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CXXXXIV. Hurduwar.




Es ist leider! eine unleugbare Wahrheit, daß viele Religionen nichts sind, als Erzeugnisse der Schwankungen, und Verirrungen des menschlichen Geistes. Dem unbefangenen Forscher stellen sie sich, in ihrer Ausartung, als die schwersten, fluchwürdigsten Ketten dar, welche die Menschheit trägt, und die sie am raschern Fortschreiten auf der Leiter der Bildung hindern. In hohem Grade gilt dieß von den Glaubenssystemen, unter deren Herrschaft die meisten Völker des Orients verkümmern.

In jenen Zeiträumen, während welcher die ältesten Völker Asien’s und Ostafrika’s in der Mythe und Fabel finsterem Labyrinthe irrten, gelangten ihre naturforschenden Priester, bei der Fortsetzung ihrer Studien und Untersuchungen über die Ordnung und Einrichtung der Welt, allmählich zu Resultaten, welche den Begriff vom Daseyn eines allmächtigen Schöpfers und Regierers anbahnten. Sie hatten gefunden, daß nichts in der Welt untergeht. Sie hatten die Unzerstörbarkeit der Elemente entdeckt, und erkannt, daß wohl deren Zusammensetzung, nie aber deren Natur sich ändere. Die Wahrheit, daß Leben und Tod nur veränderte Modifikationen derselben Atome sind, war ihnen kein Geheimniß geblieben, und daß die Welt ewig, d. h. ohne Schranken des Raums und der Zeit sey, wurde ein, durch tausend Beweise unterstütztes, allgemein angenommenes Axiom.

Aus der Unvergänglichkeit der Atome und Unzerstörbarkeit der Elemente deduzirten die Priester die des ätherischen Wesens, dessen Daseyn das Leben bedingt; aus der Unvergänglichkeit der Materie leiteten sie die Unsterblichkeit der Seele ab. Aber wie in der physischen Welt die Atome sich trennen und anders fügen, und zu andern Formen sich ausprägen, so dachte man sich auch eine Wanderung der Lebensgeister von einem Körper zum andern: – die Seelenwanderung. – Man bemerkte in der ganzen Natur einen ewigen Kreislauf: dem befangenen Auge stellte die Welt als Maschine sich dar. Eine solche, so schloß man weiter, baut sich nicht selbst, sie muß einen Urheber haben; also entstand der Begriff vom alleinigen, allmächtigen Gott.

An den Ufern des Indus, des Euphrats und des Nils wurden diese Vorstellungen zuerst wach, und sie bildeten die Grundlage der Geheimlehre der Geweiheten. Als aber im Laufe der Zeiten in dem Schooße der Priestercollegien über die Natur der Gottheit Meinungsverschiedenheiten entstanden, und diese zu Streitigkeiten und Spaltungen führten; als in Folge politischer Umwälzungen sich Völker und Meinungen gewaltsam vermengten: da ging der Faden der Ideen verloren; in’s Chaos sank die Gotteslehre und war nichts mehr, als ein Worträthsel, zusammengesetzt aus Traditionen, die Niemand mehr verstand. Jetzt wurde die Religion Verbündete, oder Werkzeug