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England und den Vereinigten Staaten. Hatten zwei Staaten sich auf schiedsrichterliche Erledigung eines Streitfalles grundsätzlich geeinigt, so musste aber für die Durchführung der Sache erst so gut wie alles durch einen besonderen Staatsvertrag („Kompromiss“) für den einzelnen Fall geregelt werden.

An diesem Punkte setzten die russischen Vorschläge und auf ihrer Grundlage die Arbeiten der ersten Friedenskonferenz ein. Ohne erhebliche Schwierigkeit wurde eine umfassende Ordnung des Verfahrens für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit zum Abschlusse gebracht und damit die Notwendigkeit beseitigt, erst immer im einzelnen Falle diese Ordnung des Verfahrens herzustellen. Schon darin lag ein sehr bedeutender Fortschritt für Theorie und Praxis des Völkerrechtes. Auch andere mit der Schiedsgerichtsbarkeit in Zusammenhang stehende Streitfragen des Völkerrechtes konnten ohne grosse Schwierigkeiten erledigt werden, so die sog. „guten Dienste (bons offices)“ und die Mediation; ein bisher dem Völkerrecht fast unbekanntes Kapitel wurde dem Katalog dieser Friedensmittel zur Erledigung internationaler Streitfälle angefügt, die Untersuchungskommissionen (commissions d’enquête). In gründlicher Beratung wurden über alle diese Fragen dauernde Regeln geschaffen, durch Staatsvertrag dem positiven Völkerrecht eingefügt und auf der zweiten Friedenskonferenz in Einzelpunkten ergänzt, erweitert, verbessert. Für leichtere Streitfälle fügte die zweite Konferenz noch ein Kapitel über ein abgekürztes Verfahren bei.

3. Über die Bildung des Schiedsgerichtes selbst enthielt der russische Entwurf keine Vorschriften; darnach sollte dies also der Regelung der Parteien im einzelnen Falle überlassen bleiben. Es ist das welthistorische Verdienst des englischen Delegierten, Sir Julian Pauncefote, auch in diesem Punkte einen Fortschritt des Völkerrechtes herbeigeführt zu haben, den man vor der Konferenz von 1899 wohl allgemein als unmöglich betrachtet hatte. Dieser Fortschritt liegt in dem sog. „permanenten Tribunal“, dem ständigen Haager Schiedshof. Der englischen Anregung schlossen sich sofort Russland und die Vereinigten Staaten von Amerika an, so dass dem Komitee drei formulierte Entwürfe vorlagen. Hierfür die Zustimmung des Deutschen Reiches zu gewinnen, bot sehr grosse Schwierigkeiten. Es bedurfte einer längeren Verhandlung des deutschen Delegierten in Berlin, um die Zustimmung des Deutschen Reiches zu erzielen. Als dies Ziel erreicht war, wurde auch über diesen Punkt die Verhandlung rasch und glatt zu Ende geführt und der Haager Schiedshof in der Weise gebildet, dass jeder Staat bis zu vier Richter ernennen kann und dass aus dieser „Cour permanente“ im einzelnen Streitfalle ein Schiedsgericht von fünf Mitgliedern jederzeit sofort berufen werden kann. In einer erheblichen Zahl von, teilweise sehr schwierigen, Streitfällen hat das so konstituierte Haager Schiedsgericht dem Weltfrieden wertvolle Dienste geleistet. Die von Amerika ausgehenden Bestrebungen, diesen Schiedsgerichtshof zu ersetzen durch ein mit ständigen Richtern besetztes dauerndes Schiedsgericht – etwa in Verbindung mit dem projektierten Prisenhofe –, haben das Stadium des unreifen Projektes noch nicht überschritten und dürften zur Zeit, zumal nach Ablehnung des Prisen-Abkommens durch das englische Oberhaus, nur wenig Aussicht auf Verwirklichung haben.

4. Dagegen konnte eine andere Grundfrage bis jetzt nicht zur endgiltigen Erledigung gebracht werden, die Frage: welche internationalen Streitfälle sollen dem Schiedsgericht unterbreitet werden?

Der russische Entwurf hatte die Antwort auf diese Frage in folgender Weise gegeben: 1. Grundsätzlich soll dies Sache des freien Willens der Parteien sein; 2. in gewissen Dingen, insbesondere wirtschaftlichen und finanziellen Fragen, soll jedoch eine Rechtspflicht zur Anrufung des Schiedsgerichtes vorgeschrieben werden (sog. „obligatorisches Schiedsgericht“); diese Dinge waren in einem Katalog aufgezählt, der, in eingehender Beratung festgestellt, zwölf Kategorien enthielt, darunter Post- und Telegraphen-, Eisenbahn-, Mass- und Gewichtsachen u. dgl.; 3. aber auch in diesen Sachen soll die Rechtspflicht, das „Obligatorium“, ausgeschlossen sein, wenn eine Partei erklärt, die nationale Ehre oder die Lebensinteressen

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 393. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/409&oldid=- (Version vom 25.12.2021)