen dumpfen Zorn, eine blinde Rücksichtslosigkeit, die ihn alle Vorsätze vergessen ließ. „Sie sollen nicht länger das Recht haben, einen Feigling in mir zu sehen! So hören Sie denn!“ Er trat dicht an sie heran. „Mich kettet ein Verhängniß, das mich auf ewig von Ihnen [659] trennt; an jenem Abend, an dem wir hier Abschied nahmen, kroch es zum ersten Male heran. Und der es brachte, war . . . nein, nein, ich kann es Ihnen nicht sagen, jetzt nicht – haben Sie Mitleid!“

„Bei allem, was Ihnen theuer ist, sprechen Sie!“ drängte Claire. „Dieses Verhängniß – es kann nicht düsterer sein als das, dem ich eben entgangen. Und auch ich liebe Dich, Hans, habe Dich immer geliebt . . . das zu sagen, kam ich. Und nun sprich!“

Hans griff sich an die Stirn, rang nach Fassung. „Mein Vater lebt noch,“ flüsterte er.

„Er ist arm, ein Arbeiter, uns feindlich gesinnt – ist’s nur das?“

Hans rang nach dem furchtbaren Worte „Verbrecher“ – es blieb ihm in der Kehle stecken. Wenn ihre Liebe doch nicht stark genug war, das Gräßliche zu ertragen, wenn er dies Glück verlieren mußte, jetzt eben, wo es sich ihm erschloß! Der Gedanke drohte ihn wahnsinnig zu machen. „Laß mich schweigen, nur heute noch!“ flehte er. „Dein plötzliches Erscheinen, die Worte, die Du gesprochen – meine Gedanken verwirren sich . . . ich litt so sehr in der letzten Zeit. Und dort kommen Leute – wenn man uns bemerkt! Uebermorgen schenke mir eine Viertelstunde, um diese Zeit, im Parke, bei der Fontäne, wo wir so oft zusammen spielten – dann sollst Du alles hören.“

„Gut denn! Aber was es auch sein mag, Du kannst alle Schatten beschwören, wenn Du mich zugleich das eine hören läßt, das ich ewig von Dir hören möchte: ‚Ich liebe Dich!‘ Denn ich – ich habe nur einen Wunsch – Dich!“ flüsterte sie voll Innigkeit.

Er zog sie leidenschaftlich an seine Brust. Einen Augenblick hielten sie sich schweigend umschlungen – über ihren Häuptern loderten die Feuer gleich Opferflammen. Da näherten sich Schritte.

„Uebermorgen bei der Fontäne!“ flüsterte Claire, seinen Arm lösend, und verschwand im Dunkel.

Hans folgte ihr sinnlos, er hörte ihre Tritte auf dem Kies, er sah bald ihren Schatten, bald ihre Gestalt selbst vor sich hereilen, bis sie in der Thür der Villa verschwand.

Da hielt er inne. Im Innersten erschüttert, starrte er auf das Gebäude, das von Baugerüsten umgeben war, deren Stützen schwarz in den Nachthimmel hineinragten – die Villa Berry sollte das junge gräfliche Paar in einem neuen vornehmen Gewande empfangen.

Aus den Mittelfenstern des ersten Stocks drang ein stumpfes rothes Licht durch die Spitzenvorhänge; dahinter lag wohl der Sohn des Hauses, dahingerafft in voller Kraft. Wie schwer Herr Berry diesen Verlust empfinden, wie tief die Aufklärung über den wahren Charakter des Grafen den stolzen Mann niederbeugen mußte! Und nun sollte er selbst mit seinen Enthüllungen hervortreten, sollte zu dem allem das Verlangen fügen, dem Sohne des Verbrechers das Glück der Tochter anzuvertrauen! Das war nicht bloß unverantwortlich, das war auch thöricht gehandelt. Berry, der durch die Aufhebung der Verlobung mit dem Grafen jedenfalls seine Familie schon genug bloßgestellt wußte, würde sich hüten, eine neue größere Schmach heraufzubeschwören und einen Davis zum Schwiegersohn zu nehmen. War es da nicht für alle besser, auch für Claire, die der Last dieses Verhängnisses nicht gewachsen war, wenn er allein sein Geheimniß trug und schwieg. Vielleicht daß sich für immer ein Abkommen treffen ließ mit Holzmann, mit dem Vater, wenn auch mit Berryschem Gelde! Das war ja kein Betrug, was lag an dem Gelde, wenn es sich um das Glück zweier Menschen handelte! Und er wollte ja darum arbeiten Tag und Nacht. Das leuchtende Ziel, nach dem er so lange gerungen hatte, das, schon verloren, jetzt zum Greifen nahe vor ihm lag, blendete sein Gewissen. „Zu Holzmann!“ war die Losung.

Unzählige Pläne schmiedend und wieder verwerfend, wie dieser Mensch unschädlich gemacht werden könnte, erreichte er, ohne zu einem klaren Entschluß gekommen zu sein, das „Schwarze Rößl“. Holzmann war nicht da, doch der Wirth wußte seine Wohuung – „ganz in der Nähe“, und erbot sich sogar, einen Jungen mitzuschicken; „Herr Holzmann“ war ihm ein werther Gast, der etwas draufgehen ließ, wenn der Verdienst gut war.

Hans nahm das Anerbieten an.

Der Weg führte durch dunkle Gäßchen; die Atmosphäre war noch schlimmer als die in der Kleegasse, das Volk, das sich hier bewegte, stand auf einer noch tieferen Stufe als die Gäste der „Fackel“ und des „Prassers“. Lichtscheue Gestalten, düstere Schildwachen des Lasters, standen an allen Ecken; die trüben, übelriechenden Wasser einer übergelaufenen Gosse bespülten das hölzerne Pflaster. Nun ging es durch einen finsteren, von einer Lampe spärlich erhellten Durchgang, an dessen Seite eine steile ausgetretene Treppe, mit Stricken als Geländer, in die lichtlose Höhe führte. Hier wohnte der Gesuchte.

„Herr Holzmann ist zu Hause,“ sagte der Junge, auf ein erleuchtetes Fenster in der schwarzen feuchten Mauer deutend, einem Ueberbleibsel der alten Stadtbefestigung, welche den auf der anderen Seite liegenden Häusern als Rückwand dienen mußte. Jetzt bewegte sich oben das Licht, die willkürlich vertheilten Fenster bald beleuchtend, bald ins Dunkel versinken lassend; das häßliche Gezänk eines Weibes tönte herunter. Der ganze Bau schien zu leben, zu erwachen zu etwas Entsetzlichem. Ein Schatten fiel durch eines der Fenster – das war wohl Holzmann, sein Dämon! Wenn er hinaufspränge, ihn ermordete ... ein Teufel weniger auf der Welt! Er griff unwillkürlich in die Tasche nach dem Messer; ein heißer Strom stieg in ihm auf, vor die Augen senkte sich ein rother Schleier – er mußte an den „Anfall“ des Vaters denken.

Da floß der Schatten plötzlich auseinander, es waren jetzt zwei, der eines kleinen und eines großen Mannes, Holzmanns und – –

War es Zorn, Freude oder Entsetzen? Er wußte es selbst nicht, was ihm das Herz so schlagen machte – dort oben war sein Vater! Jetzt gab es kein Besinnen mehr. Er eilte die dunkle Treppe hinauf. Von der Höhe herab klang noch immer das Gezeter des Weibes. Ein schmaler Lichtstrahl glitt jetzt über die brüchigen leiterartigett Stufen herab. Hans ging dem Lichte nach, es kam aus einer Zimmerthür des ersten Stockwerkes, die offenbar die Holzmanns war, da sonst alles still und finster dalag.

Er horchte. Es wurde nur geflüstert, das war so Sitte bei Holzmann; dazwischen hinein klirrte ein Glas. Endlich klopfte er – man rief nicht „herein“. Ein schleichender Schritt näherte sich der Thür. Nach einer kleinen Pause ward sie vorsichtig geöffnet, Holzmanns mageres Vogelgesicht erschien in der hellen Spalte.

„Wer ist’s?“

„Hans Davis.“

Drinnen wurde hastig ein Stuhl zurückgestoßen, dazu klang es wie ein unterdrückter Fluch.

Holzmann wandte sich unschlüssig zurück nach dem Zimmer, es war, als ob er gegen jemand die Achseln zuckte. Da stieß Hans selbst die Thür auf, und vor ihm, mitten im Zimmer, stand der „Schwarze Jakob“, die Hände in den Taschen, die Blicke scheu abgewendet.

Holzmann stand zwischen beiden, schlug sich auf die Schenkel, kraute sich den kurzgeschorenen Kopf und kicherte. „Das ist doch dämlich – hihihi! So ein Zusammentreffen – das bedeutet was, Jakob! So küßt Euch doch nach Herzenslust, geniert Euch nicht!“

„Es freut mich, daß ich Dich treffe, Vater!“ sagte Hans, die Hand hinstreckend, die nicht ergriffen wurde. „Es ist eine gute Vorbedeutung für das Geschäft, das mich herführt.“

„Na, mit der Freud’! Aber um einen Tag später hättest vielleicht leichter gethan mit Deinem Geschäft ... wir haben kein Glück, wir Davis’.“ Er wühlte mit den Häunen in der Tasche. „Und doch hängst Du Dich allweil an uns!“ wandte er sich an Holzmann.

„Na, warum nicht? Ihr seid ja ganz brauchbare Leut’,“ kicherte der. „Ein Geschäft, sagen Sie, Herr Davis, führt Sie hierher? Ja, was denn für ein Geschäft, so unter der Zeit? Sehnsucht doch nicht nach Ihrem – Liebling?“

„Ich muß frei werden von Ihnen,“ sagte Hans in festem Tone. „Werde ich es jetzt nicht, kommen Sie mir jetzt nicht entgegen, dann mag das Schicksal seinen Lauf haben, mir liegt dann nichts mehr weder an meiner Ehre noch an meinem Leben!“

„Ah, pfeift’s aus dem Loche? Aber wegen dreißig Mark monatlich so in die Stange beißen, seinen eigenen Vater opfern! Sehen Sie ihn doch an, wie armselig er aussieht – erinnert Sie das nicht an Ihre – Ihre Pflicht?“

Das Gesicht des „Schwarzen Jakob“ war noch finsterer geworden, er nagte an seiner Unterlippe, die Fäuste drückten sich [660] an den Leib, als wenn er sich mit Aufwand aller Kräfte zurückhielte. „Pflicht ... in Deinem Munde!“ fuhr er höhnisch auf. „Aber er hat gar keine Pflicht gegen mich, der Hans. Für was denn? Wozu denn? Laß Dich nicht einschüchtern von dem Kerl,“ wandte er sich an den Sohn, „alles Humbug! Er wird sich hüten, mich anzuzeigen. Wie Du nur auf den groben Leim gehen konntest!“

„So! So!“ antwortete Holzmann. „Nun ja, Vater und Sohn müssen zusammenhalten, Respekt davor! Wenn ich Ihnen aber sage, daß der Herr Papa jetzt eben gekommen ist, um mir selbst einen Antrag zu –“

Jakob stieß den Fuß auf, daß der Kalk von der Decke fiel, und schleuderte Holzmann einen wüthenden Blick zu, der es diesem gerathen erscheinen ließ, mitten in seiner Rede abzubrechen.

„Laß den Wicht da doch seine Anzeige machen!“ donnerte der Alte. „Wegen meiner wirst Du ihm doch nicht den Narren machen. Und wegen Deiner – das ist auch nur Einbildung; was soll es Dir schaden, wenn die Geschichte bekannt wird? Es kann ja mehr Davis’ geben! Ja, wenn Du das Mädel herumgekriegt hättest, die Claire, die jetzt den Grafen heirathet, dann – dann wär’s was anderes!“

„Sie heirathet aber nicht den Grafen, sie liebt mich, und ich – ich kann, ich darf nicht um sie werben, ehe ich nicht frei bin von den Fesseln, die Du mir angelegt hast durch die unselige That. Darum bin ich hier.“

Jakob ließ sich schwer auf einen Sessel fallen. Auch Holzmann war verblüfft. „Gratuliere, gratuliere!“ rief er dann zu Hans gewendet. Ich sag’ es ja, ein Mensch wie Sie! Aber was machen Sie denn da lange Geschichten? Für den Mann des Fräulein Berry ist es doch nicht schwer, ein Abkommen zu treffen mit einem armen Teufel, wie ich einer bin! Glaubeu Sie aber nicht, mich mit einer Bettelsumme abfinden zu können, eine Gelegenheit wie diese kommt für mich nie wieder. Kurz und gut – Sie verschaffen mir im Geschäft Ihres Schwiegervaters ein einträgliches und nicht zu anstrengendes Pöstchen, eine Aufseherstelle oder so etwas, zur Sicherung für meine alten Tage –“

„Was sagen Sie da – ich soll Sie Herrn Berry ins Haus . . . das wagen Sie einem ehrlichen Manne zu bieten!“

„Ja wenn Sie so gar ehrlich sind, dann ist allerdings schwer handeln! Was wollen Sie denn dann eigentlich bei mir? Ihr Vater und ich, wir waren im besten Zuge, alles ohne Sie zu ordnen – dem Herrn Papa liegt ja auch alles daran, obgleich er nicht so thut. Wenn sich nur mit Ihnen reden ließe! Na, lassen wir’s ... Also übermorgen wird der leichtsinnige junge Berry begraben? Nachmittags? Natürlich großes Leichenbegängniß ... die Arbeiter, die Beamten, die ganze Familie? Und man hat wohl nicht einmal Zeit gehabt, die Villa ordentlich in Stand zu setzen und die Gerüste, die ich neulich gesehen habe, abzuschlagen?“

„Was hat denn das mit unserer Angelegenheit zu thun?“ fragte Hans überrascht.

„O nichts, nichts; es ging mir nur gerade so durch den Kopf.“

„So schweig’ mit dem Unsinn!“ mischte sich jetzt der Alte wieder ins Gespräch, in drohender Haltung an Holzmann herantretend. Und Du, Hans, hast ganz recht, Du kannst auf den Vorschlag von Holzmann nicht eingehen. Ueberlasse mir das ganze Geschäft, ich habe Dich hineingebracht, ich will Dich auch wieder herausbringen. Kümmere Dich nicht weiter darum; Holzmann wird so klug sein, sich mit meinem Vorschlag zufrieden zu geben, sonst könnt’s leicht sein, daß mich einmal die Wuth packt und ich ein anderes End’ mache. Trau’ mir nicht zu weit, Holzmann, es geht mir jetzt bis da ’rauf!“ Er machte mit dem Finger einen Strich unter dem Munde und in seinen Augen flammte es unheimlich.

„Narr!“ erwiderte Holzmann, „als ob die Sach’ nicht auch mein eigener Vorschlag wär’!“

„Welche Sache denn? Ich muß sie hören!“ forderte Hans mißtrauisch.

„Nein, Du hörst sie nicht,“ entgegnete der Alte. „Du hast gar nichts damit zu thun, und geht’s aus, wie es mag ... frei bist! Mehr braucht Dich nicht zu kümmern; zuviel Wissen macht Kopfweh! Jetzt geh’ und träume von Deinem Schatz!“

„Ich muß den Vorschlag erfahren, eher gehe ich nicht!“ rief Hans entschlossen.

Jetzt trat Holzmann vor, der im Hintergrunde lauerte und hinter dem Rücken von Hans dem Alten zugewinkt hatte. „Nun, warum thust denn so geheimnißvoll, daß Dein Sohn meinen muß, es stecke wieder eine Lumperei dahinter. Ein Geschäft wollen wir zusammen gründen, ein ganz einträgliches Geschäft, bei dem der Herr Papa für mich eine unentbehrliche Kraft ist; dafür streich’ ich Sie aus meinem Schuldbuch. Das ist alles.“

„Und warum verschweigen Sie die Art des Geschäftes?“ fragte Hans erregt.

„Die Art?“ Holzmann spuckte aus und schob den Cigarrenstummel in die andere Ecke des Mundes. „Nu, wissen Sie, die Art ist gerade keine sehr noble, ich möcht’ fast sagen, ein bißl schmutzig, aber einträglich, einträglich –“

„Und ehrlich, nicht wahr, Vater?“

Holzmann wandte sich auf dem Stiefelabsatz herum zu dem Alten, der im Hintergrund stand.

„Und ehrlich,“ tönte es dumpf von dort wie ein schwerer Seufzer.

„Und ich werde Dich unterstützen mit meinem eigenen Verdienst, das darf ich ja, auch insgeheim. Dann fängst Du etwas anderes an, ein richtiges Geschäft, und dann – wenn die alten Geschichten gebüßt und vergessen sind, dann kommst Du und lebst still Deine alten Tage in unserer Nähe. O, alles wird gut werden, alles wird vergeben und vergessen sein.“ In seiner blinden Freude, auf so unerwartete Weise von der erdrückenden Last befreit zu sein, ließ Hans jedes Mißtrauen fahren und sah die Zukunft im rosigsten Lichte.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte der „Schwarze Jakob“ auf seinen Sohn, der in diesem wüsten Raume verlockende, nie geschaute Bilder vor sein Auge zauberte – ein blühenbes Geschäft, in dem er nach Herzenslust schaffen konnte, er selbst umgeben von der Liebe seiner Kinder, alles vergeben, vergessen . . . und die gute arme Mutter versöhnt herabschauend auf all das Glück und den Segen! Plötzlich schnitt ein häßliches Lachen Holzmanns die schönen Bilder entzwei – er stöhnte auf wie ein [661] verwundetes Thier und lachte dann gezwungen mit, daß ihm die Thränen in die Augen traten.

„Na, so wird es gerade nicht kommen,“ sagte er rauh. „Aber ich bin auf dem Wege und der Holzmann auch, und darum handelt es sich. Willst Du mir dafür danken und vergessen, was Du meinetwegen hast erleiden müssen, soll’s mir recht sein. Ich bin halt so hineingekommen in das Fahrwasser, weiß der Teufel wie, und Dich hat’s ausgeworfen auf sicheren Boden, das ist der ganze Unterschied. Wirst nicht so herb urtheilen, wenn Du das bedenkst!“ Es lag eine Bitte in den letzten Worten.

Nun befiel Hans doch eine Bangigkeit, die dunkle Ahnung eines Unheils. „Vater, wäre es nicht besser, ich würde offen Herrn Berry und Claire Deine unglückliche Lage, Deine guten Vorsätze mittheilen? Claire liebt mich ja, sie wird bei ihrem Vater ein gutes Wort für Dich einlegen –“

Der Alte wandte sich mit einer ärgerlichen Bewegung ab. „Jetzt laß es aber gut sein – ich will nichts von Deinem Herrn Berry und Deiner Claire. Die Leut’ und vergessen! Und jetzt geh’ – Du hast nichts mehr zu thun mit uns zwei, das muß Dir genug sein!“

Traurig reichte Hans dem Vater die Hand. Dieser ergriff sie mit abgewandtem Gesicht und preßte sie krampfhaft.

Holzmann sah dem alten Davis mit komischer Gebärde ins Gesicht. „Thränen? Na, das ist rührend!“

Im gleichen Augenblick traf ihn ein Faustschlag auf den Kopf; er taumelte ächzend zurück und griff nach einem Messer auf dem Tische. Dieser Anblick schien Davis toll zu machen, die lange verhaltene Wuth gegen den Verhaßten brach sich Bahn, er sprang mit einem wilden Satze vor und schnürte die Kehle Holzmanns mit beiden Händen zusammen; sein Athem ging keuchend, die Augen waren blutunterlaufen.

Hans kannte die Wirkung dieses eisernen Griffes – ein Mord geschah, wenn er nicht einsprang. Schon wurde Holzmanns Blick gläsern und starr, seine ermatteten Glieder gaben den Widerstand auf – da löste Hans mit fester Hand die verkrampften Finger des Vaters, Holzmann sank keuchend zu Boden.

„Komm’ Vater, laß ihn!“ Er zerrte den Unschlüssigen am Arme gegen die Thür.

Jakob folgte einige Schritte, blickte dann auf den Mann am Boden, auf Hans, und plötzlich machte er sich gewaltsam frei. „Ich bleib’ – es muß sein, um Deinetwillen!“

Männerstimmen wurden draußen laut, sie kamen von der oberen Treppe.

„Mach’, daß Du fortkommst, man darf Dich hier nicht sehen!“ mahnte der Vater.

Betäubt, von einer instinktiven Angst vor neuen Verwicklungen getrieben, eilte Hans, ohne sich umzusehen, die Treppe hinab, über den Hof, ins Freie. Was hatte er erreicht? War er wirklich frei, so lange der Vater in der Hand dieses Schurken war? Was konnte das für ein Geschäft sein, von dem die Rede war? Ein ehrliches – im Bunde mit Holzmann? Unmöglich! Also zurück! Und doch – wozu? Der Vater folgte ihm ja doch nicht!

In rasendem Laufe war er bis zur Villa Berry gelangt, hier kam er zur Besinnung und schöpfte Athem im Schatten eines Baumes. Blutroth leuchteten die Fenster des Totengemachs, er konnte den Blick fast nicht davon wenden. Da flammte ein Licht auf der linken Seite des Baues auf, ein Fenster wurde hell. – Claires Zimmer! Ob sie wohl Schlaf fand nach solchem Tage? Ob sie je wieder so unbesorgt wie einst zur Ruhe gehen konnte, wenn sie erst mittrug an den Ketten, die ihn umschlangen? Denn alles bekennen – übermorgen bei der Fontäne – es gab doch keinen anderen Weg! Wie konnte er sein Glück auf das Schweigen eines Verbrechers gründen?




12.

Das Schicksal Ottos erregte allgemeine Theilnahme in der „Gesellschaft“. Er war auf der Wahlstatt des Sports gefallen, die ganze vornehme Welt empfand es daher als eine Verpflichtung, ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Eine dichte Menschenmenge umlagerte die Villa Berry, angelockt von dem glänzenden Schauspiel, das hier zu erwarten war, begierig zu sehen, wie der sonst vom Geschick so begünstigte Mann, der Berry, dem Zeit seines Lebens alles so herrlich geglückt war, diesen harten Schicksalsschlag trage. Man sprach von „Helios“, dem vielen Gelde, das mit ihm verloren worden war, dem Pech des Grafen Maltiz, des Verlobten der jungen Berry.

„Was, des ‚Verlobtetn‘?“ ließ sich da eine Stimme hören. „Abgedankt ist er, bankerott, aus ist’s mit ihm!“

Von Mund zu Mund ging die Neuigkeit; man lachte darüber, man freute sich, diese Bevorzugten, oft Beneideten auch einmal tüchtig heimgesucht zu sehen, und fand einen Trost darin für den eigenen drückenden Kummer.

Der Sarg, blumenbedeckt, von acht Soldaten getragen, erschien unter dem Portal. Offiziere in glänzender Uniform gingen zur Seite, dahinter kam der Vater, Kommerzienrath Verry, festen Schrittes.

Alle Köpfe reckten sich nach ihm. „Der Berry!“ flüsterte es bis in die hintersten Reihen.

Die strengen festen Züge des Kommerzienrathes verriethen nichts von dem, was in ihm vorging – so wie jetzt blickte er auch bei seinem Rundgang durch die Fabrik oder wenn man zu ihm in sein Bureau gerufen wurde, zu Lob oder Tadel. Nur die festgepreßte Unterlippe zuckte manchmal schmerzlich und die Festigkeit des Schrittes schien nicht ganz ungezwungen zu sein.

Neben Berry, in gleicher Linie mit ihm, während alle übrigen Beamten der Fabrik erst in einem Abstand folgten, ging Hans Davis. Diese Anordnung gab reichlichen Gesprächsstoff für die Zuschauer, unter denen sich viele Arbeiter der Fabriken befanden. Was war dieser junge Mann, daß er bei solchem Anlaß zur Linken Berrys gehen durfte wie ein Angehöriger der Familie? „Ein Monteur der Fabrik“ – das reichte doch nicht zu. Des Kommerzienraths Liebling, der die neue Lokomotive erdacht hatte – aber das gab ihm doch noch nicht die Rechte eines Familiengliedes! „Der Nachfolger des Grafen – er bekommt das Mädel und den ganzen Mammon,“ lief es plötzlich durch die Reihen und niemand wußte, woher die Kunde stammte. Jetzt war Hans Davis der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – dieses unverschämte Glück!

Oben am Fenster standen zwei Damen in Schwarz, die Mutter und die Schwester des Toten. Ehe der Zug sich in Bewegung setzte, wandte sich Davis um und schaute hinauf. Dann [662] schweifte sein Auge über die Köpfe der Menge – eigentlich war dort sein Platz. Unfaßbare Laune des Schicksals, die ihn hierher, an diesen Platz gestellt! Da blieb sein Blick auf einer kleinen Gestalt haften, eine blaue Bluse, eine wohlbekannte braune Schirmmütze, jetzt ein Gesicht – Holzmann! Hans fühlte das unruhige, nie sich ganz öffnende Auge des Mannes höhnisch auf sich gerichtet, er glaubte, am Halse dieses Menschen noch die rothen Male zu erblicken, die seines Vaters Hände hinterlassen hatten. Was suchte Holzmann hier? Hatte ihn bloß die Neugierde hergeführt? Richtig – er hatte sich ja schon vorgestern nach dem Leichenbegängniß erkundigt. Aber hatte der Verbrecher, der immer seine dunklen Pläne verfolgte, nicht noch weiter gefragt – ob alle Beamten und Arbeiter mit zur Beerdigung gehen, ob das Gerüst noch da sei … Ein Verdacht blitzte in Hans auf. Und von einem gemeinsamen Geschäft hatte Holzmann und widerwillig auch der Vater gesprochen – wenn dieses gemeinsame Geschäft ein Einbruch wäre, wenn der Vater, um den Sohn loszukaufen, sich Holzmann zum Helfer angeboten hätte!

„Eine für mich unentbehrliche Kraft“ hatte Holzmann den Vater genannt, und der Vater kannte die Baulichkeiten, die Kassenräume bei Berry! Und doch, es konnte ja nicht sein, der Vater hatte ihn ausdrücklich versichert, daß das Geschäft ein „ehrliches“ sei.

Inzwischen war der Zug am Kirchhof angelangt, und Hans wurde gewaltsam aus seinen trüben Gedanken herausgerissen, als er sich mit einem Male vor dem offenen Grabe fand. Der Geistliche trat vor und hielt die Trauerrede, dann wurde der Sarg hinuntergelassen in die Erde – die bunten Uniformen, die Waffen der Soldaten glitzerten im vollen Sonnenlicht, auf den Grabhügeln rings umher stand die gaffende Menge, das bunte Schauspiel des Lebens an der Stätte des Todes.

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1892, Heft 22, S. 693–695

[693] Das Begräbniß war zu Ende. Der Kommerzienrath trat noch einmal an die Gruft und warf dem Sohne eine Handvoll Erde ins Grab – seine Kräfte waren erschöpft. Er verlangte nach seinem Wagen und lud zum neuen Staunen seiner Umgebung Davis ein, an seiner Seite Platz zu nehmen. Hans selbst war überrascht: soweit war Herr Berry in seiner Vertraulichkeit noch nie gegangen. Sah er in ihm den Ersatz für das, was er von seinem Sohne erhofft hatte?

Berry lehnte ermattet in der Ecke, mit geschlossenen Augen. Hans fühlte sich tief bewegt von dem Anblick. Was hatte der Mann gelitten diese letzten Tage über, und was wartete seiner noch, wenn er selbst vor ihn hintrat mit seiner Enthüllung!

„Die Verlobung Claires mit dem Grafen ist gelöst,“ begann Berry unerwartet. „Es war dem Manne um mein Geld, nicht um mein Kind zu thun. Claire ist schwer getroffen. Nicht daß sie den Grafen liebte – ich weiß nun, daß ganz andere Beweggründe sie zur Einwilligung in die Verlobung bestimmten. Aber sie hat mit Entsetzen in den Abgrund der Lüge und Heuchelei gesehen, an dessen Rand sie sich begeben – ein Abscheu hat sie erfaßt vor dem schalen Getriebe der vornehmen Welt, eine Scham vor sich selbst; sie könnte leicht verbittert werden für ihr ganzes Leben. Sie kann jetzt doppelt einen Freund brauchen, an dem sie sich wieder aufrichtet, der ihr beweist, daß nicht alles Lüge ist auf dieser Welt. [694] Und Sie sind dieser Freund, Hans, sind es von jeher gewesen. Sie haben sich aus falscher Bescheidenheit zurückgezogen von Claire, seit sie die Verlobte des Grafen war. Ich wunderte mich bei Ihrer sonstigen Energie, Ihrem Selbstbewußtsein, daß Sie so willig in den Schatten traten.“ Sein Blick ruhte forschend auf Hans. „Oder hatten Sie einen anderen zwingenden Grund?“

„Ja, ich hatte einen solchen Grund,“ erwiderte Hans fest.

„Und welchen? Ich verlange Offenheit, verlange Wahrheit nach so vieler Lüge, die ich erfahren.“

Hans fühlte, jetzt war die Zeit gekommen, die Last abzuwerfen, jetzt oder nie! Entschlossen begann er: „Ich liebe Claire –“

„Und fanden den Muth nicht, diese Liebe zu gestehen?“

„Ich hatte den traurigen Muth, dies zu thun, gestern hatte ich ihn. Aber ich fand nicht die Kraft, zugleich zu gestehen, warum ich so lange zögerte, warum dieser Muth eine Feigheit, ein Verbrechen ist, selbst jetzt noch, wo ich weiß, daß Claire mich liebt.“

Berry machte eine hastige Bewegung, die höchste Erregung malte sich in seinen Zügen.

„Aber jetzt will ich alles gestehen, rückhaltlos. Mein Vater – er ist nicht bloß ein armseliger Arbeiter, er ist … ein Verbrecher, ein Dieb, auf den die Polizei fahndet, der Sklave eines Genossen im Verbrechen, dessen Schweigen ich bezahle, der jede Stunde meinen Namen öffentlich brandmarken kann. Ich war zu feig, offen zu bekennen, und zu schwach, zu verzichten, so war ich nahe daran, den Frieden Ihrer Tochter, Ihrer Familie nicht weniger aufs Spiel zu setzen als dieser Graf. Ich wollte schweigen, mein Glück heimtückisch rauben, das Stillschweigen dieses Schurken weiter erkaufen. Jetzt wissen Sie alles, auch daß ich nicht der Mann bin, den Sie suchen.“

Berry schwieg, als Hans geendet hatte. Der Wagen fuhr schon durch die Allee, die zur Villa führte, an der Stelle vorbei, wo einst Marie Davis den Tod gefunden hatte.

„Und Claire liebt Sie also? Sie gestand Ihnen, daß Sie ihr Herz besitzen?“ fragte Berry nach einer Weile.

Hans nickte stumm.

„Wo, wann that sie das?“

„Gestern Abend. Sie wollte einen Krankenbesuch machen, da traf ich sie auf dem Fabrikhof.“

Berrys Gesicht verrieth keine Ueberraschung. „Sie haben ihr keinerlei Andeutungen über den wahren Sachverhalt gemacht?“

„Ich wollte ihr alles sagen, allein ich konnte es nicht. Nur von einem Verhängniß sprach ich, das zwischen uns liege. Heute noch aber wollte ich reden.“

„Das ist schlimm, daß Sie so gesprochen haben,“ entgegnete Berry, in dem ein Plan zu reifen schien. „Jedenfalls darf Claire nicht mehr erfahren, ich mache Ihnen das zur Pflicht. Verzichten Sie darauf, meine Tochter heute noch zu sehen, Ihr Geständniß abzulegen; ich werde Claire darüber verständigen. Wozu einen düsteren Schatten werfen auf ihr ganzes künftiges Leben und sie unnütz beschweren?“

„Unnütz beschweren, jetzt unnütz, das sehe ich ein,“ wiederholte Hans tonlos. „Seien Sie außer Sorge, ich werde Fräulein Claire nicht sprechen. Ich verlasse heute noch Ihr Haus, die Stadt –“

„Sie bleiben!“

„Unter Claires Augen, ohne Hoffnung – unmöglich, für mich und Claire unmöglich!“

„Sie bleiben!“ klang es noch befehlender.

In Hans regte sich ein Gefühl der Empörung über diesen kurzen Befehl, die einzige Antwort, die ihm auf die Enthüllung seiner Qualen geworden. Das war wieder der alte harte Berry! Schon lag ein herbes Wort auf den Lippen des jungen Mannes, da hielt der Wagen vor der Villa, Berry öffnete den Schlag. „Glauben Sie denn, ich opfere zum zweiten Male das Glück meines Kindes?“ sagte er beim Aussteigen. „Kommen Sie morgen früh acht Uhr auf mein Bureau, ich will doch sehen, ob ich mit Ihrem ‚Verhängniß‘ nicht fertig werde!“ Mit herzlichem Drucke reichte er Hans die Hand und eilte die Treppe hinauf.

Sprachlos, fassungslos blieb Hans zurück. Er wiederholte die letzten Worte Berrys, zerlegte sie, forschte nach einem verborgenen räthselhaften Sinne – aber wie er sie auch wendete, sie waren nicht mißzuverstehen, sie bedeuteten die Erfüllung seiner Wünsche! Die Fesseln, an denen er vergeblich seit Jahren gezerrt, sie sollten fallen wie durch ein Wunder. Frei sollte er sein und frei werben dürfen um Claire! Wie betäubt von all den Eindrücken eilte er in seine Wohnung – er mußte allein sein mit seinem Glücke!

Es waren selige Stunden, die er in der Stille seines Zimmers verträumte, indem er sich mit glänzenden Farben seine Zukunft ausmalte, und doch konnte er nicht recht froh werden dabei. Was war es nur, was im tiefsten Grunde seiner Seele sich regte und eine reine Freude nicht aufkommen lassen wollte? Er hatte doch nun nichts mehr zu fürchten, weder den Vater noch diesen Holzmann … Ein Schauer überlief seinen Körper. Daß er das hatte vergessen können, dieses verdächtige „Geschäft“! Warum hatte er dem Kommerzienrath nicht wenigstens ein Wort der Warnung gesagt! Wenn es schon begonnen hätte, das Verbrechen, wenn es eben jetzt beginnen würde!

Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Er lachte sich aus, schalt sich einen Träumer, einen Grillenfänger, der das alles zu seiner eigenen Qual erfinde – er arbeitete nicht mehr, wie es sein Körper früher gewohnt war, das viele Studieren, das ständige Sitzen und Grübeln machte das Blut schwer, das war es! Aber die Unruhe wollte nicht weichen. Endlich ertrug er es nicht länger, er eilte hinaus in die Nacht, fort in den Park, sich wie ein Dieb in den Schatten der Hallen drückend.

Leise schlich er um die Villa herum. Kein Licht brannte mehr, auch bei Claire nicht.

Die Nacht war finster, nur schwach hoben sich die Umrisse des Hauses gegen den Himmel ab. Er horchte gespannt – kein Laut! Erleichtert athmete er auf und wollte sich schon entfernen – da zuckte ein schmaler Lichtstreif blitzartig über das Gerüst, nur einen Augenblick, dann war wieder alles dunkel wie zuvor. Er wartete – nichts regte sich. Also Einbildung seiner erregten Phantasie! Da – wieder zuckte es auf! Es kam vom ersten Stockwerk von rechts; auf der linken Seite lagen die Zimmer der Berryschen Familie, rechts waren gegenwärtig die Bureaus und die Kassenräume untergebracht, da das Erdgeschoß umgebaut wurde. So leise als möglich schlich er sich an das Gerüst, ein schwaches Geräusch drang von oben herunter. Mochte es sein, was es wollte, er durfte nicht länger zögern! Entschlossen stieg er die Leiter empor. Da knarrte ein Brett – einige Schritte vor ihm, dicht neben den Fenstern des Kassenraums, schien sich etwas zu bewegen.

„Wer da?“ flüsterte Hans.

Keine Antwort, der dunkle Punkt stand regungslos still und verschwand dann plötzlich in der Nacht. Mit einem Sprung stürzte Hans nach vorwärts. Ein leises Zischen ertönte, eine dunkle zusammengekauerte Gestalt erhob sich vor ihm und huschte gegen die nächste Leiter. Mit einem Griffe hatte er sie erfaßt. Der Fremde rang lautlos mit seinem Angreifer, umfaßte ihn schlangengewandt und suchte ihn gegen den Rand des Gerüsts zu drängen. In diesem Augenblick zuckte wieder der Lichtstrahl aus, er traf gerade die Kämpfenden. Ein unterdrückter Aufschrei ertönte aus zwei Kehlen – Hans hatte Holzmann erkannt, dieser ihn.

„Laß’ los!“ keuchte der Verbrecher unter der Umklammerung des Gegners. „Er ist ja bei der Arbeit da drinnen – Narr!“

„Wer – der Vater?“ Ein betäubender Schreck durchzuckte Hans, unwillkürlich erlahmte der eiserne Griff seiner Hände.

Holzmann ersah blitzschnell den Vortheil und rückwärts geneigt riß er sich mit der Kraft der Verzweiflung los. Aber die Wucht war zu groß, er verlor das Gleichgewicht, taumelnd griff er nach einer Stange des Gerüsts, doch ohne sie zu erhaschen … ein Schrei, und er stürzte in die Tiefe.

Athemlos lauschte Hans. Da flüsterte eine wohlbekannte Stimme hinter ihm: „Für Dich, Hans, für Dich wollte ich’s thun – verzeih’, wenn Du kannst! Und nun leb’ wohl, ich geh’ übers Wasser!“

Hans wandte sich um – ein dunkler Körper sprang zurück und schwang sich an einem Stützbalken des Gerüstes hinab … der Vater!

Im linken Flügel wurde es hell, ein Fenster öffnete sich, es war das Claires. Sie beugte sich heraus und horchte ängstlich.

Hans bewegte sich nicht, sein Gehirn versagte den Dienst, er wußte nicht mehr, was thun.

Da tönte vom Hofe her ein lautes Stöhnen – Claire rief entsetzt um Hilfe.

Nun eilte Hans am Haus entlang, auf Claire zu. „Um unserer Liebe willen, sei still, Claire! Es ist keine Gefahr mehr … ich hörte Verdächtiges … ein Einbrecher … wir rangen und er stürzte hinab!“ brachte er athemlos hervor.

„Hilfe, Hilfe … haltet den anderen, den alten Davis . . . er hat’s nicht besser verdient als ich!“ klang es in diesem [695] Augenblick deutlich von unten herauf, von Schmerzensrufen unterbrochen.

Hans sank in die Knie. „Mein Verhängniß! Hörst Du es, Claire? Er spricht die volle Wahrheit!“

„Sein Vater – sein Vater – ein alter Dieb, ein Schuft!“ tönte es aus der Nacht herauf.

Leute mit Lichtern kamen, durch den Lärm geweckt. Herr Berry selbst trat halb angekleidet aus dem Hause. Hinter Claire erschien die Gestalt der Mutter im Zimmer, das ganze Haus war wach.

„Hörst Du es, Claire? Er spricht die volle Wahrheit!“ wiederholte Hans, auf nichts achtend.

„Und das soll uns trennen – ein blindes Verhängniß? Nein, Hans, ich lasse Dich nicht, allen Dämonen zum Trotz, die sich zwischen uns drängen!“ Sie klammerte sich fest an ihn.

Aus dem Zimmer rief es entsetzt: „Claire! Claire!“ Zitternd am ganzen Körper sah die Mutter ihr Kind aus dem Fenster gebeugt, von den Armen eines Unbekannten umschlungen.

„Frei! Frei!“ jubelte Hans und stürzte ungestüm davon.

Die Leute, die sich unten versammelt hatten, wußten sich den ganzen Auftritt nicht zu deuten. Der sterbende Mann, der offenbar vom Gerüst gefallen war, war schon still geworden, als sie kamen und Berry hatte ihn ins Haus schaffen lassen. Die Scene mit Claire war ihnen durch das Gerüst verdeckt, sie hatten nur unverständliche Stimmen gehört, die bei dem allgemeinen Lärme nicht auffielen. Und jetzt erschien zu alledem noch Hans Davis unter ihnen, verstört, die Kleider beschmutzt und zerrissen, und fragte athemlos nach Berry. Man stellte von allen Seiten Fragen an ihn, er beantwortete sie nicht und verschwand eilig im Hauseingang, nachdem man ihm gesagt hatte, der Kommerzienrath sei in einem kleinen Raume zu ebener Erde, wohin man den Sterbenden gebracht habe.

Hans folgte dem Lichte, das aus einer halb geschlossenen Thür fiel, und trat in das Zimmer, wo Holzmann lag, den Stempel des Todes im Gesicht; Berry stand vor ihm. Ein wildes Lächeln zuckte um die Lippen des Verbrechers, als er Hans erblickte.

„s’ hat doch nicht gelangt zum Vertuschen ... er weiß alles, der Herr Berry ... Gesegnete Mahlzeit zu der Suppe, Herr Davis!“

Hans blickte auf den Kommerzienrath, dessen finsteres Antlitz ihn das Schlimmste befürchten ließ. „Herr Berry,“ sagte er düster, „man entrinnt seinem Schicksal nicht. Ich werde Ihnen die Räthsel dieser Nacht morgen erklären, soweit es der freche Mund dieses Gesellen nicht schon gethan hat.“

Berry machte eine abwehrende Bewegung. „Es sind mir keine Räthsel. Es handelt sich jetzt nur um eines. Ich habe Licht im Zimmer meiner Tochter gesehen. War sie Zeugin dieser Scene?“

„Ja ... und ich sprach – sie weiß alles!“

„Und sie war gebrochen?“

„Sie schwor, auszuharren bei mir, allen Dämonen zum Trotz.“

„Wohl ihr! Sie hat die Feuerprobe bestanden, der ich sie nicht auszusetzen wagte. Komm’, Hans, auch uns soll diese Nacht nicht trennen.“ Er breitete die Arme aus, und Hans warf sich ihm wortlos an die Brust. Da ertönte vom Bette her ein wilder Aufschrei – Holzmann hatte geendet.

„Komm’, mein Sohn,“ sagte Berry, „Dein Verhängniß ist tot. Morgen beginnt ein neues Leben, über das die Vergangenheit keine Macht haben soll.“

*               *
*

Das Gericht hatte die Untersuchung über den Einbruch bei Berry bald wieder eingestellt. Hans hatte den Hergang wahrheitsgetreu zu Protokoll gegeben, nur den Namen des zweiten entflohenen Einbrechers hatte er verschwiegen. Trotz aller Nachforschungen war über dessen Person und Verbleib kein Anhalt zu gewinnen. Viel hatte zur raschen Erledigung der Sache auch der Einfluß des Kommerzienraths beigetragen, der dringend gebeten hatte, ihn und die Seinigen, die von dem vorhergegangenen Familienunglück schwer genug getroffen seien, mit allen Weiterungen zu verschonen, die ja diesem Thatbestand gegenüber doch eigentlich zwecklos seien.

In der Stadt liefen eine Zeitlang die verschiedensten Lesarten um über die Ereignisse jener Nacht, dann verschwand der willkommene Gesprächsstoff, der alle Kreise beherrscht hatte, spurlos in dem rastlosen, aus unergründlicher Tiefe immer Neues zur Oberfläche tragenden Lebensstrom der Großstadt.

Erst nach einem Jahre wurde man wieder nachhaltiger an die alte Geschichte erinnert, als im Berryschen Hause die Hochzeit Claires mit Hans Davis stattfand. Man hatte viel Wichtiges und Unwichtiges darüber zu reden. „Eine rührende Illustration zu den Leitartikeln, die gegenwärtig die Presse des ganzen Landes füllen – die Einigung des Kapitals mit der Arbeit!“ spottete man in den Kreisen, welche nachgerade dem Kommerzienrath die Schuld beimaßen, daß eines der angesehensten Glieder der Gesellschaft, Graf Maltiz, ruiniert und mit Hinterlassung einer ungemein standesgemäßen Schuldenlast nach Amerika geflohen war. „Wieder einmal ein Beweis, diese Hochzeit, daß das Kapital doch nicht so hartherzig ist, wie man täglich hören muß, daß der richtige Mann den Weg zur Anerkennung und sogar zu glänzendem Lose noch immer sich bahnen kann!“ so hieß es bei anderen.

Die beiden aber, um die sich alle diese Gespräche drehten, Hans und seine Gattin, bekümmerten sich nicht um die Welt und ihre Meinung; still, ganz der Arbeit und sich selbst gewidmet, lebten sie in dem einfachen Hause, das der Kommerzienrath für den neuen Direktor seiner Werke, Hans Davis, seiner Villa gegenüber hatte bauen lassen. Die Ketten eines dunklen Verhängnisses – sie waren zerrissen, aus ihnen hatten die beiden Glücklichen mit starker Hand eine neue ewige Fessel geschmiedet – die Fessel inniger Liebe und Treue.