LVIII. Die Jungfrau Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LIX. Gotha
LX. Leuchtthurm und Fort auf dem schwarzen Felsen (Blackrock, or Bellrock) bei Liverpool
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GOTHA

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LIX. Gotha.




Im Herzen von Deutschland, am nordöstlichen Fuße des Thüringer Waldgebirges, dessen zahlreiche Thäler, eng und schroff, zwischen Fels- und Tannenwänden, wildrauschende, klare Waldbäche durch romantische Gegenden einer heitern und gesegneten Ebene zusenden, liegt Gotha, im gleichnamigen Herzogthume die Hauptstadt, und unter den Städten aller herzoglich sächsischen Länder die größte und schönste. Ihre aus einem dichten, breiten, mit zierlichen, zum Theil prächtigen, Villen geschmückten Gartenhaine hervorschauenden Häuserreihen lagern sich, als meistens hübsche Straßen, theils auf einer von dem Leinaflusse bewässerten Ebene, theils umkränzen sie die untere Hälfte der Abend- und Mitternachtseite eines auf breiter Base ruhenden 250 Fuß hohen Hügels. Dessen obere Hälfte und dessen Seite gen Mittag bekleiden großartig entworfene Parkanlagen, und auf einer weiten Terrasse am östlichen Abhange ist zwischen schön gebauten und massiven Pflanzenhäusern eine der prächtigsten Orangerien aufgestellt, die man in Deutschland sehen kann. Oben aber auf dem Plateau des Hügels, weithin und durch halb Thüringen sichtbar, prangt majestätisch Gotha’s Fürstenburg – der Friedenstein, – an Größe und Bauart viele Paläste von Königen übertreffend, an Reiz der Lage von wenigen erreicht, und unter den Wohnungen deutscher Fürsten eine der allerherrlichsten. Stadt und Schloß, beide mit reizender Gartenumgebung, und die prachtvolle, mit Schlössern und Ritterburgen auf waldigen Hügeln geschmückte Gegend, geben ein Ensemble voll malerischer Ansichten, zu welchen die amphitheatralisch sich hinter einander erhebenden Bergreihen des Thüringerwaldes süd- und westwärts, nach Nord und Ost aber der blaue Aether eines fast unbegrenzten Horizonts die Hintergründe bilden. Am prächtigsten erscheint die Stadt von Mitternacht her; ein Blick überschaut die fast bis zum Plateau des Schloßberges hinan steigende Häusermasse ganz. Eine mehr westliche Ansicht ist die für unsere Darstellung gewählte.

Die Stadt hat in etwa 1200 Häusern ungefähr 14,000 Einwohner, deren Mehrzahl Gewerbfleiß und heiterer Lebenssinn charakterisirt. Was aber Gotha auszeichnet vor eine Menge weit größerer Städte ist nicht sowohl Geld-Reichthum, (denn nicht dieser, sondern eine durch alle Klassen verbreitete Wohlhabenheit ist hier zu Hause!) als eine seltene Fülle von Intelligenz und Bildung, die erblich, möchte man sagen, hier angetroffen wird. – Gotha war lange Zeit her nicht nur für Deutschland, sondern selbst für entferntere Länder eine Pflanzschule gelehrter Manner. Seit Jahrhunderten hat es stets einen Kreis von solchen besessen, und viele, die in der Wissenschaft und der Kunst unendlichem Raume als Sterne erster Größe glänzen[1]. In Gotha’s altem (nun erloschenen!) Fürstenhause, vom großen Ahnherrn – Ernst dem Frommen – an bis zum genialen August herab, war warme Theilnahme [30] an den höchsten und edelsten Interessen der Menschheit eine erbliche Tugend und der Umgang mit Männern von seltener geistiger und wissenschaftlicher Bildung Bedürfniß. Daher schon so lange her ein Reichthum an Anstalten in dem kleinen Fürstenthume für Ermunterung und Ausbildung jeglichen Talents, wie ihn manche weit größere Staaten entbehren, und eben jene Anstalten in einer Vollkommenheit, daß sie für andere Länder noch jetzt als Muster dienen. – Das Gymnasium, weltberühmt, und immer von einer Menge Ausländer besucht, ist vielleicht das beste in Deutschland; das Institut zur Bildung von Volksschullehrern (das Seminar), auch ein Denkmal des hohen Geistes des großen Ernst’s, ist die Mutter und das Muster für alle gleichartigen Institute Europa’s gewesen; – die Sternwarte, dem Lande ein Geschenk von Ernst II., (er bestritt Bau und Fundirung derselben aus den Ersparnissen seiner Chatulle), macht durch die hier von Zach, Encke und Lindenau gemachten Entdeckungen in der Geschichte der Sternkunde Epoche; – in Salzmann’s nach 50jährigem Bestehen noch jugendlich blühender Erziehungsanstalt erhält die ächte Pädagogik, wie sie von Basedow ausging und von dem Stifter gleichzeitig mit Pestalozzi fortgebildet wurde, fortwährend die gesegnetste Anwendung; sie ist die älteste, berühmteste Deutschland’s, und einzig in ihrer Art; – die Feuer- und die Lebensversicherungsbank, beide die ersten auf dem Princip der Gegenseitigkeit ruhenden Institute in Deutschland und dem Gesammt-Vaterlande so wichtig und wohlthätig geworden, ehren den Mann, der sie gründete, (E. W. Arnoldi) und die Stadt, wo sie gedeihen und so groß werden konnten; – die Handelsschule, zur wissenschaftlichen und praktischen Bildung junger Kaufleute (auch sie nennt Arnoldi als ihren Gründer!) ist ein Muster ihrer Gattung; und Gewerbs-, Sonntags- und Freischulen, sammt der Anstalt für den Unterricht armer Mädchen in weiblichen Handarbeiten, die Carolinenschule, so wie noch manche andere vom Staate unabhängig bestehende Institute, sind eben so viel wohlthätige Bildungsmittel für die Einwohnerklassen, welche solcher gemeinlich ganz entbehren, als zugleich Ehrenzeugnisse von der humanen, erleuchteten, patriotischen Denkweise, welche die gebildeten und wohlhabenden Stände dieser Stadt durchdringt. – Für den Künstler und Gelehrten aber bieten sich Hülfsmittel in Fülle dar durch die der öffentlichen Benutzung hingegebenen berühmten Sammlungen im herzoglichen Schlosse – die Bibliothek von 100,000 Bänden – das Museum mit Gemälde-Gallerie (über 1000 Bilder, unter ihnen die Hauptwerke Lucas Cranach’s); naturhistorischen, physikalichen, Kunst- und Modellsammlungen etc. etc. – ferner: das Chinesische und das Münzkabinet, dieses eins der kostbarsten Europa’s.

Daß bei so regem geistigen Streben auch das industrielle hier bedeutend sey, kann man sich denken. Gotha’s Handel und Gewerbe blühen und werden theils durch große Fabrikanlagen, mehr aber noch durch den Luxus genährt, [31] der sich immer der Bildung zugesellt, weil diese zahlreichere und höhere Bedürfnisse kennen lehrt. Auch die fast allgemeine Wohlhabenheit unter den Landbewohnern und der durch die trefflichen Schulanstalten unter ihnen geweckte Sinn für das Schönere und Bessere, geben den städtischen Gewerben eine ihrer kräftigsten Stützen. Unter den größern Industrieanstalten sind die Porzellanfabrik (eine der ältesten und besten Deutschland’s), die Kattunmanufaktur, die von hier aus geleitete Elgersburger Fabrik für Emilian und Steingut, die Tabak-, Schuh-, Tapeten-, Farb- und Buntpapier-Manufakturen, die Buch-, Stein- und Kupferdruckereien, (diese größtentheils von ein paar bedeutenden Verlagshandlungen beschäftigt) bemerkenswerth. – Unter den Gebäuden Gotha’s nennen wir die große, aber im vorletzten Jahrhundert im schlechtesten Geschmack modernisirte Neumarktskirche, das einen herrlichen Markt mehr versperrende als zierende geräumige Rathhaus mit seinem plumpen Thurme, das weitläufige, aber schwerfällige und keinen Anspruch auf architektonische Schönheit habende Waisenhaus, die Innungshalle (Börse), das ehrwürdige Augustinerkloster, (wo Luther predigte) jetzt das Lokal des Gymnasiums und der städtischen Schulen, und die fürstlichen Wohnungen in den Vorstädten: – Friedrichsthal, das Palais der Herzogin Wittwe und das ehemalige des Prinzen August (letzteres im besten italienischen Styl) blos mit Namen. – Aber Schloß Friedenstein nimmt unsere nähere Betrachtung in Anspruch. – Herzog Ernst der Fromme, von so vielem Großen der Schöpfer, war sein Erbauer. Als eins der größten Werke des 17. Jahrhunderts, welche Zeit einem ganz verdorbenen, halb italienischem, halb französischem Baustyle fröhnte, ist es zweifach merkwürdig durch das sichtbare Streben, sich von diesem Geschmack weg und einem edleren zuzuwenden. Auch hier zeigt sich der weit über seine Zeit erhabene große Geist des Gründers. – Dieser Palast nimmt die Stelle der ehemaligen herzoglichen Residenz und Veste Grimmenstein ein, welche, in Vollziehung der über Herzog Friedrich dem Mittlern, wegen Aufnahme des vogelfreien Grumbach’s verhängten Reichsacht, zerstört wurde. Es besteht aus dem der Stadt zugekehrten vierstöckigen Hauptgebäude von 330 Fuß Länge und 71 Fuß Tiefe, an welches, rechtwinklich, 2 dreistöckige Flügel, jeder von 270 Fuß Länge und 51 Fuß Tiefe stoßen, die in kuppelförmig überbauten, vorspringenden, viereckigen Pavillons von 141 Fuß Höhe endigen. – Das Hauptgebäude hatte früher in der Mitte einen schönen Thurm, den man aber, aus Furcht, das Fundament möchte dem Druck der ungeheuern Steinmasse nicht widerstehen können, vorlängst abnahm. Dadurch ward das Verhältniß gestört, und das einförmige, allzuhohe Dach an diesem Theile des Palastes macht einen widrigen Eindruck. Auch das Portal ist der Größe des Baus durchaus unangemessen und kleinlich. Höchst großartig ist aber die Rück- oder die Hofseite dieses Fürstenhauses. – Die sämmtlichen Gebäude öffnen sich nach dem Hofe hin im untern Stock durch 16 Fuß weite Arkaden, welche ihre halbkreisförmigen Bogen auf mächtige, fünf Fuß starke Pfeiler stützen. Die südliche Seite des Vierecks besteht blos aus diesem Bogengange, dessen Platform mit Kupfer gedeckt ist. Sie bildet die Verbindung der Bel-Etage (der Wohnung des Fürsten) mit den beiden eine Bibliothek und Kunstsammlungen enthaltenden Eckpavillons. Dieser Schloßhof, dessen Länge 297 Fuß und dessen Breite 228 Fuß beträgt, der also einen [32] Flächenraum von 68,000 Quadratfuß einnimmt, ist wahrhaft großartig. Auch das Innere, mit seinen breiten Corridors, schönen Treppen, magnifiken Sälen und einer geräumigen Kirche ist dem Geist und Zweck des Gebäudes angemessen. Durch die Wegnahme des unanständigen Portals und den Bau eines Portikus mit nobler Kuppel an seine Stelle, durch den Abbruch der zwei kleinlichen im vorigen Jahrhundert an den vordern Ecken des großen Schlosses angebauten Häuser, wovon das eine als Wohnung der Pagen, das andere als Wachthaus gebraucht wurde, durch Entfernung mancher aus unverständigen Aenderungen entstandenen Unregelmäßigkeiten, würde dieser herrliche Pallast außerordentlich gewinnen. Er verdient mehr als alle die andern zahlreichen Staatsgebäude in diesem gesegneten Ländchen, von denen manche jedes Jahr kostspielige Verschönerungen erhalten, die Vorliebe und Fürsorge des Fürsten, dem durch ein glückliches Loos der bei weitem werthvollste Theil aus der Erbschaft des erloschenen Fürstenstammes zufiel. –




  1. Wir nennen unter den Zeitgenossen nur die Namen: Löffler – Bretschneider – Jacobs – Zach – Salzmann – Lindenau – Schlotheim – Döring – Uckert – Schlichtegroll – Becker – Stieler – Arnoldi – Encke – Weishaupt – Manso – Spohr – Romberg.