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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

gegen das autokratische Russland; der Krieg, der daraus entsprang, war ein Krieg, den die liberalen Westmächte zur Erhaltung des zurückgebliebensten europäisch-asiatischen Staatsgebildes, der Türkei, gegen Russland führten, das die Befreiungsbewegung der christlichen Nationalitäten in der Türkei begünstigte und damit allerdings auch seine eigenen Machtinteressen und Staatsnotwendigkeiten – freie Schiffahrt vom Schwarzen zum Mittelländischen Meere – vertrat. Die Niederlage Russlands gegenüber dem Kriegsbündnisse von Frankreich, England, Sardinien und der Türkei führte zum Pariser Frieden 1856, der für längere Zeit das Frankreich Napoleons III. zum mächtigsten Staate Europas machte und Russland vollständig niederwarf. Preussen und Österreich nahmen an diesen Vorgängen keinen aktiven Anteil.

3. Eine abermalige Neugestaltung der europäischen Staatenverhältnisse wurde herbeigeführt durch die Einheitskämpfe in Italien und Deutschland. Der Führer Italiens zur Einheit war das norditalische Königreich Sardinien und dessen leitender Staatsmann Cavour. Zuerst stand die italienische Einheitsbewegung unter dem Schutze Frankreichs; die Bewegung musste sich in erster Linie gegen Österreich richten. Der französisch-österreichische Krieg von 1859 vereinigte die Lombardei mit Sardinien. Die Freischaren Garibaldis stürzten sodann die sämtlichen italienischen Einzelstaaten um und bewirkten deren Vereinigung mit Sardinien, das hierdurch schon 1861 zum Königreich Italien geworden war. Allerdings mit Ausnahme von Rom und Venetien; Rom und Umgebung blieb, nunmehr durch französische Truppen gegen Italien geschützt, Kirchenstaat des Papstes und Venetien blieb österreichische Provinz. Das Bündnis zwischen Preussen und Italien brachte dann 1866 Italien, trotz seiner militärischen Niederlagen, die Abtretung von Venetien durch Österreich und der deutsch-französische Krieg 1870 vollendete die Einheit Italiens durch die nach der französischen Katastrophe von Sedan ohne Schwertstreich erfolgte Besitzergreifung von Rom (20. Sept. 1870). Damit war die neue Grossmacht Italien vollendet.

4. Inzwischen hatten die deutschen Staatsverhältnisse infolge der Initiative Bismarcks eine völlige Neugestaltung durch die Befreiung Schleswig-Holsteins von Dänemark und den grossen Entscheidungskampf von 1866 zwischen Preussen und Österreich erfahren. In der Form des Bundestaates wurde der gesamtdeutsche Nationalstaat, der Norddeutsche Bund, hergestellt, dessen Präsidialmacht Preussen war und der mit den süddeutschen Staaten durch feste Schutz- und Trutzbündnisse verbunden war. Österreich war aus den deutschen Staatsverhältnissen völlig ausgeschieden. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 führte sodann zur endgiltigen Herstellung des gesamtdeutschen Nationalstaates in bundesstaatlicher Form, des Deutschen Reiches (seit 1. Januar 1871). Es war der Staatsweisheit Bismarcks und den Waffentaten des preussischen Heeres gelungen, jede Bündnisbildung gegen Deutschland zu verhindern.

5. Inmitten des grossen Völkerringens zwischen Deutschland und Frankreich hatte Russland – mit Zustimmung Deutschlands – die für Russland erniedrigenden Bestimmungen des Pariser Friedens über das Schwarze Meer für nichtig erklärt; Frankreich lag zu Boden und England konnte nur erreichen, dass eine europäische Konferenz im März 1871 die Erklärung Russlands legalisierte. Die Freiheitsbewegung der christlichen Völker auf der Balkan-Halbinsel wurde immer stärker und führte schliesslich zum dritten grossen Krieg des 19. Jahrhunderts zwischen Russland und der Türkei, der im Frieden von San Stefano am 3. März 1878 seinen Abschluss fand. Der Inhalt dieses Friedens war eine ziemlich vollständige Vernichtung des türkischen Staatswesens in Europa. Dies erklärte England für unannehmbar. Unter schweren Mühen gelang es Bismarck, eine Revision des Friedens von San Stefano durch den Berliner Vertrag vom 13. Juli 1878 zu erreichen; das von Russland erkämpfte Hauptresultat, der neue selbständige Staat Bulgarien, blieb in diesem Vertrage gewahrt, immerhin erfuhr der Friede von San Stefano eine sehr wesentliche Einschränkung, so dass der türkische Staat in Europa in erheblichem Umfange erhalten blieb.

6. Die durch die Berliner Konferenz hervorgerufene Verstimmung Russlands war sodann der Ausgangspunkt für eine neue Gestaltung der europäischen Bündnisverhältnisse. Angesichts der veränderten Haltung Russlands schloss das Deutsche Reich ein festes Bündnis

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/406&oldid=- (Version vom 25.12.2021)