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Artikel „Strauß, Johann“ von Eusebius Mandyczewski in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 610–614, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Strau%C3%9F,_Johann_(Sohn)&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 07:04 Uhr UTC)
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Strauß: Johann St., der genialste Tanzcomponist des 19. Jahrhunderts, geboren zu Wien am 25. October 1825, † ebenda am 3. Juni 1899, Erbe und Mehrer des geistigen Vermögens seines gleichnamigen Vaters und des Weltrufes als „Walzerkönig“. Obwohl sich sein Talent frühzeitig regte und in ganzer Stärke unverkennbar zum Durchbruch drängte, fand er mit seinen musikalischen Bestrebungen zunächst nur den Widerspruch des Vaters, der in der Erinnerung an die Mühsale seiner eigenen Jugend zähe an dem Gedanken festhielt, den Sohn einer wissenschaftlichen, kaufmännischen oder Beamtenlaufbahn zuzuführen. Nur unter diesem Zwang war der Sohn vier Jahre auf dem Gymnasium, zwei an der Technik. Inzwischen hatten sich die ehelichen Bande zwischen den Eltern so gelockert, daß der Vater allen Einfluß auf die Führung des Sohnes verlor. An seiner Mutter (Anna, geb. Streim) fand der aufstrebende Jüngling eine liebevolle Förderin und Helferin. Im Clavier- und Violinspiel suchte er anfangs sich selbst fortzubringen. Es mißglückte nicht. Dann erhielt er Violinunterricht von Amon und Kohlmann, Compositionsunterricht von Hofmann. Da das Compositionstalent immer offenbarer wurde, kam er zu Josef Drechsler, einem gediegenen Kirchencomponisten und Regens chori ernster Schule, in die Lehre. Mit einem wohlgesetzten lateinischen Graduale erwarb der neunzehnjährige St. die Bewilligung der Behörde, ein selbständiges Orchester öffentlich zu leiten. Am 15. October 1844 trat er in Dommayer’s Casino in Hietzing an der Spitze seiner kleinen aber wohlgeschulten Capelle zum ersten Mal als Componist und Dirigent von Tanzmusik vor das Wiener Publicum und gewann im Sturme die Liebe seiner Vaterstadt. Aber nur langsam die seines Vaters. „Er ist ein geborener Walzer“, heißt’s in einem begeisterten Bericht aus jener Zeit. Aber der Vater sah zunächst nur einen gefährlichen Nebenbuhler im Sohne. Erst als er merkte, daß ihm der Sohn den Erfolg nicht streitig machte, sondern nur erhöhte, gab er zur Versöhnung die Hand. Bis zum Tode des Vaters (1849) hatte Wien zwei Strauß’sche Musikcapellen und konnte im Walzer schwelgen. Im Revolutionsjahr 1848 sah man oft den Vater als Capellmeister des ersten, den Sohn des zweiten Bürgerregiments neben einander wirken, diesen später auch bei der Nationalgarde. Sie zählten zu den volksthümlichsten Erscheinungen Wiens, denn sie hatten mit ihrer Kunst die Macht über das Gemüth der aufgeregten Zeitgenossen.

So stand St. seit seiner Jugend im innigsten Zusammenhang mit dem Volke, dem er angehörte, und verlor diesen nie sein Leben lang. Seine Melodien erfreuten, erhoben, entzückten Jung und Alt, Arm und Reich gleicher Weise, sie waren der Ausdruck der Volksseele in ihrer Zeit. An Leichtigkeit der Erfindung, rhythmischem Schwung, Adel der melodischen Linien, Glanz der Instrumentirung, Fülle und Schönheit der Harmonie übertrifft St. selbst seinen vielbewunderten, genialen Vater. Schon in jungen Jahren zeigt er vollkommene Beherrschung seiner Kunst; und im Laufe seines ganzen Lebens das Streben nach Vertiefung seiner doch so eng begrenzten Kunstgattung. So [611] erwarb er sich auch die Anerkennung und Bewunderung der größten Meister der ernsten Kunst. Wie sein Vater von Mendelssohn, Schumann, Meyerbeer, Paganini, wurde er von Wagner, Liszt, Bülow, Brahms werth gehalten und hoch geschätzt. Wie jeden großen Meister zeichnete auch ihn ein unbezwinglicher Schaffensdrang und unablässiger Fleiß aus. Er hat in seinem langen Leben gegen fünfhundert Compositionen veröffentlicht, die in Millionen von Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet worden sind. Sie sind so charakteristische Merkmale der Cultur ihrer Zeit, daß man sich kaum einen von Europäern berührten Erdenwinkel denken kann, in den nicht Strauß’sche Weisen durch Musiker, Dilettanten oder mechanische Musikwerke gedrungen wären. So groß ihre Zahl ist, sie haben überall die Fähigkeit erwiesen, die Menschen zu erheitern, ihre Gemüther zu erhellen, die Herzen zu erquicken, des Lebens Mühen erträglicher oder ganz vergessen zu machen. St. hatte die göttliche Gabe, solche Weisen ununterbrochen zu erfinden; er construirte sie nicht, sie fielen ihm ein. Daher auch seine Gewohnheit, sich die heiteren, kurzen Einfälle, wie sie ihm kamen, wahllos auf kleinen Papierschnitzeln aufzuschreiben, und dann aus dem stets wachsenden Vorrath das Geeignete herauszunehmen und in künstlerischer Gegensätzlichkeit aneinander zu reihen. Auch in seinen größeren, für die Bühne bestimmten Werken ist der unwiderstehliche rhythmische Schwung, der sinnliche Reiz seiner Melodien mehr für deren Welterfolg entscheidend gewesen, als die ab und zu vorkommende, bis zur Meisterschaft gediehene Durchbildung und Verarbeitung des Details.

Die große Sorgfalt und der auserlesene Geschmack, die er beim praktischen Einstudiren und Aufführen seiner Werke zeigte, brachten seine Capelle frühzeitig zu einem hohen Ruf. Jahraus jahrein wußte er ihn in Wien von neuem zu bewähren und befestigte ihn ganz besonders auf seinen Reisen. Schon im J. 1848 wanderte er mit seiner Capelle durch Ungarn, Serbien und Rumänien; 1850 hörte man sie in Hamburg, 1851 in Prag, Dresden, Leipzig und Warschau. Es war ganz selbstverständlich, daß er 1853 zum kaiserlichen Hofballmusikdirector ernannt wurde. In den Jahren 1854–1870 erschien er alljährlich in Petersburg, wo seine Beliebtheit bei Hofe wie im Volke jener in seiner Heimath nichts nachgab und seine Concerte sich so einträglich gestalteten, daß er durch sie den Grundstock legte zu seinem späteren großen Vermögen. In dieser Zeit erzog er sich seinen jüngeren Bruder Josef zum Ersatzmann; als dieser zu kränkeln anfing, trat Bruder Eduard an seine Stelle. In den sechziger Jahren waren die Anforderungen an das Dirigenten- und Componisten-Kleeblatt aufs höchste gestiegen, und nur durch gegenseitiges Ablösen konnten sie allen Wünschen ihrer Zeitgenossen gerecht werden. 1861 sah man in Wien im Sophiensaal, 1867 in Budapest die drei Brüder gemeinsam im selben Concert auftreten und jubelte ihnen mit Begeisterung zu. 1867 dirigirte Johann seine Capelle in Wien zum letzten Mal und überließ sie von da an seinen Brüdern; Josef starb bald in jungen Jahren, Eduard leitete die Capelle ruhmvoll bis zu Ende des Jahrhunderts. Im selben Jahre 1867 dirigirte Johann seine Capelle in der Pariser Weltausstellung und in London, zwei Jahre später beim ungarischen Nationalfest in Budapest, 1872 in Boston bei der Hundertjahrfeier der Selbständigkeitserklärung Nordamerikas, wo er Monstre-Concerte mit 20 Subdirigenten leitete und zugleich mit Verdi und Bülow gefeiert wurde; 1874 erschien er in Italien und concertirte in Venedig, Verona, Livorno, Mailand, Turin, Genua und Neapel; 1877 leitete er in Paris mit ungeheurem Erfolg die Musik der Opernbälle und ein von der Regierung gegebenes Wohlthätigkeitsconcert, das einen so großartigen Reingewinn abwarf, daß ihm zu Ehren ein Opernfest gegeben [612] wurde und Marschall Mac Mahon ihn mit dem Ritterkreuz der Ehrenlegion auszeichnete. Nach langer Pause erschien er 1886 in Petersburg wieder und leitete unter dem größten Jubel zehn Concerte; dann in Moskau, Berlin und Hamburg. Zwei Jahre später dirigirte er wieder mehrere Concerte in Berlin. Von allen diesen Reisen kehrte er stets gern nach Wien zurück, wo seine Popularität an Herzlichkeit und Innigkeit nicht ihresgleichen hatte, besonders seit dem Erscheinen seines Walzers „An der schönen blauen Donau“ (1867) und seit er anfing, Operetten zu schreiben.

Der erste Versuch auf diesem Gebiete waren „Die lustigen Weiber von Wien“ (Text von Braun), componirt 1870; es blieb beim Versuch, das Stück wurde nicht aufgeführt. Aber gleich das nächste, 1871 aufgeführte Werk „König Indigo“ rief helle Begeisterung hervor; der Text von Max Steiner wurde nicht gerühmt, aber die neuen Walzer aus „Indigo“ schienen alle vorangegangenen zu übertreffen. Und in Neapel, Paris, London machte man mit „Indigo“ nicht andere Erfahrungen, als auf den deutschen Bühnen. Nun war es an St., sich auf diesem Gebiete stets von neuem zu übertreffen, wollte er der Unübertreffliche bleiben. 1873 kam „Der Carneval in Rom“ (Text von Braun), ein Werk, das, mit dem vorangegangenen gemessen, weniger auf die Wirkung des Tanzes, als des Gesanges ausging, und so Gelegenheit bot zur Vertiefung des musikalischen Ausdrucks. Es ist eins der edelsten und feinsten Werke von St. und erhebt sich theilweise bis zur lyrischen Oper. So konnte es neben „Indigo“ bestehen und übertraf diesen noch an Verbreitung. Kurz nach der Wiener Aufführung war es auf 63 Bühnen im Repertoire und erhielt sich lange Zeit. Schon nach einem Jahre erschien aber auf den Brettern des Theaters an der Wien „Die Fledermaus“, das in jeder Richtung vollendetste, reifste Werk von St., das classische Meisterstück seiner Gattung. Ueber den Werth des Textes (von Rich. Genée) konnte man streiten; übermüthig heiter und geschickt aufgebaut ist er gewiß. Ueber die Musik war und ist die ganze Welt einer Meinung; ihr hinreißender Schwung, ihr bestrickender Melodienzauber zeigen die Genialität ihres Meisters im hellsten Licht und haben noch nichts verloren an Frische und Unmittelbarkeit. Kein Wunder, daß es binnen Jahresfrist in allen fünf Welttheilen unter dem größten Jubel von Millionen gegeben wurde und so ein bleibender Gewinn für Musiklitteratur und Theater geworden ist. St. konnte es nicht mehr übertreffen; aber es hatte bewirkt, daß man überall gierig und dankbar jedes neue Werk von ihm aufnahm, natürlich ganz besonders in Wien, wo jede Erstaufführung einer Strauß’schen Operette zu einem künstlerischen und geselligen Fest erster Ordnung geworden war. 1875 erschien „Cagliostro in Wien“ (Text von F. Zell), 1877 „Prinz Methusalem“ (Text von C. Treumann), 1878 „Blindekuh“ (Text von Kneisel), 1880 „Das Spitzentuch der Königin“ (Text von Bohrmann), das die vorangegangenen Drei wieder in Allem übertrifft und sich auch durch schönen Aufbau größerer Musikformen auszeichnet. 1881 kam „Der lustige Krieg“ (Text von Zell und Genée), eines der besten Werke von St., schon im Text fast alle anderen übertreffend, in der Musik neben bestrickenden heiteren auch tieferen innigen Herzenstönen Raum gebend: nach der „Fledermaus“ der erste ähnliche Welterfolg. Die nächste Operette „Eine Nacht in Venedig“ wurde 1883 zuerst in Berlin, dann in Wien aufgeführt, dort – des Textes wegen – ohne, hier – der Musik wegen – mit dem größten Erfolg; und dieser blieb dem Werke lange treu, besonders in den nordamerikanischen Städten.

1885 erschien „Der Zigeunerbaron“ (Text, nach Jokai, von Schnitzer), in der Kunst wie im Leben ein neuer Triumph von St., ein Werk, bei dem [613] die großen Vorzüge des Textbuchs, Volksthümlichkeit und reife, fertige Charaktere, in der Musik die überraschendsten Fortschritte des Componisten gezeitigt haben in Hinsicht auf dramatische Gestaltung und den Aufbau großer Formen. Ihm folgte zwar zunächst 1887 ein schwächeres Werk „Simplicius“ (Text von Léon) ohne Erfolg, aber der Weg, der von der „Fledermaus“ über den „Lustigen Krieg“ und den „Zigeunerbaron“ ging, führte St. 1892 doch zu einer richtigen komischen Oper, den „Ritter Pázman“ (Text von Dóczi). Dieses feine musikalische Lustspiel wendet sich im Gegensatz zu den für alle Welt geschriebenen Operetten an den engeren Kreis der musikalisch Gebildeten; es zeigt den künstlerischen Ehrgeiz, das höhere Streben seines Schöpfers mehr, als dessen Genie und bleibt daher in der allgemeinen Wirkung zurück. In Wien, Prag, München und Berlin hat man sich kurze Zeit dafür interessirt, aber nicht davon geschwärmt. St. selbst sah die Grenze seiner Begabung sehr wohl ein und kehrte froh in sein eigentliches Reich zurück. 1893 brachte er den Wienern wieder eine Operette „Fürstin Ninetta“ (Text von Braun und Wittmann) und wurde mit Jubel aufgenommen; dieser Erfolg blieb ihm treu, als er 1894 mit einem ernsteren Werk kam, „Jabuka“ (Text von Kalbeck und Davis), das sich mehr der feinen Spieloper näherte, und 1895 dem „Waldmeister“ (Text von Davis), worin wieder der leichtere Ton überwog. Aber alle diese Erfolge blieben hinter denen der früheren Jahre zurück, und die letzte Operette von St. „Die Göttin der Vernunft“ (Text von Willner und Buchbinder) 1897 konnte kaum noch von Erfolg sagen. Frisch wendete sich nun der 74jährige Meister einer neuen Kunstgattung zu, dem Ballet. „Aschenbrödel“ sollte es sein; er arbeitete 1899 mit Eifer und Freude daran. Da entfiel seiner glückspendenden Hand die Feder für immer.

Der Strauß’schen Naturanlage entsprechend überwiegt in der Musik seiner Operetten die Tanzform. Sie bieten eine glänzende Bestätigung der alten Kunstwahrheit, daß der gesungene Tanz, als der ursprünglichere, an Mitteln reichere, in der Wirkung auf das Gemüth tiefer geht, als der, der nur gespielt wird. Aber auch außerhalb der Operetten verwendet St. in vielen seiner Tänze, besonders Walzern, die Singstimmen, bald einzeln, bald im Chor, und das hat ihre Volksthümlichkeit nur gesteigert. Freilich blieben noch immer die meisten rein instrumental. Er schrieb nicht weniger als 160 Walzer, unter denen die „Ballgeschichten“, „Morgenblätter“, „An der schönen blauen Donau“, „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Wein, Weib und Gesang“, „Tausend und eine Nacht“, „Wiener Blut“, „Bei uns z’Haus“, „Du und Du“, „O schöner Mai“, „Rosen aus dem Süden“, „Myrthenblüthen“ und „Frühlingsstimmen“ die beliebtesten gewesen sein dürften. Den Walzern reihen sich 74 Quadrilles an, 178 Polkas verschiedener Art (Polka française, Polka Mazurka, Polka schnell), 43 Märsche, einzelne Czardas, Romanzen, Phantasien, Potpourris, Polonaisen u. dgl. Sie sind alle ursprünglich für Orchester gesetzt, haben aber die meiste Verbreitung gefunden in den bequemen Bearbeitungen für Clavier zu zwei Händen. In der Orchesterbehandlung ist St. ein würdiger Sohn seines Vaters. Frei und ungezwungen, durchaus eigenartig, mit hoch entwickeltem Klangsinn und Geschmack bedient er sich dieses Kunstmittels, und zeigt darin eine so verblüffende Meisterschaft, daß vielfach die irrige Meinung aufkam, er hätte seine Werke nicht selbst instrumentirt. Seine handschriftlichen Partituren sprechen für ihn und zeigen seine blühende Phantasie auch in diesem Punkt.

St. war drei Mal verheirathet. 1862–1878 mit Jetty Treffz, nach deren Tode mit Angelica Dittrich, seit 1883 mit Adele Strauß. Die Freude, die er überall verbreitete, wohin seine Töne kamen, lohnten ihm die Zeitgenossen [614] mit einem stets wachsenden, fürstlichen Vermögen. Wenn er, an einzelnen Abschnitten seines Lebens angelangt, persönlich gefeiert wurde, nahmen Fürsten ebenso herzlich daran Theil, wie Arbeiter. So gestaltete sich auch sein Leichenbegängniß in Wien zu einer imposanten Kundgebung des ganzen Volkes. Da er ohne directe Nachkommen schied, widmete er sein Vermögen künstlerischen Zwecken.

Johann Strauß, ein Lebensbild von Ludwig Eisenberg, Leipzig 1894. – Johann Strauß von Rud. Freiherrn Procházka, Berlin 1900.