Johannes Brahms (Gartenlaube 1880)
Es liegt außer dem Bereiche der Möglichkeit, daß alle hervorragenden Tondichter von Jedermann mit gleicher Pietät verehrt und verstanden werden. Naturanlage und Bildung ziehen uns zu dem einen Künstler hin und lassen uns einen andern fremd oder schwierig erscheinen. Es wird wenig Clavierspieler geben, die nicht Mozart oder Franz Schubert geliebt haben vom ersten Tacte ab, aber es giebt sehr Viele, welche das „wohltemperirte Clavier“ Sebastian Bach's sehr bald wieder zugeschlagen haben auf Nimmerwiederansehen, und es giebt viele gebildete Deutsche, welchen dieser, einer ihrer größten Landsleute, bis auf den Namen unbekannt geblieben ist.
So würde man auch noch vor zwölf Jahren unter zehn singenden oder spielenden Musikliebhabern immer etliche vergeblich nach Johannes Brahms gefragt haben. Es gab damals zwar schon viele Musiker von Fach, welche die Werke dieses Componisten liebten und mit Erwartung jeder neuen Aeußerung seines Genius entgegensahen, aber sie bildeten doch nur eine Art Secte, eine kleine Gemeinde, welche die Verbindung mit dem großen Publicum noch nicht gefunden hatte. Heute ist das anders, und der Glaube an Johannes Brahms allgemein und mächtig geworden. Sein Aufenthalt in einer unserer Concertstädte wird dieser zu einem Musikfest, und die vornehmsten Orchester- und Chorinstitute erblicken eine besondere Auszeichnung darin, wenn er unter ihnen weilt, um persönlich eines seiner Werke zu dirigiren. Englische Universitäten haben ihm Ehrengrade verliehen, und noch unlängst promovirte ihn die Universität Breslau als den ersten Meister der ernsten Musik im heutigen Deutschland.
Die Zusammenstellung „Bach - Beethoven - Brahms“, welche von einem der schärfsten Köpfe unter den lebenden Musikern herrührt, nämlich von Hans von Bülow, weist unserm Meister einen ersten Platz in der Musikgeschichte aller Zeiten, nicht blos derjenigen der Gegenwart, an. Der und Jener freilich schätzt ihn weniger hoch, rechnet ihn wohl gar mit zu den „Epigonen“. Das sind Schulstreitereien, wie alles Numeriren, Rangiren und Censurengeben für die Kunstbildung wenig förderlich ist. Die Hauptsache bleibt, die Meister und ihre Werke zu kennen; mit der Kritik darüber halte es Jeder nach seinem Geschmack!
Es war im Jahre 1853, als die „Neue Zeitschrift für Musik“ einen „Neue Bahnen“ betitelten Aufsatz brachte, in welchem Robert Schumann den jungen, zwanzigjährigen Brahms als den Meister vorstellte, „in dessen Namen einst der gesammte musikalische Gehalt der Zeit zusammengefaßt sein würde“. Zwar galt Schumann damals in Wort und Werk noch als Mann einer bestimmten Partei, als Führer der Linken jener Zeit – aber was er sagte, wurde auf keiner Seite überhört. Deshalb war die Aufmerksamkeit der gesammten musikalischen Welt dem jungen Brahms in ungewöhnlicher Weise zugewendet und die Begierde, ihn kennen zu lernen, auf Seiten der Gläubigen wie der Mißtrauischen eine gleich starke, vielleicht auch die Enttäuschung: den Akademikern, war er für ihre gewohnten Vorwürfe zu tüchtig
[221]musikalisch, und den Fortschrittlern zu eigenartig musikalisch für ihre billige Begeisterung. So leuchtete der Name Brahms nur eine kurze Kometenzeit; dann war das Verheißungswort Schumann’s vergessen, und der junge Küstler trat für die Menge wieder in die „glückliche Verborgenheit“ zurück. Es war von nun ab für viele Jahre nur eine kleine Schaar sinnesverwandter Musikernaturen, deren Liebling er blieb und die an seine weitere Entwickelung die größten Hoffnungen knüpften. Wenn aber Einer aus dem Kreise dieser Schwärmer ein Heft neuer Lieder von Brahms in die Hände eines singenden Dilettanten zur gefälligen Ansicht gab, so bekam er es in der Regel am achten Tage wieder zurück mit einem verbindlichen Lächeln, aber ohne eigentlichen Dank. Und fragte man einen Dirigenten, dessen künstlerische Ansichten man nicht genau kannte, um die baldige Aufführung eines größeren Instrumentalwerkes von J. Brahms, so that man gut, auf ein Achselzucken und eine ablehnende Bemerkung gefaßt zu sein.
So war für lange Zeit die Durchschnittsmeinung dem Componisten nicht hold, und es muß deshalb mit besonderem Danke Derer gedacht werden, welche sich in jener Periode seiner „undankbaren“ Werke annahmen. Es waren allerdings die Besten aus der musikalischen Künstlerreihe dabei, wie Joachim, Kirchner, Clara Schumann, und nicht zu vergessen Julius Stockhausen, dessen Name mit den Magelonen-Romanzen verflochten bleiben wird. Literarisch suchte der Dessauer Dr. Schubring ihm die Wege zu bahnen. Aber erst, als das erste große Tonwerk von Brahms, das „Deutsche Requiem“ aufgeführt war – das geschah vollständig im Jahre 1868 im Bremer Dome – trat der große Tondichter in den Genuß der allgemeinen „Berühmtheit“ [222] und der Vortheile, welche mit dieser Eigenschaft für die Künstler und ihre Werke verbunden sind. Für das Verständniß und die Würdigung der Werke von Brahms ist von seiner Gründung ab das „Musikalische Wochenblatt“ von E. W. Fritzsch in Leipzig unausgesetzt und energisch eingetreten.
Johannes Brahms wurde am 7. Mai 1833 zu Hamburg geboren. Im Hause des Vaters, welcher in verschiedenen Orchestern thätig war, frühzeitig zur Musik angehalten, hatte er, als er in den eigentlichen Unterricht kam, das große Glück, in Eduard Marxsen einen Lehrer zu finden, welcher schon aus den Schularbeiten des Knaben dessen eigenartiges, tiefes Talent erkannte und dasselbe zu wecken und zu fördern wußte. Vierzehn Jahre alt, zeigte sich Brahms zum ersten Male den Hamburgern in einem eigenen Concerte als Pianist und auch als Componist.
Von da ab nahm er an dem Musikleben seiner Vaterstadt hin und wieder Antheil, nicht mit dem Nimbus eines Wunderkindes, sondern bescheiden und gelegentlich.
In seinem zwanzigsten Jahre fand Brahms durch die Bekanntschaft mit dem ungarischen Violinspieler Remenyi Veranlassung zu einer Kunstreise, auf welcher verschiedene mittel- und norddeutsche Städte besucht wurden. Einzelne unbeabsichtigte Bravourstückchen, daß er z. B. ohne Noten spiele, ganze Sonaten und große Musikstücke ohne Weiteres transponirte, wurden ihm dabei hoch angerechnet. Das beste Erträgniß der Reise waren für Brahms aber wohl die Freundschaftsbande, welche er während derselben geknüpft hatte. In Hannover lernte er Joseph Joachim kennen, in Weimar Franz Liszt und in Düsseldorf Robert Schumann.
„Das muß Clara hören,“ rief dieser, als Brahms zu spielen angefangen.
Auf der Stelle wurde Frau Clara herbeigeholt, eine Musik zu hören, „wie sie noch keine gehört hatte“. Schumann's Enthusiasmus hielt auch nach und drückte ihm die Feder zu dem bereits erwähnten Aufsatze in die Hand, welcher der musikalischen Welt in dem jungen Brahms den Erwarteten vorstellte, der nicht wie die Andern „die Meisterschaft in stufenweiser Entfaltung bringt, sondern, der Minerva gleich, vollkommen gepanzert dem Haupte des Kronion entsprang“. – „Und er ist gekommen,“ schreibt Schumann, „an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms; kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend, aber von einem trefflichen und begeistert zutragenden Lehrer gebildet ... in den schwierigsten Satzungen der Kunst; mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen. – Er trug auch im Aeußeren alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend, fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kunst hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und laut jubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten – mehr verschleierte Symphonien – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht; einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur, von der anmuthigsten Form; dann Sonaten für Violine und Clavier, Quartette für Saiteninstrumente, und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem Wasserfalle, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet. Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen im Chor und Orchester ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbare Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt! Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gange durch die Welt, wo seiner Wunder warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.“
Vom Jahre 1854 ab lebte Brahms längere Zeit in Hannover, eine Weile auch in Detmold, wo er die Hofconcerte und den Gesangverein (unter dessen active Mitglieder der Fürst selbst gehörte) dirigirte. Im Uebrigen führte er in den schönen zwanziger Lebensjahren ein herrliches künstlerisches Wanderleben. Seit dem Jahre 1862 hat er Wien zu seiner Heimath gemacht und daselbst auch in einflußreichen Directionsstellungen sich um das Musikleben der österreichischen Hauptstadt große Verdienste erworben.
Wer die innere Biographie des Künstlers kennen lernen will, der suche sie in seinen Werken! Sie erzählen die höchst erfreuliche Geschichte von einer großen Begabung und einem großen Charakter. Ich weiß nicht, wie weit der Sturm, welcher durch die ersten Werke von Brahms dahinbraust, einen Bezug auf des Componisten eigenes Leben hat. Aber gewaltig hat sein Herz in der Lenzeszeit zu pochen gehabt. Wie heftig geht es in jener Fis-moll Sonate zu, welche als Op. 2 Frau Clara Schumann gewidmet ist! Wie ist das riesig und furchtbar im Wüthen und Klagen, wie kindlich rührend, wie unwiderstehlich innig im Bitten und im Sehnen! Ein kühner, kraftvoller Recke, stellte sich der Brahms von zwanzig Jahren sogleich in die Nähe des alten Beethoven, bei dem die Sturm- und Drangperiode gegen das Ende des Lebens sich am stärksten äußerte. Es gehen in diesen Erstlingswerken Gestalten von wundersamer Originalität umher. Manches ist so titanisch, daß eine Zeit, welche noch vollständig von dem freundlichen und humanen Genius Mendelssohn's beherrscht wurde, davon befremdet sein mußte. Vieles ist darin nächtig und schaurig. Dann hat er aber auch wieder Weisen so freundlich ansprechend, als hätten wir sie von der Mutter gehört oder selbst als Kinder gesungen. Wie träumt er sich in seinen väterlichen Freund Schumann hinein, wenn er ein Thema desselben variirt! Man könnte glauben, dieser spräche selbst, wenn nicht da und dort ein schmerzlicher Ausruf erklänge, der dem elenden Schicksale des großen Meisters gilt. Es ist ganz die Weise, wie Schumann selbst Grabreden auf Vater Sebastian Bach in Orgelfugenform gehalten hat.
Dann scheint er wieder einmal musikalische Photographie zu treiben; denn diese absonderlichen Themen, dieses Kreuz und Quer, Hin und Her muß einer Figur gelten, die wirklich gelebt hat; für die reine Erfindung ist es zu regellos. Wie aber seine Phantasie mit allen diesen Gebilden der Leidenschaft, des Humors, der Grazie und der weichsten Empfindung spielt – so frei, so sicher und so groß: das haben, so lange es eine Kunst giebt, gewiß nur wenige Jünglinge gekonnt, und Schumann war ganz in seinem Rechte, wenn er in einem Componisten solcher Jugendarbeiten ein Meistergenie allererster Art ersah. Diese Compositionen taugen freilich nicht als Vorbereitung zum Schlafengehen, überhaupt nicht in den Salon, eigentlich auch nicht in den Concertsaal. Aber gekannt zu werden verdienen sie, und nicht blos von denen, die sich für Brahms speciell interessiren. Ihm ist es jedenfalls nicht leicht geworden, sich aus der Sphäre dieser Werke zu befreien. Denn der Zug zum Maßlosen, welcher in ihnen hervortritt, war nicht blos in der überreichen Natur des Künstlers begründet, sondern er war und ist noch heute das Zeichen der Zeit. Darauf aber beruht zum großen Theil die Größe der wahren Meister, daß sie die Gefahren ihrer Zeit erkennen und überwinden.
Wie Brahms diesen Künstlerkampf geführt hat, das ist für Jünger der Kunst sehr lehrreich zu studiren. Ob das äußere Schicksal ihm hierbei hülfreiche Hand geboten? Es kann sein. Wenn die Serenade in D-dur, welche als Op. 11 nach jahrelangem Zwischenraum den Clavierballaden folgte, mehr ist als eine frei poetische Schöpfung, so deutet sie auf äußerst glückliche Tage. Sie schildert Jugend und Liebe, schöne Abendstunden in mondbeleuchtetem Garten, und auch die drolligen Musikantenstreiche fehlen nicht. Wie die Form an eine Sitte jener guten alten Zeit anlehnt, in welcher noch der manierliche Liebhaber vor das Haus der Angebeteten eine musikalische Ovation zu bestellen für gut fand, so schlägt Brahms in dem Werke auch den Ton jener Periode sehr ergötzlich an. Die G-dur-Menuett, in der Fagotte und Clarinetten eine Hauptrolle haben, klingt in ihrer Gutmüthigkeit und Schwärmerei doch auch ein wenig spießbürgerlicher, als wir dies heute gewöhnt sind, und hat in dieser Mischung von Treuherzigkeit und Spaßhaftigkeit in der neueren Instrumentalliteratur kaum ein anderes Seitenstück, als die Scene der Pifferari in der Harold-Symphonie von Hector Berlioz. Als Op. 16 folgte später noch eine zweite Serenade (A-dur), welche, ähnlich wie Méhul's Oper „Uthal“, die Bratsche zur
[223] führenden Geigenstimme hat und auf die Mitwirkung der eigentlichen Violinen verzichtet. Größere Instrumentalwerke verwandten Inhalts sind noch die beiden Septette für Streichinstrumente in B-dur und G-dur. Auch die unlängst veröffentlichte zweite Symphonie in D-dur tritt dem Stimmungskreise dieser frohbeglückten, freundlich milden, zuweilen übermüthig heiteren Compositionen nahe.
Zeitweilig hat er das Elegische und Weiche seiner Natur so vorwalten lassen, daß vielen seiner Verehrer das Bild des Componisten nur in der Gestalt eines zarten Jünglings in der Seele lebt. So zeigt ihn namentlich ein großer Theil seiner Lieder. „Wie bist Du meine Königin“ und „Die Mainacht“ sind vielleicht die bekanntesten Repräsentanten dieser Gattung Brahms'scher Gesänge, deren Empfindungsweise einst irgend Jemand mit dem Schlagwort „schön und schüchtern“ zu bezeichnen versuchte. Ein Silberglanz liegt über ihnen; sie scheinen unter einer Sonne gesungen, die immer wärmt und niemals brennt. In der neueren Liederliteratur haben sie wenig Verwandtes, vielleicht nur einige der kleinen Lieder von Robert Franz, beispielsweise dessen „Stille Sicherheit“. Man muß direct auf Beethoven's „Adelaide“ zurückgehen, um an den Quell zu kommen, aus dem diese Weisen flossen. Ein musikalischer Milchbruder des edlen Hölty erscheint Brahms in diesen so weitschauenden und doch so decenten Liedern mit der großen Sehnsucht, der großen Anlage zu Glück und Freude und dem kleinen Schleier von Melancholie. Auch quantitativ hat Brahms in seinen Liedern die Dichtungen Hölty's sehr bevorzugt. Dadurch, daß das tiefe, feine Gefühl, welches sich in ihnen ausspricht, doch gleich beim ersten Blick von der sonst gebräuchlichen Musiksentimentalität zu unterscheiden war, haben diese elegischen Lieder sehr auffallen und in der Zeit einen großen Eindruck hervorrufen müssen. Keineswegs aber ist mit ihnen das Wesen von Brahms auch nur als Liedersänger erschöpft.
Die ganze Scala menschlicher Empfindungen hat er durchgenommen und auch (in den neuesten Gesängen bei dem Goethe'schen Walpurgislied und der Herder'schen Edward-Ballade) die schauerlichen Saiten wieder sehr unbarmherzig gerührt. Hervortretend wird man namentlich seinen Humor finden und besonders eine ganz schelmische Spielart desselben, die Ernst und Spaß unbestimmt in einander fließen läßt. Die lamentirende Stelle in der „Botschaft“ von Daumer und die in dem Gedicht von Kopisch (op. 58,2), wo der Geliebte daran denkt, daß er nach Hause muß, sobald es zu regnen aufhört, sind sehr frappante Beispiele hierfür. Wenn die Damen unsern Brahms schon wegen seiner Stimmungen wie einen zweiten Heinrich Frauenlob verehren sollten, so hat er sich ihren Dank noch ganz besonders durch seine Schilderungen und Verherrlichungen liebender Mädchen verdient. Sollte einmal ein Musikgelehrter eine Abhandlung über „das Weib in der Tonkunst“ abfassen, so wird darin gewiß von Beethoven's „Leonore“ und Schumann's „Peri“ sehr viel die Rede sein müssen. Mögen dann aber auch ja nicht die beiden einzig lieben Kinder in den Brahms'schen Gesängen „Von ewiger Liebe“ und vom „Herrn von Falkenstein“ vergessen werden!
Von ihrem Gehalte abgesehen, bieten die Lieder von Brahms Denjenigen, welche sie studiren, noch einen großen formellen Nutzen, nämlich die beste Gelegenheit sich mit dem Stile des Componisten vertraut zu machen und eine Hauptschwierigkeit desselben unvermerkt zu überwinden. Wenn Musikfreunde vor manchen instrumentalen Sätzen des Componisten zurückschrecken, so liegt das weniger daran, daß seine Phantasie zuweilen sich in Gebiete begiebt, die von fern nur grau aussehen, und daß ihre Wege nur strapaziös und schwierig zu übersehen sind, als vielmehr an der Knappheit und Kürze des Ausdrucks, mit der er bedeutungsvolle Stellen erledigt: zwei sehr bekannte Uebergangsstellen im Requiem und im Schicksalsliede sind durch nichts weiter markirt als durch zwei oder drei Hornnoten; die freundlichen Wendungen im zweiten Theile der „Harzreise“ sind immer nur in wenige Tacte zusammengedrängt. Wer nicht in Brahms eingelebt ist, läuft deshalb Gefahr, wichtige Partien zu überhören. Feines und hingebendes Hören verlangt Johannes Brahms, aber man lernt dies auch an seinen Werken und am bequemsten an seinen Liedern, wo der Text vieles aufklärt und an die Hand giebt.
Obwohl Brahms Eigenthümlichkeiten des Stiles besitzt, welche beachtet sein wollen, obwohl manche seiner intimsten und schönsten Sätze für Hörer verloren gehen, die nur bei al fresco-Musik erzogen sind, und obwohl viele seiner Motive und Melodien sich an Menschen wenden, welche innere Musik besitzen und einem Componisten ernstlich nachgehen und nachsingen, so steht er doch weit über dem Verdacht eines „gelehrten“ Tonsetzers, mit welchem Titel ja der Volksmund in seiner Höflichkeit die ungenießbaren Producte scholastischer Seelen abzulehnen pflegt. Manche seiner heiteren und lebenslustigen Compositionen – nebenbei bemerkt, schreiben sich die Wiener an diesen ein Verdienst zu – sind in Räume gedrungen, wo sonst die Claviere fast ausschließlich mit „Klosterglocken“, „Papillons“, Potpourris und ähnlichen Aufgaben beschäftigt sind. So die vierhändigen Walzer. Am häufigsten gespielt werden wohl die „Ungarischen Tänze“ von Brahms. Von Brahms? Nein: Gesetzt von Brahms. So ist genau auf dem Titel zu lesen und damit ist eigentlich ein Mißverständniß ausgeschlossen, welches vor etlichen Monaten viel Staub aufgewirbelt hat. Die ungarischen Tänze hat Brahms nur bearbeitet und nur als Bearbeitungen veröffentlicht, obwohl sie in der That von ihm sehr wohl componirt sein könnten, namentlich von dem Brahms der frühesten Periode, der das Contrastirende liebte. Von den verschiedenen Nationalmusiken, welche in der neueren Zeit an die Stelle der ehemals internationalen und ungetheilten Tonkunst zu treten versuchen, ist die ungarische am frühesten als kunstfähig behandelt worden. Haydn und Schubert bedienten sich gern der unbändigen Rhythmen, die jenseits der Leitha zu Hause sind, wenn sie etwas recht Wild-Keckes mitzutheilen hatten. In der A-dur Symphonie klirren selbst bei Beethoven ungarische Sporen. Heute finden wir Namen deutscher Componisten auf den Titelblättern ganzer „Ungarischer Suiten“. Auch Brahms musicirt gelegentlich eine Strecke als lustiger Magyar. So im Schlußsatze seines G-moll Quartetts und noch neuerdings im Allegretto seiner zweiten Symphonie. Die Stile der Länder, der Meister und der Schulen stehen ihm überhaupt zu Gebote, wie er sie haben will, und in diesem Bewußtsein mag es ihn wohl an passendem Orte einmal gereizt haben, hier einen kleinen jubilus à la Händel zu versuchen, dort – wie in dem neuesten Violinconcert – eine Bach'sche Figur erklingen zu lassen. Ganz in derselben Weise hat Bach zuweilen den Geist des großen Buxtehude vor sich treten lassen; so versetzte sich Beethoven in die fromme Zeit, da noch die lydische Tonart gebräuchlich war. Namentlich die Weisen der Altdeutschen, der Eccard und Prätorius, hat Brahms oftmals und sehr wirksam erneuert in einstimmigen und mehrstimmigen Gesängen. Von den letzteren seien besonders die „Marienlieder“ namhaft gemacht, die zweite Nummer derselben „Mariä Kirchgang“ mit apartem Nachdruck. Sie hat an der Stelle, wo Maria in's Wasser tritt und die Glocken zu läuten anfangen, eine malerische Kraft, welche in der a capella-Literatur nicht überboten werden kann.
Es hätte sich wohl ereignen können, daß Brahms sein Leben als künstlerischer Klausner fortgesetzt und beschlossen hätte, unbekümmert um die große Welt, wie sie um ihn. Da erschien ein Zeitpunkt, an welchem er mit allem Glanze seiner Schätze an's Licht trat. Das war, als er sein „Deutsches Requiem“ schrieb.
Das Werk ist ein Gelegenheitsgedicht im Goethe'schen Sinne. Nach dem Tode der Mutter sang der Sohn dieses hohe Lied vom himmlischen Leben und irdischer Vergänglichkeit, welches seinen Namen unsterblich machen wird. Wenn die katholische Todtenmesse einem Gebete gleicht, einer Bitte zum Herrn, mit den armen Seelen der Entschlafenen am jüngsten Tage gnädig in's Gericht zu gehen, so ist das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms mehr eine Predigt, eine Mahnung an die Trauernden, den Tod als Hingang zur ewigen und wahren Heimath zu feiern. Die starre und seufzervolle Grabesmusik, die verzweifelten Ausbrüche der Todesangst, die bitteren und schneidenden Klagen über die Hinfälligkeit des Menschlichen – Alles das soll nur den Blick nach oben lenken, nach den ewigen Freuden am Throne Gottes, den die ekstatischen Lobgesänge der Seligen umschallen. Das „Requiem“ ist eine Art Doppelgemälde von dem Paradiese und einem andern Orte, den man nicht gerade Hölle nennen kann; denn der Tondichter schildert ihn mit unendlichem Mitleid und mit einem engelmilden Trostbemühen: nämlich unsere Erde, den großen Friedhof, und uns, die zum Tode bestimmten Menschen. Wir besitzen dadurch in dem „Requiem“ eines der allerchristlichsten und schönmenschlichsten Werke, welche die Kunst [224] je hervorgebracht hat, eine Schöpfung, vor deren wohlthuender Seelenwirkung zunächst sogar die Bewunderung schweigt, welche ihrem Urheber gezollt werden muß. Der Tiefe des Fühlens, der visionären Macht der Phantasie, der Unmittelbarkeit und Gluth des Ausdrucks und der universellen Herrschaft über die Tonmittel, durch welche dieses „Requiem“ überhaupt möglich wurde, wird man sich erst nachträglich bewußt. In einer Zeit, welche den Anspruch dramatischer Entwickelung auch auf alle größeren musikalischen Kunstwerke zu übertragen geneigt ist, war es ein Wagniß, mit einer Composition hervorzutreten, die dem scheinbar keine Rechnung trägt. Der Glaube an sein eigenes und das Herz der Menschheit hat aber den Componisten nicht betrogen.
Die schöne Gabe, aus dem Herben Erhebung zu bereiten, hat Brahms noch in manchem anderen Werke bewiesen. So in der „Rhapsodie“, die ein Fragment aus Goethe’s „Harzreise“ musikalisch behandelt. Vorzüglich auch im „Schicksalsliede“, einer Art Duodez-Ausgabe des „Requiem“. Gleich diesem eine Chorcomposition, ist es als solche dadurch besonders interessant, daß sein letzter und entscheidender Theil den Instrumenten allein überlassen bleibt. Eine seiner größeren und anspruchvollsten Chorcompositionen, das „Triumphlied“, hat einen Bezug auf die deutschen Siege im letzten Kriege. Daß Brahms mit seinen Chorwerken unter den lebenden Tondichtern ohne Concurrenten dasteht, wird auch von Denen anerkannt, welche im Allgemeinen sich ein Wenn und Aber reserviren wollen. Aus der Menge seiner großen Instrumentalcompositionen können das Clavierconcert in D-moll, welches Ende der fünfziger Jahre in die Oeffentlichkeit trat, und die noch junge C-moll Symphonie als Werke bezeichnet werden, die in ihrer Gattung dem „Deutschen Requiem“ an Bedeutung gleichkommen.
Um die Stellung des Componisten zur Mit- und Nachwelt zu charakterisiren, wird das Vorstehende genügen. Möge der Himmel, der ihm auch einen starken Körper gab, den Meister Brahms der Kunst noch lange erhalten!
Noch habe ich eine stille Frage zu beantworten. „Nein, verehrte Leserinnen, verheirathet ist er nicht.“