Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Passionskapitel 03
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3. Die untergeordneten Persönlichkeiten in der Leidensgeschichte JEsu.
IN der Passionsgeschichte ist uns das Bild unsers HErrn JEsu Christi vor die Augen gemalt. Eine Menge der bedeutungsvollsten und großartigsten Züge Seines Angesichtes liegen in der Darstellung der Evangelisten zu Tage, und es ist nur die Größe und Fülle dieses Charakters (man scheut sich aber fast, von einem „Charakter JEsu“ zu reden), was uns beschränkte Leute hindert, von dem HErrn uns ein so abgegrenztes Bild in die Seele zu prägen, wie es uns von andern Personen leicht gelingt. So wenig ein Maler| ein Bild des HErrn auf die Leinwand malen kann, das auch nur annahend Ihm zugeeignet werden könnte, eben so wenig gelingt es der Malerin in uns, der Einbildungskraft, eine würdige Anschauung der Person JEsu in uns zu erzeugen. Anders ist es mit den übrigen biblischen Persönlichkeiten. Dieselbe göttliche Feder, welche sich in der Darstellung JEsu so wunderbar bewährt, erweist sich auch in der Charakterzeichnung der andern Persönlichkeiten, welche mit JEsu lebten, in göttlicher Ueberlegenheit. Wir sind vom Sehen blind, darum bemerken wir das nicht; aber es ist doch so, und es ist eine große Genüge, den heiligen Geist und Seine Organe auch in diesem Stück bewundern zu dürfen. − Was macht man doch gewöhnlich aus den heiligen Aposteln! „Idioten, ungelehrte Leute,“ aber gar nicht in dem Sinn, wie einmal (A. Gesch. 4, 13.) dieß Wort von ihnen in der heiligen Schrift gebraucht ist, sondern in einem ganz andern Sinn. Die Männer, welchen unbestreitbar unter allen Sterblichen der größte und mit unermeßlichen Erfolgen gekrönte Lebensberuf oblag, − welche von Gott von allem Anfang an erlesen und bereitet, von Christo aus allen Juden ausgewählt und von dem heiligen Geiste durch Gabe, Gnade und Bildung über alle Menschen, die je lebten, erhoben wurden, − diese Männer nennt man gern Fischer, Zöllner, Teppichweber, nicht um den Abstand ihrer früheren Berufsart und Bildungsstufe von der späteren zu bewundern; sondern mit einem Seitenblick voll Geringschätzung auf ihre natürliche Begabung. Man will sagen, der HErr habe Sich Leute auserwählt, welche sich vermöge dieser Begabung wohl zu Fischern, Zöllnern und Teppichwebern, aber nicht zu Seinen Vertretern unter der Menschheit geeignet hätten. Allein die außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes stehen doch zu den natürlichen Gaben der Apostel nicht in einem so mächtigen Gegensatz wie etwa wunderbarer Weise die Sprachengabe in Bileams Geschichte zur thierischen Natur der Eselin. Auch bediente Sich der heilige Geist der Apostel nicht so, wie etwa der Satan sich eines menschlichen Leibes im Zustand der Beseßenheit bedient. Hier ist alles göttlich und menschlich zugleich, und die, welche die ewige Liebe zu ihren größten Herolden und zu den weisesten Pflegern der Gemeinden ausersehen hatte, konnten, das durfte vornherein vermuthet werden, keine andere, als eine solche natürliche Begabung haben, durch welche sie zu würdigen Trägern und Verwaltern der wunderbaren, außerordentlichen Gaben und des größten Lebensberufes werden könnten. Denn der heilige Geist ist ja ein Schöpfer der natürlichen Gaben und hebt durch Seine Wirkung im Gnadenreich das nicht auf, was Er im Reich der Natur und Schöpfung gegeben. Er hebt nicht auf, was Er geschaffen hat; sondern Er hebt es nur empor, läutert, stärkt, vollendet es. Er macht nicht durch die Gnade andere Leute aus denen, die Er geschaffen hat; sondern Er heiligt in ihnen, was Er ihnen angeschaffen hat und was ihnen angeboren ist. Mögen sie durch Seine Gnade noch so verändert erscheinen, sie sind doch der Anlage nach dieselben Creaturen. So sind die Apostel groß und hehr nach Pfingsten, aber es muß auch, daß so etwas aus ihnen würde, eine große und hehre natürliche Anlage in ihnen gewesen sein. Und in der That, so erscheinen sie auch im Neuen Testamente, und was alles man aus dem Neuen Testamente selbst und aus dem Munde JEsu Gegentheiliges anführen mag, es widerspricht am Ende nicht, sondern es beweist nur, daß die heiligen Apostel auch in der Schule JEsu unvollkommene Menschen blieben, wie das ja nicht anders sein konnte. Man sehe einmal die Charakterzeichnungen eines Johannes, Petrus, Thomas − später eines Paulus: sind sie nicht in der ganzen Kirche anerkannt, hat man in ihnen nicht herrliche Grundformen der menschlichen Begabung überhaupt, des gesammten menschlichen Seins und Lebens erkannt? Redet man nicht von Johannes-Seelen, von paulinischen und petrinischen Seelen? Und ist es nicht eben so mit den weiblichen Charakteren namentlich des Neuen Testamentes? Man redet von Marien-, von Magdalenen-, von Martha-Seelen, und will doch auch damit nichts anders sagen, als daß man in den Frauen des Neuen Testamentes Vorbilder, ja fast Urbilder weiblicher Begabung und Vollendung erkenne. Mit alle dem gibt die ganze Welt den heiligen Schriftstellern nur das Zeugnis vollendeter Charakterzeichnung, Gott aber die Ehre, daß Er um die hohe Majestät Seines menschgewordenen Sohnes her Seiner würdig begabte Menschen erweckt habe. Es ist hier im Großen und im höheren Maße, was man auch sonst in der Geschichte findet. Um Moses her wachsen Aaron und Mirjam empor, um David her seiner würdige Verwandte. So blüht und grünt es zur Zeit unsers HErrn am galiläischen Meere von Fischern und Zöllnern, die| tüchtig sind, Menschenfischer zu werden; ja, in dem Galiläa der Heiden wurden in jenen Tagen die an Geist und Gemüth hochbegabtesten aller Männer und Frauen geboren. Wem das zu viel gesagt, zu hoch gesprochen ist, der schaue prüfend in die Leidensgeschichte und laße die Darstellungen der heiligen Schriftsteller einfach auf sich wirken: bald wird er merken, daß ihm lauter Menschen von bedeutenden Kräften und Gaben und Charakteren begegnen. Er wird noch mehr merken als das. Den großen Heiligen jener Zeiten stehen ausgezeichnete, ausgeprägte Beispiele der Bosheit gegenüber, und wie sich alle Herrlichkeit heiliger Gemüther in JEsu Freunden offenbart, so spiegelt sich aller Welt Bosheit und Irrwahn, Leidenschaft und Satansknechtschaft in den Feinden JEsu. Was für Charaktere sind dieser Kaiphas, dieser Judas, was für ein Charakter der Charakterlosigkeit und Verlorenheit ist dieser Pilatus! − Man hat zuweilen gefragt, ob man bei Betrachtung der Leidensgeschichte auf andere Personen als auf JEsum sehen solle; allein die Frage ist leicht beantwortet. Wir sollen auf alles achten, was uns der Geist des HErrn hat aufzeichnen laßen, also auch auf die verschiedenen Personen der Leidensgeschichte. Ohne sie gab es keine Passion, keine Passionsgeschichte; ohne daß wir sie erkennen, erkennen wir den HErrn nicht, der alles, was Er gewesen und geworden, gethan und gelitten hat, im Zusammenhang mit Seinen Freunden und im Gegensatz zu Seinen Feinden gewesen und geworden ist, gethan und gelitten hat. Ihn anschauen macht uns klein und anbetend, die andern Menschen Seiner Zeit, namentlich Seiner letzten Zeit betrachten reizt uns theils zur Buße, theils zum getrosten Glauben. Denn in Seinen Feinden erkennen wir nur die Vollendung desselben Bösen, das in uns schlummert und das uns quält; und in Seinen Freunden sehen wir Beispiele Seiner lockenden, anziehenden und erziehenden Huld und Gnade, − Beispiele, die auch uns Muth machen, auf Ihn zu hoffen, und uns gläubig an Den zu halten, vor deßen Leidensmajestät und Schöne wir im Staube liegen und rufen: „Lob sei Dir ewig, o JEsu!“
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