Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Der Psychometer

Die Wuth über den verlornen Groschen Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Der Psychometer
Charakteristik der Tonarten


Der Psychometer.


Den Wenigsten der Leser dürfe der Portius’sche Psychometer[1] etwas unbekanntes sein, obwohl ein Räthsel.[H 2] Man soll nur in ihm keinen elenden Temperamentfisch suchen, der sich sehr zusammenkrümmte bei Sanguinischen, sondern, wie der Erfinder will, eine ordentlich aus wissenschaftlichem Weg gesundene Maschine, welche Naturell, Charakter des Experimentirten ohne tausend Worte und in den feinsten Schattirungen anzeigt, d. h. eine, die, nähme solche die Welt als stimmfähig an, eben so bald von der Menschheit zertrümmert würde, wie sie selbst in mancher Beziehung zertrümmerte. Denn der Mensch will gar nicht wissen, was alles Herrliches an und in ihm ist.

Erstaunt, verdutzt ging ich vom Seelenmesser fort, die Treppe herunter, manches erwägend. Er hat das Gute, daß man einmal eine Stunde über sich nachdenkt. Unter den vielen traurigen Wahrheiten, die mir gesagt wurden, war ich aus einige offenbare Schmeicheleien gestoßen. Man ist geneigt, sich für den zu halten, für den man gehalten wird. Nicht ungern gesteh’ ich, daß mich die Maschine erfinderisch genannt. Die Musik lag zu nahe, als daß ich nicht an etwas denken sollen, was ähnlich mit Erfolg auf diese anzuwenden wäre. Mein ganzes Blut schoß auf bei dem Gedanken.

Zuerst dachte ich an die Verleger. Kaum find’ ich Worte, sie auf die Größe der Realisirung einer solchen Erfindung aufmerksam zu machen. Stürzte z. B. ein jugendlicher Componist zur Thür herein, so würde der Händler das Manuscript ruhig in den Compositionsseelenmesser legen und, auf die unverrückt bleibende Magnetzunge fußend, dem Phantasten das „Nichtreflectirenkönnen“ bemerken, ohne daß es im geringsten beleidigte. – Dann dachte ich an Vieles und an die Welt überhaupt. Ganze Zukunftsfrühlinge zogen an mir vorüber, denen im Uranus ähnlich, auf welchem einer 21 Jahre, 134 Tage und 12 Stunden dauert. Klar ward mir’s, daß dann kein Mozartgenie in einer Kaufmannswiege verloren gehen, daß dann sämmtliche musikalische Cagliostros[H 3] ohne weiteres aus der Welt gejagt würden – auf Apollotempeln stünden Statuen der Themis ohne Wage und Schwert, an Themisaltären opferten unverhüllte Aphroditen[H 4] – wahrlich! Künstler und Kritiker trügen endlich den Regenbogen des ewigen Friedens, unter dem die Kunst hinschiffte, als glücklichste.

Lange experimentirt’ ich, nahm an, verwarf. Glückliche Versuche drängten wieder. Wie Nicolaus Marggraf,[2] als er den Demanten unter den Kohlen funkeln sah, rief ich oft in mir: „sollte wohl Gott so gütig sein gegen mich Sünder und Hund“ – um es kurz zu machen, der Demant lag da und blitzte stark. –

Wie leicht es unter solchen Umständen ist, in Zeitungen zu schreiben, sieht Jeder. Die Welt liebt Autoritäten (zum Schaden beider), aber auch Wahrheit (zum Besten aller). Nun könnte es dieser einmal einfallen, jenen auf den Zahn zu fühlen und dann würden leicht wunderbare Dinge zur Sprache kommen. –

Vieles fragt man bei Werken, besonders viererlei, – ob sie von Talent, ob sie von Schule, ob sie vom Selbsturtheil des Verfassers zeugen, endlich zu welcher Partei letzterer zu rechnen. –

Natürlich stellt der Psychometer Fragen wie folgende:

I. Zeigt Componist hervorstechendes Talent? –
II. Hat er seine Schule gemacht?
III. Hätte er mit seinem Werk zurückhalten sollen?
IV. Neigt sich selbiger zu den
1) Classikern,
2) Juste-Milieuisten,
3) Romantikern?

Die Antworten heißen nun:

a) nein (absolut negativ),
b) ich weiß nicht (relativ negativ),
c) ich glaube (relativ affirmativ),
d) gewiß (absolut affirmativ).

Ich schmeichle mir klar zu sein. Mag nun Jeder die Leistungen am Compositionen-Seelenmesser heiter und gründlich prüfen:

Beim ersten der unten angeführten Werke[H 6] antwortete auf I=d, auf II=d, auf III=a, IV schwankt zwischen 1 und 3. – Wie freudig fand ich mein eignes Urtheil auch in den folgenden Werkeigenschaften bestätigt, von denen ich einzelne nenne, als: clavierschön, sauber gearbeitet, verständig, gestalt- und gehaltvoll, etwas spohrisch,[H 7] zurückhaltend, geistreich, edel, der wärmsten Empfehlung werth. Zu „zurückhaltend“ erlaube ich mir den Zusatz, daß der Psychometer vielleicht die Sordinen[H 8] meint, die der Componist seinen Melodieen aussetzt. Es fehlt keineswegs die Lust der Jugend, ihr lautes Hinausrufen, aber es scheint, als fürchte er, die Welt möge seine Stimme noch nicht als voll anerkennen, – daher man in einzelnen Stellen, die sich in entfernte Tonarten wagen, eine gewisse Angst spürt, ob er sich auch zur rechten Zeit herauswickeln werde. Dies soll weniger einen Talentfehler als einen Charakterzug bezeichnen.

Bei den zweiten[H 9] berichte ich kurz so. Mit I correspondirt b, mit II=d, mit III=b. Auf IV schweigt alles. Die Aussagen des Psychometer ließen sich in folgenden zusammenfassen. Es giebt Kopfwalzer, Fußwalzer, Herzwalzer. Die ersten schreibt man gähnend, im Schlafrock, wenn unten die Wagen, ohne einen einzuheben, zum Ball vorbeifliegen; sie gehen etwa[H 10] aus C- und F dur. Die zweiten sind die Strauß’schen,[H 11] an denen alles wogt und springt – Locke, Auge, Lippe, Arm, Fuß. Der Zuschauer wird unter die Tänzer hineingerissen, die Musiker sind gar nicht verdrießlich, sondern blasen lustig drein,[H 12] die Tänze scheinen selbst mit zu tanzen; ihre Tonarten sind D dur, A dur. Die letzte Classe machen die Des- und As dur-Schwärmer aus, deren Vater der Sehnsuchtswalzer[H 13] zu sein scheint, die Abendblumen und Dämmerungsgestalten, die Erinnerungen an die verflogene Jugend und an tausend Liebes. Die vorliegenden gehören mehr zur ersten Gattung als zur letzten, zur zweiten gar nicht.

Nun lud ich die 8 Romanzen und Adagios[H 14] in die Maschine. Mit guter Absicht und um sie im Springurtheil, was jetzt beliebt ist, zu versuchen, steckt’ ich ein Orgelstück als Matrone zwischen Polichinells.[H 15] Die herrlichsten Resultate blieben nicht aus.

Auf I kam a, auf II=c, auf III=c, auf IV entschieden 1. Der Psychometer fuhr etwas dunkel fort: – man kann Gutes im Stillen wirken, aber man soll nicht alles im Ganzen bedeutend nehmen; dadurch wird dem Bessern Platz genommen – Mittelstimmen müssen da sein: offenbar geht aber die eigentliche Melodie verloren, schreien jene so stark (es ist das wohl tiefer zu beziehen, als auf die Mittelstimmen im Werk). – Dennoch schadet guter Wille, sollte er auch nicht durch Talentkraft unterstützt sein, der Kunst seltener als talentvolle Anmaßung. Der Biene vergiebt man den Stachel des Honigrüssels halber, der Wespe jenen nicht, weil ihr dieser fehlt. Nun fliegt noch eine Mittelclasse herum, ohne viel zu arbeiten, viel zu schaden. Man soll diese, schwirren sie uns nicht gerade unbequem vorm Auge, nicht gleich niederschlagen.

Als ich die Allegresse[H 16] einhob, bewegte sich alles rührig – c nach I, d nach II, a nach III, IV nach 2. Nun hörte ich dieses: „die Uebersetzung der deutschen Fröhlichkeit in gladness, giocondità, l’allegresse wäre kaum nöthig gewesen. Hätte man gespielt, so müßte man sagen: das ist ein hurtig fröhlich Ding. Flattere nur zu du Schmetterlingmädchen, du würdest die Farbe verlieren, griffe man dich hart an.“

Jetzt war die Maschine etwas ermattet. Als ich aber die Tänze[H 17] einlegte, gerieth sie in sichtbare Unruhe. Es respondirte auf I=c, auf II=a, auf III=d. Auf IV sprach 3 stark an. Folgendes erfuhr ich: – „er empfinde viel, aber meist falsch – trotz einzelner Mondblitze tappe er im Dunkeln, erwische wohl hier und da eine Blume, aber auch Stroh – vieles würde man für offenbaren Spaß halten müssen, ergebe sich nicht aus dem Ganzen, daß es ernstlich gemeint war – er ziele gut, mache aber (wie ungeübte Schützen) beim Losdrücken die Augen zu – da er noch zu lernen habe, so möge ihm das Geständniß, daß Psychometer diese querspringenden poetischen Kobolde oft einem Dutzend gelehrten Mattaugen, Spitznasen vorziehe, ein aufmunterndes sein.“

Und so hätte ich nichts zu thun, als die Titel abzuschreiben, so wie meinen eignen.[H 18]

C. Krägen, 3 Polonoises p. l. Pft. Oe. 9.
Hartknoch, 6 gr. Valses p. l. Pft. Oe. 9.
C. Geisler, 8 Romanzen und Adagio’s für Physharmonica oder Orgel. Op. 11.
J. Otto, l’Allegresse. Rondoletto p. l. Pft. Oe. 19.
E. Güntz, Tänze für das Pft.
Florestan.




Anmerkungen

  1. Er war eine noch nicht erklärte Erfindung eines M. Portius, die damals in Leipzig viel von sich sprechen machte.[H 1]
  2. „Komet“ von Jean Paul.[H 5]

Anmerkungen (H)

  1. [WS] Magister Portius, *3. Mai 1797 in Weißbach bei Zschopau, †4. April 1862 in Leipzig; ab 1817 Lehrer an der Ratsfreischule in Leipzig.
  2. [GJ] Schumann schrieb seiner Mutter über den Psychometer, den er am 8. April 1833 besucht: „Das Ganze ist eine bis jetzt unerklärbare, jedenfalls auf einer magnetischen Wechselwirkung der Metalle mit den physischen Kräften beruhende Erfindung des hiesigen Magisters Portius, aber so interessant in Bestimmtheit und Feinheit der Charakterunterscheidungen, daß ich eher verdutzt als befriedigt fortging. Nachdem man mit der Maschine in magnetischen Rapport gebracht worden ist, erhält man den Eisenstab, den der Magnet anzieht, wenn man diese oder jene Eigenschaft, Temperament, Charakterzug u. s. w. besitzt, aber abstößt im entgegengesetzten Falle. Wirklich war ich’s leibhaft, wenn ich auch mancher der angezogenen guten Eigenschaften nicht ganz traue.“ — Ein Artikel im Leipziger Tageblatt (30. Mai 1833) versucht eine Erklärung des Psychometers, der auf den Magnetismus und die Wirkungen der Elektricität gegründet sei. „Alle Eigenschaften“ (schreibt der Berichterstatter) „die wir zu haben oder nicht zu haben glaubten, ja selbst solche, durch die wir uns von Anderen unterschieden, wurden uns von der Maschine richtig angedeutet; als Beweis aber, daß sie keineswegs schmeichle, diente uns der Umstand, daß sie uns eine kleine Untugend verrieth, die wir vorher noch nicht bemerkt hatten und doch bei genauerem Nachdenken fanden.“ Eiteln und Eingebildeten wird widerrathen, die Maschine zu probiren, damit sie nicht enttäuscht würden. Der Erfinder habe mit vielfachen Vorurtheilen zu kämpfen, sein Psychometer aber verdiene die volle Aufmerksamkeit jedes denkenden Mannes und könne die Veranlassung werden, „über höchst bedeutsame, vielleicht noch in tiefes Dunkel gehüllte, geheime Naturkräfte nähere Aufschlüsse zu erlangen.“ – Im folgenden Jahre wiederholte der Erfinder seine „physikalisch-psychologischen Experimente“, über die das Tageblatt (12. April 1834) abermals berichtete. Schumann hatte ein ungewöhnliches Interesse für den Gegenstand. Ich halte es sogar für nicht unmöglich, daß die beiden Tageblatt-Artikel von ihm sind. – Es überrascht nicht, daß Schumann 1853 auch zu den eifrigsten Anhängern des Tischrückens und Tischklopfens gehörte. I. 322–23.
  3. [WS] Alessandro Cagliostro (1743–1795), italienischer Alchemist und Hochstapler.
  4. [WS] Themis, griechische Göttin der Gerechtigkeit, der Ordnung und der Philosophie. Aphroditen: das Gefolge der Aphrodite, die Chariten (Grazien), wie auch Eros und Peitho.
  5. [WS] Jean Paul, Der Komet oder Nikolaus MarggrafEine komische Geschichte, Roman (1820–22), handelt u. a. von den Experimenten des Fürstapotheker und Alchemisten Marggraf. Das Zitat ist aus Band 2, S. 143 Google.
  6. [WS] Karl Krägen (1797–1879), deutscher Pianist und Komponist. Briefwechsel mit Schumann 1837–1843; Davidsbündler. 3 Polonaises op. 9 für Klavier zu vier Händen, Leipzig: Whistling 1829.
  7. [WS] Louis Spohr.
  8. [WS] Sordino, Dämpfer für Musikinstrumente.
  9. [WS] Karl (Charles) Eduard Hartknoch (* um 1795 in Riga, † 1834 in Moskau), deutscher Komponist und Pianist. Six grandes Valses op. 9 à l’occasion du Couronnement de S. M. Nicolaus I. für Klavier, Leipzig: Kistner 1826.
  10. [WS] Vorlage: etwas.
  11. [WS] Johann Strauss (Vater) (1804–1849), österreichischer Komponist und Dirigent; nicht zu verwechseln mit seinem gleichnamigen Sohn (1825–1899), dem sogenannten „Walzerkönig“.
  12. [WS] Vorlage: drein ein,
  13. [WS] Der zweite Walzer von Franz Schuberts [36] Original Tänze für das Piano-Forte op. 9 D365 (1818) As-Dur trägt in der Erstausgabe 1821 den Titel Trauer Walzer, dann, 1826, als Komposition Beethovens veröffentlicht, den Beinamen Sehnsuchtswalzer. Schumann schrieb in den Jahren 1831–1834 an Variationen über den „Sehnsuchtswalzer“ von Franz Schubert – Scenes musicales sur un theme connu, die aber Fragment blieben.
  14. [WS] Karl Geissler (auch Geißler oder Geisler), * 28. April 1802 in Mulda/Sachsen, † 13. April 1869 in Bad Elster. Organist und Musikdirektor in Zschopau; nicht zu verwechseln mit Karl Friedrich August Geissler (1804–1869), Organist in Leipzig. 8 Romanzen und Adagio’s op. 11 für Physharmonika (oder Orgel), Leipzig: Kistner 1834.
  15. [WS] Matrone, eine angesehene verheiratete Frau von reifem Alter. Polichinello oder Pulcinella, Figur aus der Commedia dell’arte, ein listiger und zugleich tölpelhafter, gefräßiger Diener bäuerlicher Herkunft.
  16. [WS] Ernst Julius Otto (1804–1877), deutscher Komponist, Chorleiter und Kreuzkantor. Die Fröhlichkeit (L’Allegresse) op. 19 D-Dur, Rondoletto für Klavier zu vier Händen. Dresden: Friese 1832.
  17. [WS] Emil Güntz (* 1807 in Dresden, † 1877) begann als Arzt, wurde dann Musiklehrer und Pensionatsvorsteher in Jersey. Tänze für das Pianoforte, gemeint sind evtl. Dresdner Favorit-Tänze 5tes Heft, Dresden: Friese 1833.
  18. [GJ] „obwohl ohne Orden“ setzte Florestan noch hinzu.
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