CLI. Absalom’s Denkmal in der Nekropolis von Jerusalem Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Vierter Band (1837) von Joseph Meyer
CLII. Havre
CLIII. Die Kaiser-Gärten bei Nanking in China
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HAVRE

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CLII. Havre.




Nicht Größe noch Bevölkerung machen Havre zu einem weltberühmten Ort. Es ist’s als Hafen von Paris, als die erste Handelsstadt Frankreichs.

Havre liegt am rechten Ufer der Seinemündung und ist neuen Ursprungs. Die Natur that nichts für seine Bestimmung. Noch zu Anfang des 16ten Jahrhunderts deckte eine Lagune seine Stelle, und ausgenommen einige Fischerhütten auf der Höhe, wo jetzt die reizende Vorstadt Ingouville sich ausbreitet, sah man keine Spur menschlicher Kultur. Bevölkerung und Handel hausten am jenseitigen Strande, im jetzt verödeten Honfleur.

Bei der allmählichen Versandung dieses Hafens, welcher den größern Schiffen den Zugang von Jahr zu Jahr beschwerlicher machte, faßte schon Ludwig der Zwölfte den Plan, am andern Ufer einen sichern Hafen zu bauen, tief und geräumig genug, um die größten Schiffe und eine große Flotte aufnehmen zu können. Der thatkräftige Franz der Erste führte aus, was jener beschlossen hatte. Das Unternehmen war schwer; denn es mußte dem Meere selbst der Raum dazu entrungen werden. Es kam in den Jahren 1515–1521 zu Stande, und neben den schönen Magazinen und prächtigen Kayen blühete eine freundliche Stadt auf. Er nannte den Ort Havre de Grace, Hafen der Gnade. Aber nicht lange war sein Bestehen. In dem nämlichen Jahre, als in der Schlacht von Pavia sein Gründer, Franz der Erste, Reich und Freiheit verlor: am 15. Januar 1525, um Mitternacht, [32] warf der empörte Ozean, bei Nordsturm, die Dämme nieder, die seine Herrschaft beengten und Stadt, und Volk verschlingend, nahm er schrecklichen Wiederbesitz vom alten Gebiet. In dieser fürchterlichen Nacht kamen viele Tausende um’s Leben. Aber mit beharrlichem Geiste richtete Franz der Erste, als er den Thron wieder bestiegen, sein Werk von neuem und nur um so fester auf, und bald war ein zweites Havre erstanden, schöner und größer als das erste. Noch einmal versuchte das Meer das alte Gebiet wieder zu erobern: zwölf Jahre nach der Wiedererbauung brachen bei Nordweststurm die Deiche, und die schrecklichen Wogen wälzten abermals Verwüstung in die unglückliche Stadt. Hundert und zwanzig Schiffe zertrümmerten im Hafen, oder scheiterten, ganze Straßen verschwanden vor der Wuth des erzürnten Elements und Hunderte von Menschen ertranken. Aber von diesem Zeitpunkt an, gleichsam als wenn mit diesem doppelten Sühnopfer das Meer befriedigt wäre, schloß sich die Pforte des Unglücks für Havre, und ein seltenes und beständiges Gedeihen gab für die ausgestandenen Prüfungen reichen Lohn. Franz der Erste errichtete Docks zum Bau der größten Kriegsfahrzeuge, und wenn auch das erste Linienschiff, welches hier gebaut wurde, so schwerfällig war, daß es nicht schwimmen konnte und das Gespött der Welt auf sich zog, so sah man doch sehr bald (1545) eine Kriegsflotte von 200 Segeln entstehen, welche, England mit einer Landung bedrohend, die stolzen Britten beunruhigte. Franz der Erste schlug eine Zeitlang seine Residenz hier auf und gab an Bord der Flotte die glänzendsten Feste. Bei einem solchen gerieth einst das Admiralschiff, auf dem der König eben Tafel hielt, in Brand, bald stand’s in vollen Flammen und die hohen Gäste hatten kaum Zeit sich zu retten. Aber der Etikette getreu, salutirte die Flotte bei des Monarchen Abfahrt, und, während 800 Kanonen donnerten, flog der flammende Dreidecker in die Luft. Ueber tausend Menschen büßten damals ihr Leben ein.

In den Kriegen zwischen England und Frankreich wurde Havre mehrmals erobert und wiedererobert; doch zog es aus diesen Wechseln gemeinlich große Vortheile. Kardinal Richelieu erweiterte den Hafen und errichtete eine Menge neuer Werke, Leuchtthürme, Magazine etc. zur Förderung und Erleichterung des Verkehrs. Doch erst Napoleon war der eigentliche Begründer von Havre’s jetziger Größe. Bei dessen Besuche im Jahre 1802 reifte in seiner Seele der Plan, Havre zum Emporium des französischen Seehandels zu machen, und Arbeiten wurden nun unternommen, die, bei Napoleon’s Sturz leider unvollendet und auch jetzt noch nicht beendigt, in Erstaunen setzen. Eins dieser Werke ist der neue Hafen. Er besteht aus 3 Bassins, tief und weit genug, um die größte Flotte der Welt aufzunehmen, und ist mit Schleusenthoren versehen, durch welche zwei Fregatten neben einander einfahren können. Auf der Rhede können 2000 Schiffe in vollkommener Sicherheit vor Anker liegen. – Festungswerke von uneinnehmbarer Stärke schützen Stadt und Hafen vor jedem Angriff. Napoleon verwendete auf diese Bauten 200 Millionen Franken und hat sich damit ein Denkmal gestiftet, seines Namens würdig.

[33] Havre zählt gegenwärtig etwa 2100 Häuser mit 40,000 Einwohnern, die im Handel, im Schiffbau und in der Rhederei, so wie in den, von diesen Gewerben bedingten, Manufakturen und Beschäftigungen eine Quelle des Reichthums und der allgemeinen Wohlhabenheit finden. Wegen der Beschränktheit und Kostbarkeit des Raums ist die untere, die eigentliche Stadt, in engen Straßen zusammen gedrängt, in denen das unbeschreibliche, nie rastende Gewühl beschäftigter Menschen dem Beobachter ein Bild vor Augen rückt, welches er nur in einer Welthandelsstadt sehen kann. Reizend aber ist die Neustadt – Ingouville – angelegt, auf der Höhe östlich von der Stadt, mit herrlichen und fast unbeschränkten Aussichten über die Ufer der Seine und das von kommenden und gehenden Segeln immer wimmelnde Meer. Hier hat der reiche Kaufmann, oder Schiffeigenthümer, seine Wohnungen mit schönen Gärten, und hier genießt er das Leben in den geschäftsfreien Stunden.

Havre’s überseeischer Handel übertrifft den von Marseille und Bourdeaux zusammen genommen, und Frankreichs Verkehr mit Amerika und Westindien gehört ihm fast ganz allein. Am wichtigsten sind die Geschäfte mit den Vereinigten Staaten, denen allein jährlich über 600 Schiffe dienen. Die Gesammtzahl der ankommenden und absegelnden Schiffe war im vorigen Jahre 1700. Den Gesammtwerth der Ein- und Ausfuhr schätzte man über 300 Millionen Franken.