CXXXXIII. Der Königsbau in München Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band (1837) von Joseph Meyer
CXXXXIV. Hurduwar
CXXXXV. Sidon
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HURDUWAR
in Ostindien

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CXXXXIV. Hurduwar.




Es ist leider! eine unleugbare Wahrheit, daß viele Religionen nichts sind, als Erzeugnisse der Schwankungen, und Verirrungen des menschlichen Geistes. Dem unbefangenen Forscher stellen sie sich, in ihrer Ausartung, als die schwersten, fluchwürdigsten Ketten dar, welche die Menschheit trägt, und die sie am raschern Fortschreiten auf der Leiter der Bildung hindern. In hohem Grade gilt dieß von den Glaubenssystemen, unter deren Herrschaft die meisten Völker des Orients verkümmern.

In jenen Zeiträumen, während welcher die ältesten Völker Asien’s und Ostafrika’s in der Mythe und Fabel finsterem Labyrinthe irrten, gelangten ihre naturforschenden Priester, bei der Fortsetzung ihrer Studien und Untersuchungen über die Ordnung und Einrichtung der Welt, allmählich zu Resultaten, welche den Begriff vom Daseyn eines allmächtigen Schöpfers und Regierers anbahnten. Sie hatten gefunden, daß nichts in der Welt untergeht. Sie hatten die Unzerstörbarkeit der Elemente entdeckt, und erkannt, daß wohl deren Zusammensetzung, nie aber deren Natur sich ändere. Die Wahrheit, daß Leben und Tod nur veränderte Modifikationen derselben Atome sind, war ihnen kein Geheimniß geblieben, und daß die Welt ewig, d. h. ohne Schranken des Raums und der Zeit sey, wurde ein, durch tausend Beweise unterstütztes, allgemein angenommenes Axiom.

Aus der Unvergänglichkeit der Atome und Unzerstörbarkeit der Elemente deduzirten die Priester die des ätherischen Wesens, dessen Daseyn das Leben bedingt; aus der Unvergänglichkeit der Materie leiteten sie die Unsterblichkeit der Seele ab. Aber wie in der physischen Welt die Atome sich trennen und anders fügen, und zu andern Formen sich ausprägen, so dachte man sich auch eine Wanderung der Lebensgeister von einem Körper zum andern: – die Seelenwanderung. – Man bemerkte in der ganzen Natur einen ewigen Kreislauf: dem befangenen Auge stellte die Welt als Maschine sich dar. Eine solche, so schloß man weiter, baut sich nicht selbst, sie muß einen Urheber haben; also entstand der Begriff vom alleinigen, allmächtigen Gott.

An den Ufern des Indus, des Euphrats und des Nils wurden diese Vorstellungen zuerst wach, und sie bildeten die Grundlage der Geheimlehre der Geweiheten. Als aber im Laufe der Zeiten in dem Schooße der Priestercollegien über die Natur der Gottheit Meinungsverschiedenheiten entstanden, und diese zu Streitigkeiten und Spaltungen führten; als in Folge politischer Umwälzungen sich Völker und Meinungen gewaltsam vermengten: da ging der Faden der Ideen verloren; in’s Chaos sank die Gotteslehre und war nichts mehr, als ein Worträthsel, zusammengesetzt aus Traditionen, die Niemand mehr verstand. Jetzt wurde die Religion Verbündete, oder Werkzeug [13] der politischen Macht, oder sie bot sich als ein immer bereites Mittel dar, die leichtgläubige Menge zu leiten, dessen sich bald leichtgläubige Menschen selbst, von ihren eigenen Träumen betrogen, bald kühne Menschen, von starker Seele, zu ehrsüchtigen Zwecken, bald tugendhafte und wahrhaft große Menschen für ihre Pläne zur Veredlung ihres Geschlechts mit mächtigem Erfolge bedienten.

Moses, der Gesetzgeber der Israeliten; fünf Jahrhunderte später Zoroaster, und, vor diesem und Moses, Menu, der indische Glaubensfürst, waren solche Menschen. Dieser, wahrscheinlich ein aus Aethiopien geflüchteter Schismatiker, führte an den Ufern des Ganges die Lehre von den drei Urkräften, oder der Dreigottheit ein; die nämliche, welche auch später aus Aegypten an die Griechen, nur mit einigen Modifikationen, überging. Diese indische Dreieinigkeit nennt Brahma (Jupiter) den Urheber aller Erzeugung (der Schöpfung), Schiwa (Pluto) den Geist der Zerstörung; und als Gott-Erhalter Wischnuh (den Neptun). Pythagoras und Plato haben dieses System verfeinert, und in den jüngsten Religionen begegnen wir ihm unter andern Formen wieder.

Menu war ein eben so glücklicher als schlauer Betrüger. Nie ist aus dem Kopfe eines Sterblichen eine Religion hervorgegangen, welche, wie die Seinige, über die Menschen eine so unumschränkte Herrschaft übt, und der Priesterkaste eine so erhabene Stellung einräumt. Der Charakter, die Sitten, die Lebensart des Volkes bis auf die kleinsten Verrichtungen ist ihr Werk, und der vollkommenste Despotismus, der je auf Menschen drückte, erhält die unglücklichen Völker, welche ihr huldigen, mit tausend Banden so unauflöslich umschlungen, daß selbst der gewaltige Einfluß andersgläubiger Eroberer bis jetzt wenig an ihr zu ändern vermocht hat. Seit drittehalb Jahrhunderten herrschen mohamedanische, und seit einem halben Jahrhundert christliche Fürsten über die Hindus; aber unerschüttert, als wäre Menu’s Werk erhaben über allen irdischen Wechsel, steht noch immer das Ansehen seiner Priester. Sein System, das allen Rangunterschied erblich und persönlich macht, alle Vorrechte und Einschränkungen mit der Geburt verknüpft, und jedem der hundert Millionen seiner Gläubigen verbietet, das zu werden, wozu ihn die Natur geschickt macht, und das zu bleiben zwingt, wozu ihn die Geburt verdammt hat, – erhebt die Priesterkaste (die Braminen) zur Ebenbürtigkeit mit der lebendigen Gottheit, und umgibt sie mit einem strahlendern Nimbus, als die Götter selbst. Jeder Bramine, sey er auch der roheste, unwissendste und lasterhafteste Mensch, sey er, wie so viele Tausende es sind, ein in Lumpen gehüllter, schmutziger Bettler, ist höher gestellt in der Meinung des Volks, als der König, und wird verehrt als ein unmittelbarer Theil des höchsten Wesens. Seine Person ist unverletzlich unter allen Umständen; und selbst wenn er das Staatsoberhaupt mordet, darf er nur aus dem Lande gewiesen werden. Was er dem menschlichen Geschlecht verkündigt, ist ein Spruch der Allmacht. Geschick und Zufall dienen seinem Willen; und Wohl und Wehe jedes Einzelnen, wie ganzer Reiche, liegt in seiner Gewalt. Und vermöge dieses Glaubens ist der Bramine Herr des Vermögens und der Dienste jedes Hindus. Niemals ward ein großer Theil der Menschheit frecher, schändlicher und dauernder um seine natürlichen Rechte zum Vortheil Weniger betrogen! Alle europäischen [14] Einrichtungen alter und neuerer Zeit, der politischen wie der kirchlichen, zur leiblichen und Seelenbeherrschung der Massen, sind gegen diese nichts und vergleichen sich ihnen wie schlechte Schülerarbeiten zu denen des Meisters. –

Der Ganges, der Geburtsort dieses an der Menschheit Hochverrath übenden Religionssystems, blieb auch der vornehmste Sitz seiner sogenannten Heiligthümer. Dort, wo jener gefeiertste der Ströme, aus den Gletscherwüsten des Himalaja kommend, mit mächtiger Fluth die Riesenmauer des Sewalukgebirges durchbricht, um sich in die Ebenen von Hindostan zu wälzen, liegt Hurduwar (Hurdi-war, die Pforte Gottes), ein so heiliger Ort, daß die Nennung des bloßen Namens schon im Glauben des Hindus ein Gott wohlgefälliges Gebet ist. Sechs Millionen Hindus pilgern jedes Jahr hierher, und viele kommen von den weitesten Entfernungen, um in den Fluthen des heiligen Stromes ihre Seele von aller Schuld zu reinigen. Hindostan ist reich an solchen Mauthstätten der Dummheit und des Betrugs, aber keine ist größer und einträglicher: – 12,000 Braminen sind hier die Zöllner. Doch nicht allein sie, auch der Wucher und Schacher mit andern Waaren hält, wie in so manchen nichtindischen Wallfahrtsorten, in Hurduwar reiche Aerndte, und Tänzerinnen, Gaukler, gefällige Mädchen, Verkäufer von Waaren aller Art, halten hier zu Tausenden Markt. Die Stadt und ihre Umgebung ist während der Pilgerzeit, im Sommer, ein endloser Bazar, in dem neben den Manufakturen von England, die Parfüms von Paris, die Shawls von Caschemir, die Seidenzeuge China’s, die Korallen des rothen Meeres, die Diamanten Golconda’s, die Perlen von Zeylon, Rosenöl aus Persien, Schweizer Uhren, arabische Spezereien, Balsam aus Timbuktu und seltene und kostbare Dinge aus allen Erdgürteln zum Kauf ausliegen. Man schätzt den Betrag des jährlichen Waarenumsatzes an diesem Wallfahrtsorte auf mehr als 20 Millionen Gulden. –

Die Hauptstraße der Stadt führt längs dem hohen und steilen Stromufer hin. Sie hat an mehren Stellen Ausgänge, von denen hohe Treppen hinab zum Flusse leiten. Die größte und breiteste dieser Treppen ist die hier abgebildete, und die Stromstelle an ihrem Fuße sieht im Rufe, die heiligste und wirksamste im ganzen Ganges zu seyn. Daher ist hieher stets der größte Andrang der Pilger, und es ist schon der Fall gewesen, daß 500,000 an einem einzigen Tage ihre Waschungen daselbst verrichteten. Letzteres geschieht, am Tage, wie in der Nacht, nackt, ohne Unterschied des Alters oder Geschlechts, und es bedarf keines scharfen Beobachters, um zu bemerken, daß nicht Frömmigkeit und Aberglaube allein die Badenden zusammen schaart. Von jedem Pilger wird für die Erlaubniß sich zu entsündigen von den Braminen eine Abgabe erhoben, und außerdem gehen immer Tausende dieser indischen Pfaffen unter der wogenden Pilgermasse umher, und fordern mit lauter Stimme zu gottgefälligen Opfern auf. Die Summen sind unglaublich, welche auf diese Weise erhoben werden. Die Einnahme der Priester überstieg an einem Tage einst die Summe von 240,000 Gulden. Unglücksfälle sind so gewöhnlich, daß sie nicht beachtet werden; denn obschon der Strom, wenn ihn nicht Regengüsse anschwellen, für Erwachsene keine lebensgefährliche Tiefe hat, so gibt doch der gränzenlose Unfug zur Nachtzeit, die eine Menge Berauschter in die Fluthen lockt, nur zu häufig Anlaß, daß Viele [15] im Ganges ihr Grab finden. Noch fürchterlicher sind die Unglücksfälle, welche häufig durch den Mangel an Raum auf der großen Badestiege und in dem engen Zugange zu derselben entstehen. 1820, im Sommer, bei einer Anwesenheit von 700,000 Pilgrims, geschah es einmal, daß das Gedränge nach der Haupttreppe so fürchterlich wurde, daß, als sich nach fünfstündiger Dauer der Menschenknäuel entwickelte, über 3000, meistens Weiber und Kinder, zertreten und todtgedrückt, diese Stiege und die zu ihr führende Straßen bedeckten, und über 10,000 mit zerquetschten Gliedern ihre Frömmigkeit büßten. Unter den Erdrückten befanden sich sogar 120 Soldaten, welche der Gouverneur zur Aufrechthaltung der Ordnung hergesendet hatte. Seit diesem großen Unglücke hat die britische Regierung die Zugänge zu allen Badeplätzen, trotz der Protestation der Braminen, um das Doppelte erweitern lassen, und 2000 Mann Compagnietruppen sind während der Pilgerzeit dazu bestimmt, die Wiederkehr so schrecklicher Fälle zu verhindern. Man hat seitdem bemerkt, daß die Zahl der Pilger, obschon immer noch ungeheuer, alljährlich abnimmt, und der Zeitpunkt ist vielleicht doch so fern nicht mehr, wo England es wagen darf, den Strom europäischer Bildung und europäischen Strebens in weitern Kanälen nach jenen fernen Gegenden seines Weltreichs zu leiten, und an die Uhr des menu-asiatischen Lebens größere Gewichte seines Einflusses zu hängen. Unmöglich kann die von den Braminen unterhaltene Macht des Aberglaubens dem unaufhörlichen Lichtausstrahlen von den Centralpunkten europäischer Sitte, Calcutta, Bombay und Madras dauernd widerstehen, und im Gefolge der Sitten bahnt sich gewiß allmählich auch ein edlerer Glaube Weg in die Herzen der östlichen Völker. Es ist kein Traum des Menschenfreundes, daß im Wechselspiele menschlicher Schicksale Europa zur Regeneration Asien’s berufen sey. Nur die Zeit wolle man ihm nicht bemessen.