Die Jungfrau (Meyer’s Universum)

LVII. Der grosse Tempel bei Tritschencore in Indien Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LVIII. Die Jungfrau
LIX. Gotha
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DIE JUNGFRAU
von Grindelwald aus gesehen.

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LVIII. Die Jungfrau.




Unter dem Namen der lepontinischen Alpen bedeckt ein großes Gebirge die westliche Schweiz, welches sich vom Monte Rosa, auf beiden Seiten der Rhone, durch das Walliserthal über den Sankt Gotthard bis zum Bernardino in Bündten hinstreckt und die Lombardei von Helvetien scheidet. Es ist die besuchteste aller Alpenketten und eben sowohl durch erhabene Naturschönheit, als dadurch merkwürdig, daß sich seinem Schooße mehre der größten Strome des Welttheils (der Inn, der Rhein, die Rhone) entwinden, welche verschiedenen Meeren zuströmen. Nahe bei ihren Quellen thürmt sich dieses Gebirge zu einer den Raum von 12 Quadratmeilen bedeckenden, ewigen Eis- und Schneewüste auf, aus denen die größten und höchsten Massen desselben – das Finsteraarhorn, (13,234 Fuß hoch), die Furka, (13,171 Fuß), das Schreckhorn, (12,562 Fuß), und die Jungfrau, (12,875 Fuß hoch), hervorragen. Das Innere dieser grausenhaften Wüste, wo nie ein Hauch des Lebens weht, hat noch kein menschlicher Fuß betreten. Auch die Jungfrau, von den schauerlichsten Gletschern umgürtet und mit an vielen Stellen mehre tausend Fuß hohen Felsenwänden umgeben, die lothrecht aus dem Thale emporsteigen, ist noch unerstiegen. –

Am herrlichsten zeigt sich dieser König der Berge von der Nordwand des Grindelwaldthals. Hier, von einer grasreichen, mit Sennen und weidenden Kühen bedeckten, Höhe, öffnet sich ein Gebirgspanorama von der größten Pracht. Die Jungfrau ist die Hauptfigur in demselben, und man überschaut sie von ihrem Fuße an bis zu ihrem breiten, über Alles erhabenen, krystallenen Scheitel mit den strahlenden Spitzen und Hörnern, Zacken und Mauern und allen Wundern der glänzendsten Eisformation.

Das Thal des Grindelwaldes selbst, welches in unbeschreiblicher Majestät die höchsten Berge Europa’s umgeben, von welchen sich schimmernd Gletscher bis in die grünen Matten herabsenken, ist ein kleines Paradies in einer großen Wüste. – Seine von der tosenden Lutschina durchströmten, immergrünen Matten sind mit freundlichen Wohnungen bedeckt, die Heerden geben die fetteste Milch, den herrlichsten Käse, und Weizen und viele Arten von Obst gedeihen in seltener Ueppigkeit. – Oft betten die köstlichsten Matten sich dicht an die Grenze des ewigen Schnee’s, wilde Erdbeere reifen, und Alpenröschen entfalten ihre Knospen am Rande der Gletscher. – Einen Begriff von dem Grasreichthum dieses wunderbaren Thals, kann man sich aus dem Umstand machen, daß seine [28] Bewohner jährlich über 100,000 Pfund Käse verfahren. Wohlstand und Reichthum würden allgemein unter ihnen seyn, ohne die sich jährlich wiederholenden Verwüstungen, welchen sie durch Lavinen, Schneestürme, Bergstürze und durch die oft in schönen Cascaden daß Thal überströmenden Schneewasser ausgesetzt sind. –

Der Gletscher, der sich links auf unserm Bilde von einer hohen Felswand in das Thal herabsenkt, wird von Reisenden zuweilen, obschon nicht ohne Gefahr, erstiegen, um eines der merkwürdigsten Naturschauspiele zu genießen. Er führt nämlich auf das sogenannte Eismeer, dorthin, wo die weißen Firnen über die schwarze Wand der Jungfrau herüber blinken. Seinen Namen hat es deshalb, weil seine Oberfläche erstarrten Meereswellen ähnlich sieht. Alles erinnert in dieser Oede an Tod und Vernichtung; und doch herrscht auch hier noch die ewige Kraft, das ewige Wirken der Natur! Das hörbare Sickern des Wassers, das Einstürzen der Eisoberfläche, das Rollen der stürzenden Eisblöcke, das sturmähnliche Brausen im Innern dieser in fortwährendem Bilden und Zersetzen begriffenen Massen, die Schwingungen und Erschütterungen des Bodens, endlich das bald dumpf rollende, bald gräßlich krachende Donnern der platzend spaltenden, Eisfelder selbst – Alles zeigt eine innere Entwickelung und ein inneres Leben, ein geheimnißvolles, stetes Zeugen und Zerstören, das die Seele mit Bewunderung und mit Ehrfurcht vor dem Schöpfer erfüllt.

Eine höchst merkwürdige und, ihren Ursachen nach, noch unerforschte, historische, aber gewisse Thatsache ist es, daß der große Raum, welcher vom Schreckhorn, Wetterhorn, Finsteraarhorn, Grimsel und der Jungfrau eingeschlossen und jetzt ganz mit Gletschern, die sich über einander thürmen, angefüllt ist, einst bewohnt war. Vor vielen Jahrhunderten befanden sich in dieser unzugänglichen Wüste die herrlichsten Alpenthäler, durch die eine lebhafte Saumroßstraße nach dem Wallis ging. Noch zeigt man im Grindelwald die Glocke einer Kapelle, die auf einer Stelle jener Wüste gestanden, auf der jetzt ein über 1200 Fuß hoher Eisberg sich lagert, und noch vor drei Jahrhunderten sah man aus einer Gletscherwand Gemäuer eines Kirchthurmes hervorgucken, – schauerliches Zeichen des untergegangenen blühenden Lebens.