Friedens- und Kriegsbündnisse. Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Die Idee des ewigen Friedens

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Autor: Philipp Zorn
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Titel: Friedens- und Kriegsbündnisse. Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Die Idee des ewigen Friedens
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Achtzehntes Hauptstück: Die politischen Ziele der Mächte in der Gegenwart, 112. Abschnitt, S. 389−396
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[389]
112. Abschnitt.


Friedens- und Kriegsbündnisse. Die internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Die Idee des ewigen Friedens.
Von
Kronsyndikus Geh. Justizrat Dr. Philipp Zorn, M. d. H. H.,
o. Professor der Rechte an der Universität Bonn.


I. Friedens- und Kriegsbündnisse. Bearbeiten

Literatur: Bearbeiten

Die Werke über Geschichte der neuesten Zeit, besonders
Dietrich Schäfer, Weltgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl., 1910.

Die Annalen der Weltgeschichte berichten von Bündnissen der Völker und Staaten, soweit die uns bekannte Geschichte der Menschheit zurückreicht. Es ist tief in den Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft begründet, dass die Staaten, die die einzelnen Völker für sich geschaffen hatten, mit einander in Verbindung traten, um durch Vereinigung ihrer Kräfte bestimmte Ziele zu erreichen, sei es dass diese Ziele einen dauernden Inhalt hatten, sei es dass sie auf die Erfüllung einer bestimmten einzelnen Aufgabe gerichtet waren. Wie auf der einen Seite der Gegensatz, so lag auf der anderen Seite die Verbindung der Staaten in der Natur der menschlichen Dinge begründet. Dies sind Binsenwahrheiten und so ist die Geschichte der Menschheit zugleich eine Geschichte wie des Gegensatzes so von Bündnissen der Staaten, sei es zu augenblicklichen kriegerischen, sei es zu dauernden friedlichen Zwecken. –

1. Der Beginn des 19. Jahrhunderts hat seine charakteristische Signatur durch den Zusammenschluss der gesamten europäischen Staatenwelt gegen die nach 1807 und 1809 zu fast voller Wirklichkeit gelangte Weltherrschaft Napoleons I. Dieses europäische Bündniss gegen Frankreich erfüllte seinen Zweck durch Vernichtung der Macht Napoleons. Der Versuch, dieses Kriegsbündnis in der Form der Heiligen Allianz zu einem dauernden Friedensbündnis zu machen, so ideal er gedacht sein mochte, war von Anbeginn mit schweren Gebrechen behaftet. In Wirklichkeit diente die heilige Allianz nur reaktionären Zwecken und fand deshalb in allen beteiligten Staaten, insbesondere den deutschen, heftige Gegnerschaft. Dennoch gelang es der überlegenen Staatskunst des österreichischen Staatskanzlers Metternich, dies Bündnis bis zum Jahre 1848 als Grundlage der europäischen Staatenverhältnisse zu erhalten. England allerdings zog sich schon sehr bald von dieser europäischen auf seine eigene Politik zurück und auch Russland ging in den Fragen des Orients seine eigenen Wege, ohne sich im übrigen von der heiligen Allianz und ihrer Gesamtpolitik zu trennen.

2. Nach dem Zusammenbruch dieses Systems durch die Ereignisse von 1848 ergab sich eine neue Gestaltung der europäischen Staatenverhältnisse durch den mehr und mehr sich verschärfenden inneren und äusseren Gegensatz der beiden Westmächte England und Frankreich gegen Russland. Dieser Gegensatz fand schliesslich seinen kriegerischen Austrag im Krimkrieg 1853–1856. Der innere Gegensatz war verursacht durch den Widerspruch der liberalen Westmächte [390] gegen das autokratische Russland; der Krieg, der daraus entsprang, war ein Krieg, den die liberalen Westmächte zur Erhaltung des zurückgebliebensten europäisch-asiatischen Staatsgebildes, der Türkei, gegen Russland führten, das die Befreiungsbewegung der christlichen Nationalitäten in der Türkei begünstigte und damit allerdings auch seine eigenen Machtinteressen und Staatsnotwendigkeiten – freie Schiffahrt vom Schwarzen zum Mittelländischen Meere – vertrat. Die Niederlage Russlands gegenüber dem Kriegsbündnisse von Frankreich, England, Sardinien und der Türkei führte zum Pariser Frieden 1856, der für längere Zeit das Frankreich Napoleons III. zum mächtigsten Staate Europas machte und Russland vollständig niederwarf. Preussen und Österreich nahmen an diesen Vorgängen keinen aktiven Anteil.

3. Eine abermalige Neugestaltung der europäischen Staatenverhältnisse wurde herbeigeführt durch die Einheitskämpfe in Italien und Deutschland. Der Führer Italiens zur Einheit war das norditalische Königreich Sardinien und dessen leitender Staatsmann Cavour. Zuerst stand die italienische Einheitsbewegung unter dem Schutze Frankreichs; die Bewegung musste sich in erster Linie gegen Österreich richten. Der französisch-österreichische Krieg von 1859 vereinigte die Lombardei mit Sardinien. Die Freischaren Garibaldis stürzten sodann die sämtlichen italienischen Einzelstaaten um und bewirkten deren Vereinigung mit Sardinien, das hierdurch schon 1861 zum Königreich Italien geworden war. Allerdings mit Ausnahme von Rom und Venetien; Rom und Umgebung blieb, nunmehr durch französische Truppen gegen Italien geschützt, Kirchenstaat des Papstes und Venetien blieb österreichische Provinz. Das Bündnis zwischen Preussen und Italien brachte dann 1866 Italien, trotz seiner militärischen Niederlagen, die Abtretung von Venetien durch Österreich und der deutsch-französische Krieg 1870 vollendete die Einheit Italiens durch die nach der französischen Katastrophe von Sedan ohne Schwertstreich erfolgte Besitzergreifung von Rom (20. Sept. 1870). Damit war die neue Grossmacht Italien vollendet.

4. Inzwischen hatten die deutschen Staatsverhältnisse infolge der Initiative Bismarcks eine völlige Neugestaltung durch die Befreiung Schleswig-Holsteins von Dänemark und den grossen Entscheidungskampf von 1866 zwischen Preussen und Österreich erfahren. In der Form des Bundestaates wurde der gesamtdeutsche Nationalstaat, der Norddeutsche Bund, hergestellt, dessen Präsidialmacht Preussen war und der mit den süddeutschen Staaten durch feste Schutz- und Trutzbündnisse verbunden war. Österreich war aus den deutschen Staatsverhältnissen völlig ausgeschieden. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 führte sodann zur endgiltigen Herstellung des gesamtdeutschen Nationalstaates in bundesstaatlicher Form, des Deutschen Reiches (seit 1. Januar 1871). Es war der Staatsweisheit Bismarcks und den Waffentaten des preussischen Heeres gelungen, jede Bündnisbildung gegen Deutschland zu verhindern.

5. Inmitten des grossen Völkerringens zwischen Deutschland und Frankreich hatte Russland – mit Zustimmung Deutschlands – die für Russland erniedrigenden Bestimmungen des Pariser Friedens über das Schwarze Meer für nichtig erklärt; Frankreich lag zu Boden und England konnte nur erreichen, dass eine europäische Konferenz im März 1871 die Erklärung Russlands legalisierte. Die Freiheitsbewegung der christlichen Völker auf der Balkan-Halbinsel wurde immer stärker und führte schliesslich zum dritten grossen Krieg des 19. Jahrhunderts zwischen Russland und der Türkei, der im Frieden von San Stefano am 3. März 1878 seinen Abschluss fand. Der Inhalt dieses Friedens war eine ziemlich vollständige Vernichtung des türkischen Staatswesens in Europa. Dies erklärte England für unannehmbar. Unter schweren Mühen gelang es Bismarck, eine Revision des Friedens von San Stefano durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 zu erreichen; das von Russland erkämpfte Hauptresultat, der neue selbständige Staat Bulgarien, blieb in diesem Vertrage gewahrt, immerhin erfuhr der Friede von San Stefano eine sehr wesentliche Einschränkung, so dass der türkische Staat in Europa in erheblichem Umfange erhalten blieb.

6. Die durch die Berliner Konferenz hervorgerufene Verstimmung Russlands war sodann der Ausgangspunkt für eine neue Gestaltung der europäischen Bündnisverhältnisse. Angesichts der veränderten Haltung Russlands schloss das Deutsche Reich ein festes Bündnis [391] mit Österreich-Ungarn; als dann 1881 Frankreich Tunis unter seine Botmässigkeit stellte, schloss sich jenem Bündnis auch Italien an. So entstand der sog. Dreibund, wie er bis zum heutigen Tage besteht; die Bundes-Urkunde wurde nicht veröffentlicht; dass der Kernpunkt des Bundes für jeden der Verbündeten die Waffenhilfe der Bundesgenossen im Falle eines Krieges gegen zwei andere Mächte zugleich bildet, darf als feststehend angesehen werden.

7. Dieser Mächtegruppierung gegenüber wurde andrerseits die Annäherung Russlands an Frankreich eine immer engere und führte gleichfalls zum Abschluss eines festen Bundesverhältnisses, das, als solches zweifellos, doch in seinen Einzelbestimmungen gleichfalls geheim geblieben ist. Man darf kaum bezweifeln, dass im Kriegsfalle seine Folge eine unbedingte gegenseitige russisch-französische Waffenhilfe wäre.

8. Diese beiden Bundesgruppen europäischer Grossmächte fand bei seinem Regierungsantritt Eduard VII. von England vor. Er betrachtete es als seine Hauptaufgabe, Frankreich zu stärken und die zahlreichen englisch-russischen Differenzen auszugleichen. Diese mit Meisterschaft verfolgte Politik führte England in ein nahes Verhältnis zu den beiden Mächten des Zweibundes, das gleichfalls vertragsmässige Formulirung als sog. Drei-Entente fand, aber gleichfalls geheim gehalten wurde. In Ostasien sicherte sich England das entscheidende Wort durch ein Bündnis mit der durch den siegreichen Krieg mit Russland gewaltig emporgestiegenen Grossmacht Japan. Die frühere Zurückhaltung Englands in Sachen des kontinentalen Europa hat sich mehr und mehr ins Gegenteil verwandelt: seit und durch Eduard VII. hat England die Führung der dem Dreibund gegenüberstehenden Mächtegruppirung und spricht darin das entscheidende Wort. Dass von dieser Mächtegruppe aus eine starke Annäherung an Italien gesucht wurde, dass andrerseits von dem grossen Kapital der früheren Beziehungen zwischen Deutschland und Russland einzelne Stücke wiedergewonnen wurden, darf gleichfalls als feststehend betrachtet werden. Die Politik Eduards VII., in ihrem Endziel gegen Deutschland gerichtet, hat in der zweiten Hälfte des Jahres 1911 in der grossen Weltkrisis der Marokko-Frage ihren Höhepunkt erreicht. Inzwischen haben durch den Angriff Italiens auf Tripolis und den dadurch hervorgerufenen italienisch-türkischen Krieg, sowie insbesondere durch die Besetzung der meisten türkischen Inseln im Ägäischen Meere durch Italien endlich durch die Zertrümmerung des türkischen Staates in Europa infolge der kriegerischen Erfolge der verbündeten Balkan-Königreiche im Herbst 1912 die Staatenverhältnisse abermals eine tiefgreifende Veränderung, wenn auch zunächst ohne Veränderung der bestehenden Bündnisse, gefunden. Welche Entwicklung die Weltgeschichte von hier aus nehmen wird, entzieht sich jeder Voraussicht.

II. Die Internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Bearbeiten

Literatur: Bearbeiten

Die zahlreichen Schriften von Alfred H. Fried.
Die offiziellen Protokolle der beiden Haager Friedenskonferenzen. –
Die Werke von Meurer, Nippold, Merighnac, Holls, Scott über die Haager Friedenskonferenzen; dazu jetzt
Schücking: Das Werk vom Haag, bis jetzt erschienen 2 Bände, von Schücking und Wehberg.
Ferner die Werke von Lammasch über internationale Schiedsgerichtsbarkeit.
Zahlreiche Monographien, darunter besonders die Bonner Dissertation von Alwine Tettenborn: Das Haager Schiedsgericht. –
Der Kommentar zur Schiedsgerichtskonvention von Wehberg.

1. Indess die auswärtigen Verhältnisse der grossen Staaten der Welt von Jahr zu Jahr und zuletzt von Tag zu Tag immer schwieriger wurden, entwickelte sich in der Welt und zwar zunächst ohne Zusammenhang mit den Regierungen eine stetig anwachsende Friedensbewegung. Man darf wohl diese Bewegung auf drei an sich verschiedene, aber im Endziel zusammentreffende Geistesrichtungen zurückführen. Einmal waren es religiös-christliche Ideengänge, die an dieser Bewegung starken Anteil hatten; insbesondere war dies der Fall in den angelsächsischen Ländern, England und Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Bewegung vielfach selbst in den regelmässigen Gottesdienst Eingang fand. Diese religiöse Ausprägung des Friedensgedankens [392] trug ein rein protestantisches Gepräge, indes die gewaltigen Traditionen, die nach dieser Richtung die katholische Kirche im mittelalterlichen Papsttum hat, eine Erneuerung in der modernen Friedensbewegung, wenn überhaupt, nur in ganz geringem Umfang fanden. Zweitens bildete und bildet der Friedensgedanke einen starken Bestandteil der machtvollen sozialen Bewegungen unserer Zeit. Auch wenn diese Bewegungen nicht so weit gingen, die Idee des besonderen Volkes und Vaterlandes ganz aufzulösen in dem Schlachtruf: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“, so besteht doch kein Zweifel, dass der moderne Sozialismus grundsätzlich Frieden unter den Staaten predigt und verlangt, um die von ihm als Existenzbedingung der Völker geforderte Umgestaltung der Erwerbsverhältnisse der Menschheit durchführen zu können. Man wendet sich mit aller Schärfe gegen den Gedanken äusserer Kriege, um, wenn nötig, den inneren Krieg zur Erreichung jenes sozialen Zieles führen zu können. Wie immer man nun zu diesen sozialen Fragen stehen mag, so ist doch zweifellos, dass der Friedensgedanke als ein wesentlicher Bestandteil des modernen Sozialismus zu betrachten ist, selbst bis zu dem Extrem der vollständigen Beseitigung der bestehenden Heere. Neben diesen beiden Richtungen entwickelte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte noch eine dritte, wesentlich auf literarischer Grundlage, als deren Begründerin und geistiger Mittelpunkt die Wiener Schriftstellerin Berta von Suttner bezeichnet werden darf. Unabhängig von religiösen, politischen und sozialen Gedanken verwirft sie den Krieg als solchen aus rein kulturellen Gesichtspunkten und fordert die Erledigung aller internationalen Streitfälle auf friedlichem Wege, da der Krieg unter allen Umständen eine Barbarei sei, durch die in nicht zu verantwortender Weise hohe Kulturwerte der Menschheit gefährdet und vernichtet würden. Diese literarische Bewegung des sog. Pazifismus hat eine immer steigende Bedeutung gewonnen und kann, wenn auch anfangs ziemlich allgemein und vielfach auch heute noch geringschätzig betrachtet, dermalen nicht mehr in ihrer ethisch-kulturellen Wirksamkeit verkannt werden, auch dann wenn man Klarheit der Endziele und richtiges Augenmass für die politischen Kräfte der Wirklichkeit vielfach vermisst. Es konnte selbstverständlich nicht fehlen, dass die drei oben gekennzeichneten Richtungen der Friedensbewegung sich mannigfach begegneten und in einander übergingen behufs Erreichung des von ihnen in gleicher Weise erstrebten Zieles.

2. Einen mächtigen Aufschwung nahm die Friedensbewegung durch die Berufung der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899. Ob, wie die Pazifisten behaupten, die vom russischen Kaiser Nikolaus II. ausgegangene Berufung dieser Konferenz auf pazifistischen Anregungen direkt beruhte, muss dahingestellt bleiben; zweifellos haben diese Anregungen auf den russischen Kaiser stark eingewirkt.

Unter grosser Bewegung der Geister in der ganzen Welt trat die Friedenskonferenz zusammen. Ihre bedeutenden kriegsrechtlichen Arbeiten, die in der ersten und zweiten Kommission durchgeführt wurden, interessieren hier nicht; dem Ideenkreis der Friedensbewegung aber gehören zwei Arbeiten der Konferenz an: Die sog. Abrüstung und die Schiedsgerichtsbarkeit. Die Beratung über den erstgenannten Gegenstand – in der ersten Kommission – war von dramatischer Kürze. Man erkannte sehr bald, dass eine praktische Verwirklichung dieser Gedanken bei den gegenwärtigen Staats- und Weltverhältnissen unmöglich sei; so wurde der Gedanke nach kurzer Verhandlung dem „weiteren Studium“ der Regierungen überwiesen und auch auf der zweiten Friedenskonferenz 1907 war die Frage noch nicht weiter ausgereift. Dabei ist es bis zu diesem Augenblick geblieben: Die Rüstungen der Staaten haben sich nicht vermindert, sondern in sehr erheblichem Grade vermehrt.

Dagegen erwies es sich als möglich, dem Schiedsgerichtsgedanken eine praktische Verwirklichung zu geben und zwar in einem Grade, der die Hoffnungen, die man in dieser Hinsicht gehegt hatte, erheblich übertraf.

Der Gedanke der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit reicht weit zurück in der Geschichte der Menschheit; sowohl das Altertum wie das Mittelalter kennen ihn und haben ihn praktisch geübt. Auch im Rahmen des modernen Völkerrechtes hatte der Gedanke eine, wenn auch kümmerliche, theoretische Gestaltung gefunden und die Praxis der Neuzeit hatte von ihm in zahlreichen Fällen Gebrauch gemacht; der bekannteste Fall der Neuzeit ist wohl der berühmte Alabamastreit zwischen [393] England und den Vereinigten Staaten. Hatten zwei Staaten sich auf schiedsrichterliche Erledigung eines Streitfalles grundsätzlich geeinigt, so musste aber für die Durchführung der Sache erst so gut wie alles durch einen besonderen Staatsvertrag („Kompromiss“) für den einzelnen Fall geregelt werden.

An diesem Punkte setzten die russischen Vorschläge und auf ihrer Grundlage die Arbeiten der ersten Friedenskonferenz ein. Ohne erhebliche Schwierigkeit wurde eine umfassende Ordnung des Verfahrens für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit zum Abschlusse gebracht und damit die Notwendigkeit beseitigt, erst immer im einzelnen Falle diese Ordnung des Verfahrens herzustellen. Schon darin lag ein sehr bedeutender Fortschritt für Theorie und Praxis des Völkerrechtes. Auch andere mit der Schiedsgerichtsbarkeit in Zusammenhang stehende Streitfragen des Völkerrechtes konnten ohne grosse Schwierigkeiten erledigt werden, so die sog. „guten Dienste (bons offices)“ und die Mediation; ein bisher dem Völkerrecht fast unbekanntes Kapitel wurde dem Katalog dieser Friedensmittel zur Erledigung internationaler Streitfälle angefügt, die Untersuchungskommissionen (commissions d’enquête). In gründlicher Beratung wurden über alle diese Fragen dauernde Regeln geschaffen, durch Staatsvertrag dem positiven Völkerrecht eingefügt und auf der zweiten Friedenskonferenz in Einzelpunkten ergänzt, erweitert, verbessert. Für leichtere Streitfälle fügte die zweite Konferenz noch ein Kapitel über ein abgekürztes Verfahren bei.

3. Über die Bildung des Schiedsgerichtes selbst enthielt der russische Entwurf keine Vorschriften; darnach sollte dies also der Regelung der Parteien im einzelnen Falle überlassen bleiben. Es ist das welthistorische Verdienst des englischen Delegierten, Sir Julian Pauncefote, auch in diesem Punkte einen Fortschritt des Völkerrechtes herbeigeführt zu haben, den man vor der Konferenz von 1899 wohl allgemein als unmöglich betrachtet hatte. Dieser Fortschritt liegt in dem sog. „permanenten Tribunal“, dem ständigen Haager Schiedshof. Der englischen Anregung schlossen sich sofort Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika an, so dass dem Komitee drei formulierte Entwürfe vorlagen. Hierfür die Zustimmung des Deutschen Reiches zu gewinnen, bot sehr grosse Schwierigkeiten. Es bedurfte einer längeren Verhandlung des deutschen Delegierten in Berlin, um die Zustimmung des Deutschen Reiches zu erzielen. Als dies Ziel erreicht war, wurde auch über diesen Punkt die Verhandlung rasch und glatt zu Ende geführt und der Haager Schiedshof in der Weise gebildet, dass jeder Staat bis zu vier Richter ernennen kann und dass aus dieser „Cour permanente“ im einzelnen Streitfalle ein Schiedsgericht von fünf Mitgliedern jederzeit sofort berufen werden kann. In einer erheblichen Zahl von, teilweise sehr schwierigen, Streitfällen hat das so konstituierte Haager Schiedsgericht dem Weltfrieden wertvolle Dienste geleistet. Die von Amerika ausgehenden Bestrebungen, diesen Schiedsgerichtshof zu ersetzen durch ein mit ständigen Richtern besetztes dauerndes Schiedsgericht – etwa in Verbindung mit dem projektierten Prisenhofe –, haben das Stadium des unreifen Projektes noch nicht überschritten und dürften zur Zeit, zumal nach Ablehnung des Prisen-Abkommens durch das englische Oberhaus, nur wenig Aussicht auf Verwirklichung haben.

4. Dagegen konnte eine andere Grundfrage bis jetzt nicht zur endgiltigen Erledigung gebracht werden, die Frage: welche internationalen Streitfälle sollen dem Schiedsgericht unterbreitet werden?

Der russische Entwurf hatte die Antwort auf diese Frage in folgender Weise gegeben: 1. Grundsätzlich soll dies Sache des freien Willens der Parteien sein; 2. in gewissen Dingen, insbesondere wirtschaftlichen und finanziellen Fragen, soll jedoch eine Rechtspflicht zur Anrufung des Schiedsgerichtes vorgeschrieben werden (sog. „obligatorisches Schiedsgericht“); diese Dinge waren in einem Katalog aufgezählt, der, in eingehender Beratung festgestellt, zwölf Kategorien enthielt, darunter Post- und Telegraphen-, Eisenbahn-, Mass- und Gewichtsachen u. dgl.; 3. aber auch in diesen Sachen soll die Rechtspflicht, das „Obligatorium“, ausgeschlossen sein, wenn eine Partei erklärt, die nationale Ehre oder die Lebensinteressen [394] des Staates seien berührt („en tant qu ils ne touchent ni à l’honneur national ni aux interêts vitaux des Etats“).

Man hatte sich im Komitee auf diese drei Punkte geeinigt und zugleich im Vertragstext zum Ausdruck gebracht: es liege im Wesen der Schiedsgerichtsbarkeit, dass in erster Linie Rechtsfragen zur schiedsrichterlichen Entscheidung zu bringen seien. Aber indem man allgemein die Frage, ob eine schiedsrichterliche Entscheidung herbeigeführt werden solle, dem Willen der streitenden Mächte anheimstellte, konnten jederzeit auch politische Streitfragen kraft dieses Willens dem Schiedsgericht zugewiesen werden und dies ist wiederholt geschehen (Venezuelastreit, Casablancafall).

Diese Beschlüsse des Komitees wurden jedoch, einer Forderung des Deutschen Reiches gemäss, weiterhin dahin eingeschränkt, dass, um nicht die neue Friedensordnung von Anbeginn ihrer Wirksamkeit an mit zu vielen schweren Problemen zu belasten, das ganze Obligatorium beseitigt wurde. Massgebend ist somit lediglich der Wille der Parteien im einzelnen Falle. Vorbehalten blieb das Obligatorium nur, insoweit es durch besondere Verträge, wie z. B. den Weltpostvereinsvertrag, bereits eingeführt ist. Ausserdem wurde den Mächten empfohlen, durch Sonderverträge das Obligatorium einzurichten und es ist dies durch zahlreiche Verträge dieser Art in sehr umfassender Weise geschehen, so z. B. auch durch einen deutsch-englischen Sondervertrag ganz allgemein.

Mit dieser Frage hat sich dann die zweite Friedenskonferenz 1907 in Monate langen Beratungen beschäftigt, die das Problem nach allen Seiten gründlich beleuchteten, ohne dass eine Einigung erzielt werden konnte; nur auf eine farblose und in sich widerspruchsvolle Resolution vermochte die Konferenz sich schliesslich zu einigen. Die Lösung der Frage scheiterte an dem Widerspruch des Deutschen Reiches, dem sich Oesterreich-Ungarn und mehrere andere Staaten anschlossen, indess die Mehrheit der Konferenz sich über eine Lösung verständigt hatte, die aber nicht zum Konferenzbeschluss erhoben werden konnte, da hierfür Einstimmigkeit (oder doch: „nahezu“ Einstimmigkeit) erforderlich war.

Es kann auf die Einzelheiten dieser hochinteressanten Verhandlung nicht eingegangen werden. Insoweit der Widerspruch des Deutschen Reiches sich gegen eine Liste von obligatorischen Schiedsgerichtsfällen ohne die sog. Ehrenklausel richtete, war er berechtigt; insoweit er ein Obligatorium für Rechtssachen unter dem Schutze der Ehrenklausel überhaupt bekämpfte, war er ungerechtfertigt und wird sich auf die Dauer nicht aufrechterhalten lassen.

5. Inzwischen ist von Amerika aus durch den früheren Präsidenten Taft eine mächtige Bewegung entfacht worden für Schiedsgerichtsverträge ohne Ehrenklausel; die Entwürfe von solchen mit England und Frankreich sind vom Abgeordnetenhaus angenommen, vom Senat aber abgelehnt worden. Man hat zu diesen Verträgen mit Recht bemerkt: sie seien nicht Schiedsgerichtsverträge, sondern vorbehaltlose Bündnisverträge. Andrerseits betont Taft selbst: Die nationale Politik müsse selbstverständlich immer ausserhalb des Schiedsgerichtes bleiben, aber Fragen der nationalen Ehre könnten sehr wohl dem Schiedsgericht unterworfen werden. Es wird schwer sein, sich eine klare Vorstellung von der praktischen Bedeutung dieser Taft’schen Unterscheidung zu machen: Fragen der nationalen Politik und Fragen der nationalen Ehre werden identisch sein; ist eine Frage, mag sie ursprünglich ganz unpolitisch gewesen sein z. B. Anwendung eines Zolltarifcs, zu einer Frage der nationalen Ehre geworden, so ist sie damit, wenn sie es nicht schon vorher war, zugleich zu einer Frage der nationalen Politik geworden. Tafts grosser Vorgänger Roosevelt hat sich mit grösster Entschiedenheit dahin erklärt, dass Schiedsverträge ohne Ehrenklausel bei den heutigen Staatsverhältnissen undenkbar seien, teilt also die Ansicht, die ich in meiner Rektoratsrede vom 18. Oktober 1910 und anderwärts vertreten habe. Der Taft’sche Vorbehalt der nationalen Politik ist noch viel unbestimmter als die Ehrenklausel; dadurch dass er keinen besonderen Ausdruck findet, wird die Vorstellung erweckt, als handle es sich um einen lückenlosen, [395] auf alle Fälle jeder Art anwendbaren Schiedsgerichtsvertrag, was in keiner Weise der Fall ist; wäre dies aber der Fall, dann ist der Schiedsgerichtsvertrag ein Bündnisvertrag. Von englischer und französischer Seite ist eine autoritative Erklärung über den Kernpunkt der mit den Vereinigten Staaten beabsichtigten Schiedsverträge nicht bekannt geworden. Der amerikanische Senat hat inzwischen den Verträgen eine Form gegeben, die selbst den Schein des vorbehaltlosen Obligatoriums beseitigte, somit als Ablehnung zu betrachten war und auch betrachtet wurde.

III. Die Idee des ewigen Friedens. Bearbeiten

So bleibt bei der Betrachtung dieser grossen Probleme des internationalen Lebens immer ein ungelöster Rest; mag man ihn „nationale Politik“ oder „Ehrenklausel“ nennen, es ist im letzten Ende immer der gleiche Gedanke: die Souveränetät des Staates.

1. Die Idee, dass die Menschheit einmal friedlich wie im Paradiese neben einander wohnen und dass die Unterschiede der Völker und Staaten sich einmal auflösen werden in der Einheit der Menschheit, existiert heute höchstens noch in den Köpfen weltfremder, religiöser oder humanitärer, Schwärmer. Insbesondere darf man die weitverbreitete Bewegung des Pazifismus nicht mit jenem Vorwurf als naive Schwärmerei abtun wollen. Das wäre unrichtig und ungerecht.

2. Vielmehr hofft man die Beseitigung des Krieges durch eine „Organisation der Welt“ zu erreichen. Das ist kein neuer Gedanke. Auch Kant war sich darüber klar, dass sein Wunsch des ewigen Friedens nur auf der Grundlage der vorherigen Erfüllung jener Voraussetzung möglich sei. Und der erste bedeutende Vertreter dieses Gedankenkreises, der französische Abbé Saint Pierre, hatte ebenfalls bereits diese Erkenntnis. Und das Amt des Papstes als des von Gott verordneten arbiter mundi beruhte auf der Organisation der gesamten Christenheit durch das kanonische Recht und der arbiter wandelte sich auf dieser Grundlage zum judex mundi.

Aber wenn heute der Pazifismus sich auf diese Grundlage stellt, kann er mit vollem Recht darauf verweisen, dass heute die Voraussetzungen ganz andere seien als zu den Zeiten von Saint Pierre und selbst Kant. Post, Telegraph, Eisenbahnen, Dampfschiffe haben den Raum der christlichen Welt klein gemacht; in Millionen von Menschen und Milliarden von Werten, die über die Staatsgrenzen fluten, stehen die Staaten und Völker heute in täglichem und stündlichem Verkehr; zahllose Staatsverträge über die verschiedensten Dinge regeln diesen Verkehr und für weite Gebiete dieses Verkehres ist in den letzten Jahrzehnten in raschem Vorausschreiten an die Stelle der Verträge einzelner Staaten der grossartige Gedanke der Weltverträge und der durch sie geschaffenen Weltunionen getreten. Und ein aufmerksamer Beobachter dieser gewaltigen Bewegung wird keinen Zweifel hegen, dass diese Bewegung noch lange nicht zum Stillstand gekommen ist. Und den Rechtsnormen dieser internationalen Evolution fehlt auch die organisatorische Durchführung nicht, deren bedeutsamstes Werk bis jetzt das ständige Haager Schiedsgericht ist.

All das ist richtig und dass diese Evolution noch lange nicht abgeschlossen ist, ist ebenso zweifellos und wohin dies führen wird, ist nicht auch nur mit einiger Sicherheit zu bestimmen. Dass bei diesem Stand der Dinge der Gedanke der „Organisation der Welt“ mit neuer Gewalt hervorgetreten ist und nicht nur von den Sozialdemokraten als Bestandteil des Parteiprogrammes sondern von Männern wie d’Estournelles in Frankreich und Schücking in Deutschland als Ziel einer vielleicht nahen Zukunft vertreten wird, ist wohl begreiflich.

3. Und dennoch muss trotz aller Fortschritte der Menschheit in bezug auf den Gedanken der Organisation der Welt auch heute noch im letzten Ende die Kritik des „Weltbundesstaates“ die gleiche sein wie zurzeit von Saint Pierre und Kant. Die staatlichen Sonderaufgaben der einzelnen Völker sind noch nicht im entferntesten soweit gelöst, dass an ihre Stelle eine internationale Organisation treten könnte. Dies gilt selbst für diejenigen Völker, die wie England und Frankreich, Dank der Gunst ihrer Geschichte, oder wie die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, Dank des bei der Staatsgründung bereits vorhandenen grossen Kulturkapitales fremden Ursprungs, in der Lösung der Staatsaufgaben den weitesten Vorsprung haben; für Russland wird es niemand bezweifeln; in Österreich-Ungarn sind die innerstaatlichen Probleme [396] durch die Verschiedenheit der Völkerbestandteile des Doppelstaates besonders schwer; die junge Staatseinheit von Italien und Deutschland ist noch weit entfernt von der Lösung der ihr gestellten nationalen Probleme; in anderer Weise gilt dies ebenso von der jüngsten grossen Weltmacht Japan. Auf Einzelpunkte kann selbstverständlich hier nicht eingegangen werden. Dass die Staatsprobleme der einzelnen Staaten vielfach einen Gegensatz gegen andere Staaten in sich schliessen, der sich nicht unbedingt in den Formeln des „Rechts“ erledigen lässt, wird kein vorsichtiger Beurteiler zu leugnen imstande sein und die Geschichte unserer Zeit predigt diese Wahrheit in fast grauenhafter Weise. Dazu kommen die ungeheuren Probleme, die durch den Gegensatz von Christentum und Islam, durch China – eine Welt für sich –, durch die Kolonisation und Zivilisation von Afrika gestellt sind.

Solange diese ungelösten inneren Staatsaufgaben und die Welt von Gegensätzen der Staaten in grossen Menschheitsaufgaben vorhanden sind, kann der Gedanke, einer „Organisation der Welt“ keine Aussicht auf Erfolg haben. Erst wenn die ungeheure Bewegung der Völker und Staaten über diese Fragen zur Ruhe gekommen sein und einer inneren Konsolidation der für das Leben der Menschheit Mass und Richtung bietenden Staaten und Völker Raum gegeben haben wird, wird mit Aussicht auf Erfolg an eine Organisation der Welt gedacht werden können. Den Zeitpunkt hierfür vermag kein menschliches Denken zu bestimmen. Bis dahin bleibt es in dem Bewusstsein aller Völker der Welt bei dem Gesetze, das Felix Dahn in die schönen Worte gekleidet hat: „Das höchste Gut des Mannes ist sein Volk – das höchste Gut des Volkes ist sein Staat.“