Der Schreibkrampf
Der Schreibkrampf.
Wie der Mensch den Verstand als das Vermögen aller Vermögen vor allen Thieren erhalten hat, so ist ihm auch die Hand als das Werkzeug aller Werkzeuge verliehen worden. Sieh einmal hin auf alle die Körper, die ein Mensch zu ergreifen vermag, vom größten, wozu er beide Hände braucht, bis zum kleinsten, einem Hirsekorn, einem feinen Dorne oder einem Haare, und sieh die Hand jeden dieser Körper für sich fassen, jedesmal wirst Du finden, daß die Hand so genau zum Gegenstand paßt, als ob sie gebaut wäre, nur ihn zu fassen.“ Mit diesen Worten rühmt der altrömische Arzt Claudius Galenus die menschliche Hand, welche neuere Forscher sogar höher als ein Werkzeug stellen und einem Sinnesorgan gleich erachten. Und wie groß ist in der That die Kunstfertigkeit der Hand! Wie rasch können sich ihre Finger bewegen! Ein geübter Klavierspieler kann die Hand sechsmal in der Sekunde beugen und strecken und ein Violinspieler den Mittelfinger zehnmal in der Sekunde bewegen, und jede dieser feinen Bewegungen ist genau einem bestimmten Zwecke angepaßt! Wie rasch fliegt die Hand eines geübten Schreibers über das Papier! Wie viel feine, genau abgegrenzte Bewegungen müssen nicht die einzelnen Muskeln der Finger, der Hand und des Vorderarms ausführen, um die Buchstaben eines Wortes hervorzuzaubern! Ist es ein Wunder, daß die Hand bei dieser Arbeit ermüdet, daß sie unter Umständen die Anstrengung auf die Dauer nicht ertragen kann und schließlich den Dienst versagt? Wer hat nicht von einem gefürchteten Leiden der Hand, von dem Schreibkrampf, gehört?
Oft stellt sich dieses Uebel ganz unmerklich ein, es wird durch die Ermüdung eines oder mehrerer Finger oder auch der ganzen Hand, durch ein leichtes Stechen, Zucken, manchmal auch durch zeitweiliges Zittern angekündigt, wobei man Unsicherheit beim Schreiben und Lahmheit im ganzen Arme verspürt. Oft aber bricht es auch ohne Vorboten über den fleißigen Arbeiter herein.
„Man schreibt, scheinbar noch ganz gesund und seiner Federführung sicher,“ berichtet Julius Wolff, der ausgezeichnete Kenner des Schreibkrampfes, „da plötzlich macht sich ein heftiges Zucken in einem Schreibfinger oder ein Ziehen durch die ganze Hand fühlbar, stechend und krampfartig, die Feder entfällt der Hand, sie wird weggeschleudert, es schmerzt im Unter- oder Oberarm bis zur Schultergegend, die Hand dreht sich bald rechts, bald links, es hebt sich der Unterarm, die Finger versagen den Dienst, sie gehorchen dem Willen nicht mehr; bald beugen, bald strecken sie sich krampfhaft, und kein noch so scharfer Befehl, den das Gehirn durch die Nerven ihnen zukommen läßt, findet Beachtung. Wie heftig dies auf den seelischen Zustand des Kranken einwirkt, läßt sich nicht in Worte kleiden.“
Dieser peinlichen Erkrankung sind aber nicht allein Leute ausgesetzt, die viel schreiben. Der Krampf bedroht alle, welche durch Handfertigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Nähen und Stricken, Klavier- und Violinspielen, Telegraphieren, Malen und Zeichnen, ja selbst Melken kann plötzlich durch den Eintritt des Krampfes unmöglich gemacht werden. Alle diese verschiedenen Erkrankungen der Funktionen der Hand, die „Handneurosen“, beruhen mit dem Schreibkrampf auf einer und derselben Ursache.
Wohl ist der Schreibkrampf keine gefährliche Krankheit im ärztlichen Sinne des Wortes, er bedroht nicht das Leben; aber er ist eine schwere in sozialer Hinsicht, denn er macht vielfach dem Menschen die Ausübung seines bisherigen Berufes unmöglich, er macht ihn arbeitsunfähig. Manche versuchen wohl, da ihre Rechte erlahmt ist, mit der Linken zu arbeiten, aber der Schreibkrampf ist tückisch; nach kurzer Zeit stellt er sich auch in der linken Hand ein.
Und was die Krankheit bis vor wenigen Jahren noch schwerer erscheinen ließ, war die Thatsache, daß die Wissenschaft ihr machtlos gegenüber stand. Eine große Zahl von Heilmitteln wurde gegen sie versucht: Wechsel des Federhalters in Bezug auf Schwere und Umfang, Einnehmen von Arzneien wie Belladonna oder Arsen, Schreiben mit Gänsefedern, Waschen der Hand mit verschiedenen Wassern, Sehnenschnitt, Elektricität, hohe Bergluft, See-, Moor- und andere Bäder, Kaltwasserkur, Armbänder u. a. mehr. Man beobachtete dabei wohl hier und dort eine vorübergehende Besserung, wirkliche Heilungen nur in Ausnahmen.
Ein Fortschritt war es, als man verschiedene Arten des Schreibkrampfes zu unterscheiden anfing. Man erkannte, daß derselbe durch organische Störungen in den Centralorganen, im Gehirn und Rückenmark, verursacht werden kann, und fand, daß gegen diese Art des Leidens eine allgemeine stärkende Behandlung, durch Elektricität u. dgl., sich heilsam zu erweisen vermag. Man gelangte aber auch zu der Ueberzeugung, daß weitaus die meisten Fälle auf Uebermüdung und Ueberreizung der Muskeln der Hand und des Armes zurückgehen. Zu Anfang der siebziger Jahre, als die Massage und die Heilgymnastik mehr und mehr in Aufnahme kamen, da tauchte in ärztlichen Kreisen die Vermuthung auf, daß diese Kuren sich auch zur Heilung dieser zweiten Art des Schreibkrampfes geeignet erweisen dürften.
Um diese Zeit wirkte Julius Wolff als Schreiblehrer in [690] Frankfurt a. M. Unter den Schülern mit fehlerhafter Handschrift, die ihm zugewiesen wurden, befanden sich auch solche, die, ohne es zu wissen, mit den Anfängen des Schreibkrampfes behaftet waren. Diesen Bedauernswerthen war auf dem gewöhnlichen Wege des Schreibunterrichts nicht zu helfen, und der Lehrer sah sich darum nach anderen Hilfswitteln um. Er begann den Schreibkrampf zu studieren und fand sich durch den Gegenstand bald derart gefesselt, das er ihn zu seinem besonderen Studium erhob. Durch Rücksprache mit Aerzten, durch den Besuch von anatomischen und physiologischen Vorlesungen wußte er sich die nöthigen Kenntnisse über den Bau der Hand und ihre Funktionen zu erwerben. Bald war ihm die Bedeutung eines jeden Bandes, Muskels und Gelenkes klar; er vermochte mit Bestimmtheit zu erkennen, welche Muskelgruppen und in welcher Art sie bei verschiedenen Formen des Schreibkrampfes erkrankt waren, und auf dieser umfassenden wissenschaftlichen Grundlage baute er seine Behandlung des Schreibkrampfes vermittelst Massage und Gymnastik auf, mit der er denn auch bald in rascher Folge zahlreiche Heilungen erzielte.
Das Verfahren Wolffs bildet kein Geheimniß. Es beruht auf aktiver und passiver Gymnastik der Beuge- und Streckmuskeln der Hand, des Unterarmes, sowie der ganzen Muskulatur des Oberarmes, und auf Massage der gleichen Körpertheile. Nach einiger Zeit werden eigenthümliche elementare Schreibübungen angestellt. Während der Kur, die etwa zwei bis drei Wochen dauert, werden täglich drei Sitzungen zur Ausübung der Massage und Gymnastik abgehalten.
Wenn somit die Grundlagen der Wolffschen Behandlungsart jeder Arzt leicht erfassen kann, so verhält es sich mit der Ausübung derselben ganz anders. Diese muß jedem Krankheitsfall genau angepaßt werden; vor allem müssen die wirklich erkrankten Muskeln erkannt und in besonderer Weise der Massage und Gymnastik unterworfen werden. Dazu gehören aber reiche Erfahrung, genaue Kenntniß der vielseitigen Erscheinungen des Schreibkrampfes und ein gewisses natürliches Geschick. Wie viele Nachfolger Julius Wolff auch gefunden hat, er ist auf diesem Gebiet der Meister geblieben. Treffend und offen äußerte sich darüber Prosessor Nußbaum: „Obwohl Herr Wolff aus seiner Methode kein Geheimniß macht und selbe jedem wißbegierigen Arzte erklärt, so hat sie ihm doch niemand noch mit gleichem Erfolg nachgemacht. Man kann wirklich sagen, die guten Heilresultate des Herrn Wolff beruhen auf seiner persönlichen Uebung und Geschicklichkeit. Er weiß jene Muskelgruppen, die der stärkenden Gymnastik bedürfen, genauer zu fixieren als unsere minutiösesten Elektrotherapeuten.“
Die Heilerfolge Wolffs beziehen sich, wie wir bereits angedeutet haben, nur auf diejenigen Fälle von Schreibkrampf, bei welchen keine Störungen in den Centralorganen vorliegen. Wie erfreulich die Errungenschaften Wolffs an und für sich waren, ein Umstand war doch betrübend: nur verhältnißmäßig wenige Kranke konnten der Wohlthat der neuen Behandlungsart theilhaftig werden.
Um diesem Uebelstand abzuhelfen, hat Wolff beschlossen, zu Frankfurt a. M. eine Anstalt zu errichten, in welcher Unbemittelten, die von Aerzten empfohlen sind, unentgeltliche Behandlung zu theil wird. In kurzer Zeit hofft er es mit Hilfe edeldenkender wohlthätiger Menschen dahin zu bringen, daß Unbemittelten, die mit der Nadel, der Feder, dem Pinsel oder musikalischen Instrumenten etc. ihr Brot verdienen müssen, neben kostenfreier Behandlung auch freier Aufenthalt in der Anstalt, wenn möglich auch freie Reise zu theil wird. Man kann dieses Vorhaben nur mit Freuden begrüßen; denn abgesehen von der unmittelbaren Hilfe, die eine solche Anstalt den Kranken bringt, würde sie auch Aerzten, die sich in der heilgymnastischen Behandlung des Schreibkrampfes unterrichten möchten, reiche Gelegenheit hierzu bieten. –
Giebt es denn nun nicht auch Mittel, die Entstehung des peinlichen Leidens von vornherein zu verhüten?
Man behauptet, daß in früheren Zeiten nur wenige Menschen am Schreibkrampf erkrankt seien, und führt dessen Ausbreitung auf verschiedene Gründe zurück. Die einen meinen, er werde erst seit der Einführung der Stahlfeder in grÖßerem Maße beobachtet, andere wieder glauben, daß er eine Theilerscheinung der allgemeinen, unter den Menschen immer häufiger auftretenden Nervosität sei.
Ohne Zweifel dürften Uebermüdung und eine besondere nervöse Veranlagung des Körpers bei der Entstehung des Schreibkrampfes eine wichtige Rolle spielen. Der einseitige übermäßige Gebrauch einzelner Muskelgruppen muß schließlich die Harmonie in der Gesammtmuskulatur der Hand und des Armes stören. Namentlich hat sich oft eine fehlerhafte Federhaltung, unzweckmäßige Schreibart als die Quelle des Uebels herausgestellt. Andererseits lehrt uns die Erfahrung, daß in vielen Fällen bei der Entstehung des Krampfes noch etwas anderes mitwirkt, eine besondere persönliche Anlage. Das Ueberspringen des Krampfes von der rechten auf die linke Hand und viele andere Erscheinungen weisen darauf hin, daß die Kranken oft an einer nervösen Ueberempfindlichkeit des ganzen Organismus leiden. Julius Wolff selbst betont, daß er seine Heilerfolge außer der Gymnastik auch der seelischen Beeinflussung des Patienten verdanke; indem er dessen Aufmerksamkeit von dem kranken Punkte ablenkt, setzt er die Uebungen so lange fort, bis der Kranke, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, sich an die zweckmäßigen Bewegungen gewöhnt hat. Schließlich betont er, daß eine bleibende Heilung von der Fortsetzung der auch nach der Kur noch nothwendigen gymnastischen Uebungen abhängt. –
Diese Erfahrungen geben uns wichtige Fingerzeige für die Verhütung des Schreibkrampfes oder wenigstens der häufigsten Form desselben. Die Bekämpfung der Nervosität in ihrer allgemeinen Anlage ist schon aus hygieinischen Gründen geboten. In unserem Falle ist aber der schwache Punkt, die Hand, besonders zu schützen
Trotz aller Lobreden, die auf die Hand, das Werkzeug aller Werkzeuge, gehalten werden, geschieht verhältnißmäßig wenig zu ihrem gesundheitsgemäßen Schutze, und die Lehre von einer derartigen Pflege steckt noch in den Anfängen. Wenn über die Hygieine der Hand geschrieben wird, so beschränken sich die Verfasser zumeist auf kosmetische Rathschläge, während es doch unsere Aufgabe sein sollte, die Hand nicht nur schön, sondern auch leistungsfähig zu erhalten. Als in Deutschland die steigende Zunahme der Kurzsichtigkeit bemerkt wurde, ging man daran, Maßregeln für den Schutz der Augen unserer Jugend zu treffen; sicher wird auch für die Hygieine der Hand mit dem fortschreitenden Wissen mehr gethan werden. Beim Schreib-, Näh- und Musikunterricht verdient die Haltung der Hand eine besondere Berücksichtigung. Und namentlich wo diese Thätigkeiten berufsmäßig ausgeübt werden, wird immer eine einseitige Ueberanstrengung hervorgerufen werden; sobald man nun eine solche Uebermüdung spürt, sollte man für Stärkung und gleichmäßige Ausbildung seiner Ernährerin besondere Sorge tragen.
Wie die Gymnastik sich als ein Mittel gegen den ausgebrochenen Krampf erweist, so ist sie auch geeignet zur Verhütung desselben. In der trefflichen „Haus-Gymnastik für Gesunde und Kranke“ von E. Angerstein und G. Eckler (Berlin, Th. Chr. Fr. Enslin) heißt es in betreff einiger Fingerübungen:
„Sie werden theils durch die am Unterarm liegenden Beuge- und Streckmuskeln der Finger, theils durch die Muskeln der Hand hervorgebracht. Sie üben diese Muskeln und sind besonders nützlich beim Schreibkrampf, aber auch bei veitstanzartigen Zuckungen anzuwenden. Nach ermüdender Thätigkeit der Hände (durch Schreiben Zeichnen Nähen u. dergl.) sind sie sehr geeignet, die Muskeln der Hände schnell zu erfrischen und zu beleben.“[1]
Wir haben aber im Vorhergehenden erfahren, daß die Erscheinungen der krampfartigen Erkrankung sich auch über andere Muskelgruppen erstrecken, daß auch die Muskeln des Oberarmes und der Schulter in Mitleidenschaft gezogen werden und so sind zur harmonischen Ausbildung und Erhaltung der Leistungsfähigkeit der Hand überhaupt alle jene hausgymnastischen Uebungen am Platze, welche die Armmuskulatur stärken. Näheres darüber findet der Leser in dem Abschnitt „Arm- und Handübungen“ des genannten Buches.
Krankheiten verhüten ist leichter als Krankheiten heilen. Möchten
doch alle diejenigen, welche ihre Handfertigkeit zum Lebensunterhalt
brauchen, diese Wahrheit beachten! C. Falkenhorst.
- ↑ Ein nützliches Büchlein auf diesem Gebiet ist auch die kleine Schrift von Therese Focking „Fingerspiele und Handgymnastik“ (Berlin, L. Oehmigke).