Fliegende Blätter Heft 16 (Band 1)
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Ich weiß nicht wo und ich weiß nicht wann, lebten einmal vier überaus glückliche Menschen unter Einem Dache, und dieses Dach war das eines alten Klosters, welches man hatte aussterben lassen, weil es so gar entfernt von allen menschlichen Wohnungen mitten in einem dichten Waldgebirge lag. Die jetzigen Bewohner waren: erstens Herr Florian, ein gewaltig großer Hexenmeister, welcher lange Zeit gleich Philadelphia, Bosco und Döbler vor allen hohen und niedern Potentaten zum Naserümpfen eines hohen Adels und zum größten Vergnügen des niedern, namentlich des jüngeren Publikums, seine Künste gezeigt hatte.
Jetzt hatte er, wie man sagt, sein Schäfchen im Trockenen, denn das schöne alte und noch wohlerhaltene Klostergebäude, die ausgedehnten Gärten und Fischteiche, und der Wald, soweit man die Abends von selbst läutende Klosterglocke hören konnte, alles das war mit schönen blanken Friedrichsd’ors bezahlt, und als das Geld dießmal nicht, wie sonst oft beim Herrn Florian, sich in Blumen oder Spinnen verwandelte, so übergaben die Administratoren richtig alles dem Hexenmeister. Dieser, den man sich als einen schönen großen alten Mann denken muß mit silberweißen Locken und Augenbraunen, in einem Schlafrocke von violettem echtem Sammet, mit echtem Hermelin gefüttert, mit seidenen Strümpfen, und Schuhen mit Steinschnallen, dieser Herr Florian lebte jetzt wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Er trank täglich zwanzig Tassen Kaffee und rauchte dazu ein Dutzend Pfeifen, zankte mit seinem alten, krummbeinigen Diener Martin, und lobte seine beiden fleißigen Zöglinge, den Franz und die Marie. Das waren nämlich ein paar Waisenkinder aus dem am wenigsten entfernten Dorfe, welche er zur großen Freude der Herren Gemeindevorsteher zu sich genommen hatte, um sie zu nähren, zu kleiden und zu unterrichten, aber nicht wie die gewissenlosen Herren Gemeindevorsteher geglaubt hatten, in der schwarzen und weißen Magie, sondern in guter, christkatholischer Gottesfurcht, in Rechnen, Schreiben und Lesen, in Geographie und Geschichte, im Bäume oculiren und Hanfbrechen, Feldbau und Weinzucht, kurz in Allem, was einst nöthig war, damit sie sich, wie er wünschte, später heirathen und nach seinem Tode in Haus und Hof wirthschaften könnten.
[122] Franz und Marie waren zwar noch Kinder und dachten daher eben so wenig an’s Heirathen, wie Herr Florian ihnen jetzt schon Etwas davon sagte. Ihre kindliche Zuneigung war aber so groß, daß Herr Florian hoffen durfte, sie würden künftig nichts gegen eine Verbindung einzuwenden haben, besonders auch deßhalb nicht, weil Marie keinen andern jungen Mann, als Franz und Franz kein anderes junges Mädchen als Marie bis zu ihrem Hochzeitstage zu sehen kriegen sollten. Man konnte daher sagen, über diesen letztern Punkt waren alle so einig, wie der krummbeinige Martin darüber, daß er sich jeden Tag einen Rausch trinken mußte, und es schien der Sache nichts in den Weg treten zu können, als sich auf einmal ein großes Unglück ereignete. Herrn Florians ganze Hexenmeisterei und Alles, was er an Hab und Gut durch dieselbe hervorgebracht hatte, ja sein Leben hing davon ab, daß er eine reine Judenseele in Spiritus hatte, und von dieser täglich einige Tropfen zu sich nahm.
Martin, obschon er sonst das volle Vertrauen seines Herrn besaß, kannte dieses Geheimniß nicht, und daher wuchs die langen Jahre hindurch von Tag zu Tage seine Begierde, auch einmal von dem köstlichen Schnaps zu probiren, bis er endlich, obgleich sonst eine grundehrliche Haut, der Versuchung nicht länger widerstehen konnte, und einmal Nachts den Schrankschlüßel unter dem Kopfkissen seines Herrn wegstahl.
Im Nu war dann das Elixir in seinen Händen und aus Furcht, es möge nicht so bald wieder eine so gute Gelegenheit kommen, trank er die Flasche mit einem Zuge bis auf den letzten Tropfen aus. Etwas hätte nichts geschadet, jetzt aber erfolgte natürlich ein Donnerschlag, das Kloster war natürlich gleich wieder eine Ruine, Park und Wald wurden natürlich wieder zur Wildniß, das Geld, welches die Herren Administratoren in Händen hatten, war zu Unflath geworden, und als Martin voll Angst und Schrecken zu seinem Herrn hinüber eilte, lag dieser im Sterben und Franz und Marie knieten weinend an seinem Bette.
„Lieber Martin,“ sagte der Exhexenmeister, „ich zürne Dir nicht; denn Du hast aus Dummheit gefehlt, und es ist Strafe genug für Dich, daß in meinem Keller kein Wein, Bier und Schnaps mehr für Dich liegt. – Ich muß Deine starke Natur bewundern, daß Dich das Elixier nicht verbrannt hat, es nützt aber nur dem, welcher ohne grobe Fehler ist; solltest Du Dir einmal das Trinken abgewöhnen können, so kannst Du noch mal ein großer Hexenmeister werden, ich glaube aber nicht, daß dieser Fall eintreten wird.“ Das Einzige, was ich noch für Euch thun kann, ist dieses. Darauf küßte er Franz auf die Augen, Marie auf den Mund, schenkte dem Martin seinen sammtnen Schlafrock, seine seidenen Hosen und Strümpfe und die Schuhe mit den Steinschnallen, und sagte: „hiemit habe ich jedem von Euch eine Gabe verliehen, deren Werth und Bedeutung Ihr erst späterhin einsehen werdet.“ – Er wollte noch weiter sprechen, da klopfte es ziemlich unhöflich an die Thüre, und als er herein! rief, traten zwei Teufel in die Stube, um ihn zu holen. Sie sahen aber nicht aus, wie man den Teufel sonst wohl abbildete mit Schweif und Pferdefuß, sondern sie waren nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, mit Glacé-Handschuhen und Lorgnetten und war nichts auffallend an ihnen, als daß sie etwas viel Bart im Gesichte, und einen etwas falschen Blick hatten.
Herr Florian erkannte gleich in ihnen die Pächter der Spielbank im nächsten Badeorte wieder; es waren also keine jener dummen Teufel, wie sie einst so viel von guten und schlechten Christen geprellt wurden. –
„Herr von Florian,“ sagte der grimmigste der beiden Teufel, „wenn Sie Sich gefälligst ankleiden und mit uns kommen wollten; Ihre Hexereien waren so vortrefflich, daß sie nicht als gewöhnliche Taschenspielereien allerhöchsten Orts entschuldigt und nachgesehen werden konnten.“
Die Kinder fingen nun noch mehr an zu weinen, und wie die Weiber meist bei solchen Gelegenheiten zuerst wieder das Maul zu brauchen lernen, so rief auch hier Marie aus: „Aber mein Himmel, wie ist es möglich, daß Herr Florian, da er doch stets ein so braver Mann war, wegen des Bischen Hexens in die Hölle kommen sollte?“ „Mein Fräulein,“ sagte der Teufel (und Mariechen wurde über und über roth wegen dieses noch nie gehörten Ehrentitels und wegen der Grimmassen, die der Kerl dabei machte), „Herr von Florian kommen nicht in die Hölle, sondern nur so ein dreissig Millionen Jährchen in’s Fegefeuer, und dann zu oberst [123] in den Himmel. Aber wir müssen uns empfehlen, so leid uns ist, eine so angenehme Gesellschaft so bald wieder zu verlassen, wir können aber den ganzen Transport, welcher immer sehr zahlreich zu seyn pflegt, nicht auf uns warten lassen.“ Darauf nahmen Alle noch einmal zärtlich von einander Abschied, dann fuhren die Teufel mit dem Hexenmeister auf und davon; Martin, Franz und Marie weinten aber drei Tage lang und aßen und tranken nicht, darnach trösteten sie sich aber wieder und hielten am vierten Tage eine große Berathschlagung, wovon sie jetzt leben sollten, besonders wenn die Herren Administratoren sie aus dem Hause werfen sollten.
„Das letztere hätte keine Gefahr,“ meinte Martin, „denn die Wege im Walde seien gar zu schlecht, und wenn die Herren Administratoren hier zu Mittag speisen wollten, so müßten sie sich Alles selbst mitbringen, und das wäre beschwerlich und kostspielig. Du Franz,“ fuhr er fort, „kannst ja so schön Figuren schnitzen und Marie kann stricken und sticken. Wenn dann ein Haufen Arbeiten beisammen ist so trage ich’s zum Verkauf in den nächsten Ort“ – „und versaufe das Geld!“ lachte Franz. „Gewiß nicht,“ versicherte Martin, „höchstens die Hälfte will ich vertrinken.“ Und so machten sie es nun auch in der That mit ihrem Unterhalte; aber gleich das Erstemal, das Martin zu Markte ging, unterhielt dieser sich am besten, denn er vertrank den ganzen Erlös mit Ausnahme der kleinen Summe, wofür er gleich Anfangs Lebensmittel und dergleichen eingekauft hatte. Hier zeigte sich nun aber zuerst die Eigenthümlichkeit der Gabe, welche Martin von Florian empfangen hatte. Jedesmal wenn er sich einen Rausch trank, wurden alle die geschenkten Kleidungsstücke in allen Richtungen enger und kürzer. Da sah es denn bald zu lustig aus, wenn der gute Martin schwer betrunken, mit Lebensmitteln bepackt, vom Jahrmarkt nach Hause wankte. Die Schuhe waren bald so eng, daß der treue Diener bei jedem Schritte Ach und Weh schrie, an die schwarzen Hosen und Strümpfe mußte Marie jedesmal einen Streifen weiter annähen, wie sie ihr beim Verfertigen von ihren eigenen Kleidern übrig geblieben waren, und der schöne Schlafrock konnte bald kaum noch für eine Jacke gelten: Martin besserte sich aber darum doch nicht.
So war Franz mit der Zeit ein Jüngling, Marie eine Jungfrau, und ihre Lage die drückendste von der Welt geworden, als sich folgendes höchst Merkwürdige ereignete.
An einem Frühlingsabende saßen Franz und Marie nach gethanener Arbeit vor dem Hause und warteten mit Sehnsucht auf Martins Rückkehr, denn sie hatten sich seit über acht Tage nicht satt essen können, und doch erschrecklich viel arbeiten müssen.
Nachdem sie eine Weile trüben Gedanken über ihre traurige Lage nachgehängt hatten, wurden sie Beide auf einmal sehr vergnügt. Zufälliger Weise sah nämlich Franz die Marie gerade in demselben Augenblicke an, als Marie den Franz ansah.
Das war nun zwar auch früher schon sehr oft geschehen, das Außerordentliche war aber, daß diesmal bei dieser Gelegenheit Franz dachte: was ist die Marie doch für ein hübsches Mädchen, und zugleich Marie dachte: was ist der Franz doch für ein sauberer Bursche! Nun griff Franz mit seiner Hand nach dem Herzen, weil es ihm auf einmal da ganz kurios war, wie er früher noch nie verspürt hatte, und Marie griff mit ihrer Hand nach ihrem Herzen, weil es ihr da eben so kurios war.
Den ganzen Abend sahen sie sich nun nicht wieder an, obgleich sie wußten, daß es ihnen viel Vergnügen machen würde und wo sie nur konnten, gingen sie sich aus dem Wege, obgleich dem einen, wie dem andern Theile sehr unlustig zu Muthe war, wenn er den andern nicht in der Nähe wußte. So sehr sie sich früher auf die Speisen gefreut hatten, welche Martin mitbrachte, so mußte er jetzt doch allein sein Nachtessen verspeisen, denn Marie hatte sich in ihre Kammer eingeschlossen und dachte, sie wußte selbst nicht woran, und Franz lief wie unsinnig bald lustig singend, bald weinend um den essenden und trinkenden alten Martin herum und quälte diesen, er solle ihm sagen, warum ihm so kurios zu Muthe wäre? Martin ließ sich nun aber unter allen Umständen nie von der guten Gewohnheit abbringen, daß er, wenn er aß und trank, kein Wort sprach. Als er aber damit fertig war und sich in’s Bett gelegt hatte, um seinen Rausch auszuschlafen und sich von dem Drucke seiner engen Kleider zu erholen, da brummte er noch zwischen Traum und Wachen: „ha Narr, was solls seyn, du bist eben verliebt!“ – Aus welcher Rede, gelegentlich bemerkt, hervorzugehen scheint, daß diese wahrhafte Geschichte nicht irgendwo, sondern im lieben Schwabenlande sich zugetragen hat.
„Verliebt! verliebt!“ das Wort regte in Franz ein Meer von unbestimmten Gedanken und Gefühlen aus, aber da half kein Rütteln und kein Schreien, der alte Trunkenbold war nicht wieder zu erwecken. In einer wundersam traurigfröhlichen Stimmung rannte Franz nun im Mondscheine [124] Treppe auf Treppe ab durch die weiten öden Gänge und Hallen des Klosters unermüdlich fort und fort. Es mochte wohl Mitternacht seyn, da bemerkte er auf einmal, daß er nach kurzer Frist sich immer wieder in dem Gange vor Mariens Kammerthüre fand. In wen bist du denn verliebt? fragte er sich innerlich. Nun natürlich in Marie, antwortete es in ihm. Hat sie dich aber auch wieder lieb? fragte es weiter? Ihn überlief’s heiß und kalt bei dem Gedanken, daß dieses nicht der Fall sein könnte. Obgleich ihm Marie nie ein böses Wort gegeben hatte, sondern vielmehr that, was sie ihm nur an den Augen absehen konnte, war sie darum verliebt in ihn? war sie seinetwegen in einer ähnlichen Stimmung, wie er jetzt? ach nein, sie lag gewiß ruhig und schlief und träumte von ihrer Katze oder von dem Essen, das Martin mitgebracht hätte. Franz gerieth bei diesem Gedanken in eine Wuth, daß er hätte Alles entzwei schlagen mögen, schon wollte er hinausstürzen aus dem Hause in den Park, wo er am dunkelsten wäre oder lieber gleich in den Fischteich hinein, denn wie sollte er leben, wenn Marie ihn nicht wieder lieb hatte? – Voll Ingrimm warf er noch einen Blick auf die Thüre des Mädchens, welche gerade in diesem Augenblicke durch den hinter einem Mauervorsprung hervortretenden Mond auf das hellste beschienen wurde, da erkannte er plötzlich, daß Mariens Träume sich, ähnlich dem Bilde einer Laterna magika, in einem Lichtkreise auf jener Thüre darstellten. Das mußte die Gabe seyn, welche ihm Herr Florian verliehen, als er ihn sterbend auf die Augen küßte. Und was zeigten jene Bilder? – Nur von ihm träumte Marie; bald herzte sie ihn, bald küßte sie ihn, bald saß sie als Hausfrau neben ihm! Franz konnte sich nicht satt sehen an den Bildern, aber der Mond trat wieder hinter eine Mauerzinne und Alles war verschwunden. Allein das betrübte ihn nicht, jetzt mußte er hinaus ins Freie und laut jubelnd lief er im Mondscheine Bergauf Bergab, durch Wald und Thal bis ihn die aufgehende Sonne und der Hunger nach dem Frühstücke, nach Hause trieben. In der Mitte des wohl schon seit mehr als einem Jahrhundert dach- und fensterlosen Refektoriums, hatte in dem von Schutt erhöhten Boden ein prächtiger Lindenbaum Wurzel gefaßt und passend für das Leben der jetzigen Bewohner mit seiner breiten Krone eine neue Decke über dem Saale gebildet. Schon bei Florians Lebzeiten war es im Sommer Gebrauch gewesen unter diesem Baume das Frühstück, Mittag- und Abendmahl einzunehmen. Die Ungeduld hatte Franz heute wohl eine Stunde zu früh hiehergeführt. Trotz seiner fieberhaften Aufregung still wie eine Bildsäule saß er da, und blickte unverwandt auf die hohe gothische Eingangsthüre, deren reiches Laubwerk und musizirende Engelsköpfe im rothen Morgenlichte glänzten.
Mel. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind etc.
Mit seinen wilden Knappen zwo,
Reitet der finstere Ritter Hugo,
Er reitet dahin in heftigem Zoren,
Und stachelt die Mähr’ mit spitzigen Sporen.
Weil ihn betrogen die schändliche Maid,
Die ihre Ehre gar sehr verloren,
Drum reit’ er hin in heftigem Zoren.
Mit seinem langen großmächtigen Speer
Ersticht er die Maid, die ihre Ehr’ verloren,
Ersticht er sich selbst in heftigem Zoren.
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Es hat schon viele Propheten, große und kleine, gegeben, und manche derselben haben es zu einem unsterblichen Namen gebracht. Es gibt aber auch heutzutage noch Propheten, die um so eher diesen Namen verdienen, weil ihre Wahr- und Weissagungen in der Regel nicht eintreffen. Jeder derselben hat sein Lieblingsfach; der Eine prophezeit eine neue Religion, der Zweite eine neue Sündfluth und der Welt Untergang, der Dritte das tausendjährige Reich, der Vierte eine preußische Constitution, der Fünfte einen dramatischen Dichter, welcher Shakspeare, Schiller und Göthe ersetzen soll, der Sechste eine deutsche Flotte, der Siebente ein deutsches Buch ohne Druckfehler, der Achte einen durch die Tantiemen reich gewordenen deutschen Theaterdichter, der Neunte die Bewerkstelligung einer Luftdampfschifffahrt, wofür ja die drei Hauptfaktoren, nämlich Luft, Dampf und Schifffahrt schon seit Langem vorhanden sind, der Zehnte – – doch man müßte Bogen füllen, wollte man ein vollständiges Register aller modernen Propheten in ihren verschiedenen Abarten und Schattirungen geben. Von zweien derselben mag jedoch hier in leichten Umrissen ein Bild entworfen werden.
1) Der Kriegs- und Revolutionsprophet. Ein Mann von den gewagtesten Combinationen, der seit fünfzehn Jahren einen allgemeinen Weltkrieg von Monat zu Monat verkündet und, so oft er auch Lügen gestraft wurde, nicht müde wird, irgend einen Krieg oder eine Revolution für die nächsten acht Tage anzusagen. Er ist der unschuldigste und zahmste Mensch, der sich denken läßt. Er kann keinen Tropfen Blut fließen sehen, ohne zu schaudern, aber in der Vorstellung watet er durch das Blut von tausend hingeschlachteten Völkern, ohne auch nur die leiseste Anwandlung von Mitleid zu empfinden. Wenn seine Frau oder Köchin eine Taube schlachtet, so macht er eine Reise über Land, wenn sich sein jüngster Bube am Finger geritzt hat, so läuft er zum Wundarzt, vielleicht nur um die Blutstätte zu fliehen; wenn er ein Beefsteak bestellt, so befiehlt er ausdrücklich: nur nicht nach englischer Art, nur recht scharf gebraten! denn ein noch blutendes Beefsteak, der ächten Art, würde ihm Anwandlungen von Ohnmacht verursachen.
Welch ein Held ist er dagegen, wenn er bei dem Zuckerbäcker die Augsburger Zeitung vom neuesten Datum aus der Hand legt! Sein Gesicht flammt, sein Auge glüht, sein Hand ballt sich, wie zum Dreinschlagen. Selbst seine Stimme rollt und grollt unheimlich, wie die eines Löwen, der nach Menschenfleisch lüstern ist. Er bestellt ein Glas Rothwein; er hält es gegen das Licht; es hat die ächte Blutfarbe; das Licht spiegelt sich darin so prophetisch. Er denkt sich im Stillen: bestände doch die ganze Erdatmosphäre aus solcher Blutfarbe und die Sonne schiene so spukhaft hinein, wie dies Talglicht in das Glas! – Gewiß eine riesenhafte Vorstellung!
Noch ein Glas! und noch ein Glas! – Er glaubt Menschenblut zu schlürfen, und sein Durst wächst, je mehr er ihn zu stillen sucht.
„Habe ich es nicht vor acht Tagen gesagt!“ – mit diesen Worten wendet er sich zu dem Conditorlehrling, da gerade sonst kein Gast anwesend ist – „die Verhältniße zwischen Frankreich und England stehen auf dem Bruche. Da haben die Engländer wieder ein französisches Fahrzeug durchsucht. Das fatale Durchsuchungsrecht! Die französische Nation muß Genugtuung fordern; Guizot[WS 1] wird dem Verlangen der Nation nachgeben müssen, oder sein Ministerium ist geliefert. Er hat ohnehin wieder eine Stimme in der Deputirtenkammer verloren. Peel[WS 2] aber wird jede Genugthuung verweigern. Die Kriegserklärung kann nicht ausbleiben. Da haben wir die Bescheerung! Na, meinetwegen! ich wasche meine Hände in Unschuld!“
Der gute liebe Conditorjunge in seiner schneeweißen Jacke macht ein sehr gutes, aber auch sehr dummes Gesicht. „Es kann am Ende schon so weit kommen,“ murmelt der junge Mensch in seiner Verlegenheit.
[127] „Kann?“ fährt der Kriegsprophet auf. „Nein, muß! Und es kommt nicht, es ist schon gekommen. In Spanien rührt sich’s auch; in Griechenland spukts; in Mexiko ist der Teufel los, und in Deutschland – na, in Deutschland! Selbst in Deutschland ist es nicht ganz richtig, obgleich doch sonst bei uns Alles richtig ist. In Kropfstadt hat es bei der neuen Bürgermeisterwahl Unruhen gegeben; Fenster sind entzwei geworfen worden, Militär ist requirirt worden, man hat drei Schneidergesellen eingesteckt, – kurz, wohin man nur sieht, geschehen große Dinge und unerhörte Ereigniße.“
In dieser Weise haranguirt der Prophet einige Wochen lang täglich den Conditorjungen oder einen Kreis stiller Bewunderer, welche sich seit Jahren um den Kriegspropheten versammeln und nicht müde werden, die alten Kriegs- und Revolutionsmärchen mit anzuhören und immer wieder zu glauben. Unterdeß macht die Deputirtenkammer einigen Lärm; Guizot verwahrt sich; Peel verwahrt sich gegen die Verwahrung, und nachdem unter Verwahrungen, Drohungen und Artigkeiten ein Monat verstrichen, spricht von dem Vorfall Niemand mehr, selbst unser Kriegsprophet nicht. An dergleichen ist er gewöhnt, und schon hat sich für ihn an einer andern Stelle der politische Horizont wieder blutroth gefärbt.
„Ja,“ ruft er eines Abends, „das hab’ ich immer gesagt, der alte Mehemet Ali schläft nicht, auch wenn er sich stellt, er habe die Augen zu. Jetzt ist er gar in die Hamletrolle verfallen und spielt den von Cairo und zugleich vom Verstande Abwesenden vortrefflich. Warum thut er’s? Wir wollen sehen. Mit einem Male wird er losbrechen, und dann Gott Gnade dem Sultan! Und drauf was weiter? Fait accompli? Prosit Mahlzeit! Interventionen, Demonstrationen, endlich allgemeiner Krieg – das ist das Ende vom Liede.“
Oder: „Na, das sind mir schöne Geschichten! Texas endlich doch einverleibt! Hab’s immer gesagt, daß es so kommen mußte. Die Nordamerikaner stecken zuletzt ganz Amerika in den Sack. Tyrus ist gefallen, Karthago, Rom sind gefallen, Venedig, Genua, die Hansa, Portugal, Spanien, Holland haben ihre maritime Größe nach einander eingebüßt, denn das Meer ist treulos wie eine Katze, sage ich Ihnen, meine Herren! und wir Deutschen sollten Gott danken, daß wir mit der buhlerischen See kein Ehebündniß eingegangen sind – ja, was ich sagen wollte: England hat seinen höchsten Glanzpunkt erreicht, also muß es fallen, wenn es fallen muß, so muß es auch einen Krieg geben, wenn es einen Krieg geben muß, so muß eine Nation da seyn, mit welcher man Krieg führt, wenn es eine solche Nation geben muß, so muß und kann es nur das Volk der Nordamerikaner seyn, wenn es nur das Volk der Nordamerikaner seyn kann und muß, so kann es natürlich keine andere Nation seyn, wenn nun dies Alles geschehen muß, so muß es auch einen Augenblick der Krisis geben, und dieser Augenblick ist jetzt eingetreten. Meine Schlußfolge ist so logisch, daß dagegen gar nichts einzuwenden ist. Ich kann mich nicht verrechnen, denn ich verrechne mich nie. Und da ich mich nicht verrechnen kann, so gibt es einen Seekrieg. Frankreich wird mit Amerika, wir werden mit England seyn: folglich allgemeiner See- und Landkrieg. Nordamerika schlägt England zur See, wir schlagen Frankreich zu Lande; folglich sind Frankreich und England geliefert. Blut in Strömen wird’s freilich kosten; doch was Blut!“
Der Kriegsprophet setzt bei diesen Worten sein Glas Rothwein mit einem Feuer nieder, daß es zerbricht und ein Glassplitter ihm den kleinen Finger verletzt.
„Himmel Donnerwetter! Oh – oh – oh weh!“ schreit der Kriegsprophet in Verzweiflung, wickelt die verletzte Hand in sein Taschentuch, behauptet er werde wegen des Blutverlustes in Ohnmacht fallen, und läßt sich durch einen Fiaker nach Hause schaffen, weil ihm der Schreck in die Glieder gefahren ist und seine Füße in Folge davon zu schwach sind, ihn zu tragen.
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Homo Xantippus.
Tirannus dοmesticus (Ling. usitatiss.)
Familie der Contentiosen.
Zu Deutsch: Der Haustirann (auch Brummbär, Hauskreuz, Zankeisen, der Alte κατ’ ἐξοχὴν.)
Kennzeichen: Hat immer Recht und zuweilen Leberflecken, ersteres wenn er mit seiner Frau disputirt, letztere auch sonst.
Fundort: Immer bei wahren Engeln von Weibern, bei Weibern voll Sanftmuth und Herzensgüte und Nachgibigkeit, bei Weibern die nie widersprechen, und nie das letzte Wort haben müssen.
Die Haustirannen sind daher viel häufiger, als man gewöhnlich glaubt, nur fallen sie nicht so auf, weil die Tugenden der Frauen sie decken.
Zweck: Den Frauen Veranlassung geben, ihre herrlichen Tugenden zu entfalten und in’s hellste Licht setzen zu können – überhaupt das Leben durch Gegensätze zu verschönern, wie das Licht durch Schatten gehoben wird.
München, Verlag von Braun & Schneider. – Papier und Druck von Fr. Pustet in Regensburg.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ François Guizot (1778–1874) war im Jahre 1845 französischer Außenminister.
- ↑ Robert Peel (1788–1850) war im Jahre 1845 Premierminister des Vereinigten Königreiches Großbritannien und Irland