Kavaliere oder Patrizier

Textdaten
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Autor: Adolf und Karl Müller
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Titel: Originalgestalten der heimischen Vogelwelt. 8. Kavaliere oder Patrizier
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 691-693
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]

Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
8.0 Kavaliere oder Patrizier.

Kavaliere! Patrizier! – Mancher unserer Leser mag uns wohl schon beim Anblick der in unseren Ueberschriften gewählten Benennungen im stillen den Vorwurf gemacht haben, daß wir mit solchen Ausdrücken allzusehr vermenschlichten. Aber man betrachte sich einmal einen Distelfinkenhahn im Mai, wenn er sich wiegt auf dem schwanken Zweige eines blühenden Obstbaums! Man beobachte sein zierliches, so offenbar selbstgefälliges Schwenken, Wenden und Drehen, begleitet von jenem wohllautenden hellen Minneton, mit dem er um die Gattin wirbt! Man schaue ihm zu, wie er, echt finkenhaft stets zum Kampfe bereit, mit dem Nebenbuhler anbindet und unter schmetterndem Geschrei, unter streitbaren Schnabel- und Krallenhieben mit dem Gegner rauft – man betrachte dieses ganze Gebahren im Verein mit seiner so außerordentlich schmucken Außenseite, und man wird unsere Taufe gerechtfertigt finden.

Fürwahr, ein feiner stolzer Vogel, dieser Distelfink! Niemals läßt er sich ein mit dem „süßen Pöbel“ der Gassen oder gar der Miststätten. Und wenn er auch mit den Scharen anderer Vögel im Herbste in die Hanf- oder Mohnfluren geräth; wenn ihn auch der strenge Winter zeitweise mit seinem Vetter Hänfling zusammen zu den Stauden und Gräsern an den Wegen und auf der Steppe treibt – er ist und bleibt dabei doch immer der vornehme Herr, der sich fernhält von dem übrigen Vogelgemenge.

Der Distelfink – so benannt nach seiner Lieblingsnahrung, dem Distelsamen – oder Stieglitz – nach seinem Lockruf „Stieglit“ – ist vermöge seiner allgemeinen Verbreitung in Europa ein in Stadt und Land so bekannter Bewohner der Vorhölzer, Baumreihen, Hage und Lustgärten, daß wir ihn nicht nach trockener Schablone zu beschreiben brauchen. Unsere Abbildung giebt ihn ja auch so deutlich und natürlich wieder, daß es nur noch der Uebersetzung der Zeichnung in die Farbe bedarf, um uns seine schöne geschmackvolle Erscheinung vor Augen zu rücken. Der degenspitze feste Schnabel ist beim alten Männchen elfenbeinweiß, am Grunde mattfleischfarben durchscheinend, mit einem schmalen schwärzlichen Striche über der oberen Spitze. Der Vorderkopf erscheint um Schnabel und Augen schwarz umsäumt, sonst bis über die feurigen braunen Augen hochkarminroth; das den Scheitel deckende helmförmige schwarze Feld zieht sich am Hinterkopf auf beiden Seiten wie ein Sturmband hinter den Wangen herunter, daselbst spitz verlaufend und mit dem Roth des Vorderkopfes die weißen Wangen einfassend. Die Hauptfarbe des Oberkörpers ist hellbraun, im Genick bis ins Weißliche übergehend. Die Unterseite ist weiß, mit zwei lichtbraunen, ins Gelbe spielenden nierenförmigen Flecken auf der Brust. Die Schwingen und den leicht gehaltenen Schwanz – beide beim Fliegen des Vogels einem schönen Husarenmäntelchen nicht unähnlich – ziert das gleiche Sammetschwarz wie den Scheitel, mit weißlichen Punkten an den Spitzen, die Schwingen zeigen außerdem auf ihrem Mittelfeld einen prachtvollen, lebhaft citronengelben Spiegel. Ist in diesem Kleide der Kavalier nicht fix und fertig? –

Und in der That, wie fein säuberlich hält er sein Gefieder durch fleißiges Baden, durch emsiges Putzen und Ordnen, wie glatt liegt es an seiner schlanken Figur!

Aber damit soll nicht etwa gesagt sein, daß der Distelfink nur ein schöner Vogel sei. Im Gegentheil, in ihm leben, der glänzenden Außenseite entsprechend, vorzügliche innere Eigenschaften, von denen uns hier nur eine beschäftigen soll, sein Gesang.

In der Gefangenschaft, im Zusammenleben mit Kanarienvögeln nimmt der Distelfink zuweilen deren Weisen an; im Freien aber behauptet er entschieden seine Eigenthümlichkeit. Die Freiheit ist sein Element.

„Flüchtig und flink,
Frei wie der Fink
Auf Sträuchern und Bäumen
In Himmelsräumen!“

Dieser Wahlspruch des Rekruten in „Wallensteins Lager“ paßt vortrefflich auf unseren prächtigen Gesellen. Wie er sich in kühnen scharfabgesetzten Bögen, in galoppartiger Bewegung elegant durch die Luft schwingt, so ist auch sein Lied eine wahre Reitermelodie. Es lassen sich zwei Abtheilungen heraushören, welche oft jede für sich allein erschallen, ebenso oft aber auch in kleinen Zwischenpausen hintereinander ausgeführt werden. Die erste Abtheilung ist eigentlich eine Einleitung zur zweiten, etwas längeren, dem Hauptgesang. Sie setzt sich zusammen aus des Vogels Locktönen oder aus ähnlichen, hüpfend-pfeifenden Lauten und einem geschlossenen, trompetenschmetternden Schlußsatz. Man fühlt sich an eine angaloppierende Reiterschar erinnert, welche mit dem Schlußsatz plötzlich pariert und hält. Feurig, kriegerisch klingen die raschen Rhythmen, die an Schwung noch gewinnen, wenn sie der Vogel bei seinem Niederschwingen auf einen Baumwipfel in der Luft schmettert. Der Hauptgesang ist im Grundton dem Vorgesang ähnlich, setzt aber in der Mitte eine abändernde rhythmische Partie ein, die bei guten Sängern die Silbe „Fink“ gewöhnlich dreimal hintereinander wiederholt, dann in einige etwas gehaltene hohe Noten übergeht und hierauf gewöhnlich mit dem schmetternden Schlußsatz des Vorgesanges endigt.

Im Mai heftet das Weibchen des Stieglitzpaares sein zierliches Nest – gleichsam ein lustiges Dachstubenkämmerchen – in die Gabelzweige der äußersten Wipfel von Obstbäumen, auch wohl auf die niederen Stämmchen der Baumschulen, ja auf Rosenbäumchen oder aber auf die höchsten Fichten, Pappeln, Eschen und Ahorne. Die luftige Wiege der Kleinen ist ein wahres Kunstwerk, dessen nette, zierliche Gestalt und feines Filzgewebe mit den schönsten Gebilden der Nestbaukunst unserer heimischen Vögel sich messen kann. Die jungen Distelfinkchen sind allerliebste niedliche Geschöpfe, denen es bald nach echter Kadettenart zu eng im Hause wird. Ein Ruck von Menschenhand am Aste scheucht oft das ganze lose Völkchen aus dem Neste. Man hat von namhafter Seite in Abrede gestellt, daß man das Geschlecht der flüggen Nestlinge unterscheiden könne. Wir behaupten entschieden, daß ein helleres Braungelb mit spärlicherer Punktierung die Männchen von den dunkleren, graueren und dichter punktierten Weibchen unterscheidet, und daß wir uns von unserer Jugendzeit an niemals bei diesen Kennzeichen getäuscht haben. Frischer Muth und Selbstvertrauen regt sich früh bei den Jungen. Wohl fehlt ihnen noch das Prachtkleid der Alten; aber schon hat die Natur ihrem gemeinen sperlingsgrau punktierten Kleide gleichsam ein Portepeeabzeichen aufgedrückt: die gelben Aufschläge auf den schwarzbraunen Flügelchen. Schnell wachsen die aus dem Kropfe gefütterten Kleinen heran, ihre Kindersprache „Zibit“ geht bald, gegen den Nachsommer, in den echten Stieglitzenton „Stieglit“ über, und nun sind dem hoffnungsvollen Junker die ersten glänzenden Federsprossen – sagen wir die „Lieutenantsepauletten“ – verliehen worden. Der Karmin wächst mit allen Prachtfarben an unserem jungen Vogel, bis dieser als vollkommener Distelfink in herrlicher Gala den Winter antritt.

Haben wir den Distelfinken als kriegerischen Kavalier kennengelernt, so findet sich diese Neigung zu Streit und Kampf vollends ausgeprägt bei dem Edel- oder Buchfinken. „Da giebt es,“ wie wir in unserem Buche „Charakterzeichnungen der Singvögel“ ausgeführt haben, „lustige schallende Turnei, daß die vom Winter noch gestählten weißlichen Schnäbel unserer Kämpen hell aneinander knappen, wenn sie sich an dem gewölbten Harnisch ihrer Brüste oder am Helme ihrer Scheitel versuchen, daß der Schlag der Flügel mit ihrem glänzenden Wappenfeld bei dem wirbelnden, echt finkenmäßigen Luftkampf laut erschallt wie einst die dröhnenden Schilder der vergangenen Geschlechter in Stahl und Eisen. Und über allem diesem schmettert der süße, stürmische Minnesang der Heinriche von Osterdingen und der Wolframe von Eschenbach zum Lobe der holden Frauen. Beglückt, wer sich die Gattin erobert im heißen Kampfe!“

Auf unserem Bilde S. 693 schauen wir im Vordergrund den Anfang eines solchen Minnestreites, der sich bei einem hitzigen Paare im Hintergrund schon in den heißesten Luftkampf verwandelt. Aber [692] es wäre ungerecht, wollte man bloß diese Seite des edeln Vogels hervorheben. Wer den Edelfinken in der Noth des Winters beobachtet, erkennt in ihm das Noble seines eigentlichen Wesens. „Während der süße Pöbel der Miststätten in buntem Durcheinander mit hängenden Flügeln und Köpfen kleinmüthig und hastig Futter sucht, rückt der Finke abseits in fester Haltung voran und senkt nur das Haupt, wenn er Nahrung aufnimmt. Er fällt nie mit ungestümer Gier philisterhaft über irgend einen Brocken oder ein Korn her, noch weniger balgt er sich um einen Bissen pueril und niedrig wie der Spatz ... Unwillkürlich werden wir bei solchem Anblick an die Haltung eines Mannes von Charakter erinnert, der sich vom Schicksal nicht entmuthigen läßt, die durch Entbehrungen erregten Begierden zu beherrschen vermag und seinen Werth durch die Art und Weise zu erkennen giebt, wie er das Seinige genießt.“ Sein Aeußeres entspricht seiner ritterlichen Natur. Das prangende Frühlingskleid des Hahnes – leuchtet es nicht vom bläulichen gesträubten Scheitel her wie eine Sturmhaube? Kriegerisches Feuer spricht aus den Augen unter dem schwarzen Sturmbande der Stirn, Liedes- und Kampfeslust aus dem lebhaften Weinroth der Kehle und Brust. Vom schneeweißen Spiegel der dunklen Flügel und dem grünbraunen Hauche seines Oberkleides glänzt die helle Zierde der Noblesse wie ein Wappenschild. Und unter diesem äußeren Schmucke schlägt ein urkräftiges Herz voll schallenden Sanges. –

Gruppe von Distelfinken.
Zeichnung von Adolf Müller.

Noch haben wir eines Vetters, des Hänflings, zu gedenken. Freilich steht er hinter dem Stieglitz und Edelfink in vielem zurück, aber dennoch ist auch er ein so schmucker, schlanker und feiner Vogel, eine vollkommene Patriziergestalt in seinem Frühlingskleid und ein so herrlicher Sänger, daß ihm an der Seite seiner Verwandten in der Familie der Finken ein lobendes Wort wohl gebührt.

Das Volk hält den Hänfling sehr gern im Käfig, denn der aufgeweckte, nach kurzer Zeit sehr zutrauliche Vogel lernt leicht die Liedchen, die man ihm vorpfeift oder auf der Vogelorgel vorspielt, sowie die Weisen anderer Vögel. In der freien Natur prangt der Hänflingshahn auf der Stirn und an den Seiten der Brust prachtvoll blutroth, an Hals und Kehle frisch gelbweiß, auf dem Kopf und im Nacken röthlich-aschgrau; sein schwarzer, schlanker Fischschwanz ist weiß berandet. Indessen wechselt sein Kleid je nach Jahreszeit und Alter. Nach der Federung im Herbste erscheint das Roth der Brustseiten nur matt und spärlich, während gegen das Frühjahr hin besonders beim alten Männchen ein entschiedeneres Bluthroth auf den Federspitzen an Brust und Stirn hervortritt, ein Schmuck, der dem Hänfling vorzugsweise zu seinem Namen „Bluthänfling“ verholfen hat. Am jungen Männchen ist das Roth in dem Aschgrau des Scheitels und Nackens nur angedeutet, weil die äußeren Ränder der rothen Federn in diesem Alter noch grau gefärbt sind; erst der zweite und dritte Frühling giebt dem Hahne den purpurnen Hochzeitsschmuck. In der Stube geht dies Prachtkleid zu dem unscheinbaren gestrichelten Rostbraun des Weibchens und der Jungen zurück. Man erblickt dann außer der netten Gestalt, dem allerliebsten niedlichen Köpfchen und Schnäbelchen und dem munteren Wesen nichts besonders Hervorragendes an dem Aeußeren des Vogels, ein Beweis, daß er hauptsächlich durch seine inneren Vorzüge so beliebt geworden ist. Und in der That ist sein echter [693] Originalgesang nicht zu unterschätzen. Wie herrlich belebt er damit die jungen Fichten- und Kiefernbestände, die kleinen Gehölze und buschreichen Raine! Beim ersten Frühroth schon erklingt die frische weckende Weise.

Wie auf Bäumen und Büschen, so läßt er auch hoch in den Lüften sein schwungvolles Jodeln und Jubeln emsig erschallen. Namentlich im einsamen Gebirge fesselte uns dieser Gesang, der neben einem ziehenden, oft wie von einem Ueberschnappen der Stimme begleiteten Krähen tief melodische Klangpartien enthält und von einer Reinheit und einem Wohlklang durchdrungen ist, wie er selten oder nie in der Ebene gehört wird.

Aus Moos und Halmen baut das Hänflingsweibchen die Wandungen des Nestes und füttert sie im Innern mit Pferdehaaren und Thierwolle nett und sauber, wenn auch nicht mit der vollendeten Kunst des Edel- und des Distelfinken aus. Die Alten nahen sehr heimlich dem Nistplatz mit der Brut und zögern lange, bis sie ihn besuchen. Die so versteckt gehaltenen Jungen empfangen die Atzung aus dem Kropfe der Eltern, verlassen aber wie die Stieglitze bald die Wohnung, um Vater und Mutter in das Schlaraffenland der Rüb- und Mohnsamenfelder oder der Hanfäcker des Spätsommers zu folgen.

Buchfinken im Minnestreit.
Zeichnung von Adolf Müller.

Der Hänfling bleibt als Strichvogel das ganze Jahr über bei uns. In kleineren Flügen wandert er von Flur zu Flur, manchmal, wie öfters im Spätjahr und auch im Winter, Stieglitzen und Edelfinken zugesellt. Der rüstige Vogel weiß sich durch die Dürftigkeit der unwirthlichen Jahreszeit mit Erfolg durchzuschlagen, denn immer findet er trotz Schnee und Eis an Wegen, Rainen und auf Grashalden in den Rispen, Kölbchen und Knöpfen von Gräsern, Wegerich, Kletten und anderen Stauden seine Winterkost.

In Vogelhäusern, in welchen Luft und Sonnenschein einen großen Theil des Jahres wirken, behält der Hänflingshahn hin und wieder einen Anflug seines rothen Brustkleides. Den frischen Purpurschmuck kann ihm aber hier keine noch so überzuckerte Pflege ersetzen. „Wo hätte er auch“ – um mit einer Stelle aus unseren „Charakterzeichnungen der Singvögel“ zu schließen – „den weiten sonnigen Himmelsraum, um seine Flügel im kühnen Bogenschwung zu versuchen; wo die grünen Haine, die freundlichen Raine mit den lachenden Auen, um auf Baum und Strauch sein schmetterndes Lied der Freude und des Jubels erschallen und in den Samenfeldern sich’s wohl sein zu lassen? Das arme blaßgrüne Fichtenstämmchen in der Vogelhecke ist ein nur zu dürftiges Abbild der grünen Waldhege, und die schönsten Kanarienhuldinnen im hochgelben Putz und den weißen Staatsfüßen vermögen dem Hähnchen dennoch nimmer die treue schlichte Gattin in ihrem häuslich grauen Kleide, die liebevolle Hänflingsmutter zu ersetzen. Darum glücklich, ihr Hänflinge, die ihr noch das klare Wasser der Wiesen und Haine, den Hanf- und Rübsamen der Fluren kostet, glücklich ihr, denen noch das duftende Reis der Tanne und Fichte rauscht, oder der Blüthenschnee der Raine entgegennickt, denen noch das holde Sonnenlicht leuchtet und die noch die frische Luft des Himmels umweht! Dreimal glücklich, denn ihr seid Kinder der Freiheit!“


  1. Vergl. Halbheft 16 dieses Jahrgangs.