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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ein Bild des HErrn auf die Leinwand malen kann, das auch nur annahend Ihm zugeeignet werden könnte, eben so wenig gelingt es der Malerin in uns, der Einbildungskraft, eine würdige Anschauung der Person JEsu in uns zu erzeugen. Anders ist es mit den übrigen biblischen Persönlichkeiten. Dieselbe göttliche Feder, welche sich in der Darstellung JEsu so wunderbar bewährt, erweist sich auch in der Charakterzeichnung der andern Persönlichkeiten, welche mit JEsu lebten, in göttlicher Ueberlegenheit. Wir sind vom Sehen blind, darum bemerken wir das nicht; aber es ist doch so, und es ist eine große Genüge, den heiligen Geist und Seine Organe auch in diesem Stück bewundern zu dürfen. − Was macht man doch gewöhnlich aus den heiligen Aposteln! „Idioten, ungelehrte Leute,“ aber gar nicht in dem Sinn, wie einmal (A. Gesch. 4, 13.) dieß Wort von ihnen in der heiligen Schrift gebraucht ist, sondern in einem ganz andern Sinn. Die Männer, welchen unbestreitbar unter allen Sterblichen der größte und mit unermeßlichen Erfolgen gekrönte Lebensberuf oblag, − welche von Gott von allem Anfang an erlesen und bereitet, von Christo aus allen Juden ausgewählt und von dem heiligen Geiste durch Gabe, Gnade und Bildung über alle Menschen, die je lebten, erhoben wurden, − diese Männer nennt man gern Fischer, Zöllner, Teppichweber, nicht um den Abstand ihrer früheren Berufsart und Bildungsstufe von der späteren zu bewundern; sondern mit einem Seitenblick voll Geringschätzung auf ihre natürliche Begabung. Man will sagen, der HErr habe Sich Leute auserwählt, welche sich vermöge dieser Begabung wohl zu Fischern, Zöllnern und Teppichwebern, aber nicht zu Seinen Vertretern unter der Menschheit geeignet hätten. Allein die außerordentlichen Gaben des heiligen Geistes stehen doch zu den natürlichen Gaben der Apostel nicht in einem so mächtigen Gegensatz wie etwa wunderbarer Weise die Sprachengabe in Bileams Geschichte zur thierischen Natur der Eselin. Auch bediente Sich der heilige Geist der Apostel nicht so, wie etwa der Satan sich eines menschlichen Leibes im Zustand der Beseßenheit bedient. Hier ist alles göttlich und menschlich zugleich, und die, welche die ewige Liebe zu ihren größten Herolden und zu den weisesten Pflegern der Gemeinden ausersehen hatte, konnten, das durfte vornherein vermuthet werden, keine andere, als eine solche natürliche Begabung haben, durch welche sie zu würdigen Trägern und Verwaltern der wunderbaren, außerordentlichen Gaben und des größten Lebensberufes werden könnten. Denn der heilige Geist ist ja ein Schöpfer der natürlichen Gaben und hebt durch Seine Wirkung im Gnadenreich das nicht auf, was Er im Reich der Natur und Schöpfung gegeben. Er hebt nicht auf, was Er geschaffen hat; sondern Er hebt es nur empor, läutert, stärkt, vollendet es. Er macht nicht durch die Gnade andere Leute aus denen, die Er geschaffen hat; sondern Er heiligt in ihnen, was Er ihnen angeschaffen hat und was ihnen angeboren ist. Mögen sie durch Seine Gnade noch so verändert erscheinen, sie sind doch der Anlage nach dieselben Creaturen. So sind die Apostel groß und hehr nach Pfingsten, aber es muß auch, daß so etwas aus ihnen würde, eine große und hehre natürliche Anlage in ihnen gewesen sein. Und in der That, so erscheinen sie auch im Neuen Testamente, und was alles man aus dem Neuen Testamente selbst und aus dem Munde JEsu Gegentheiliges anführen mag, es widerspricht am Ende nicht, sondern es beweist nur, daß die heiligen Apostel auch in der Schule JEsu unvollkommene Menschen blieben, wie das ja nicht anders sein konnte. Man sehe einmal die Charakterzeichnungen eines Johannes, Petrus, Thomas − später eines Paulus: sind sie nicht in der ganzen Kirche anerkannt, hat man in ihnen nicht herrliche Grundformen der menschlichen Begabung überhaupt, des gesammten menschlichen Seins und Lebens erkannt? Redet man nicht von Johannes-Seelen, von paulinischen und petrinischen Seelen? Und ist es nicht eben so mit den weiblichen Charakteren namentlich des Neuen Testamentes? Man redet von Marien-, von Magdalenen-, von Martha-Seelen, und will doch auch damit nichts anders sagen, als daß man in den Frauen des Neuen Testamentes Vorbilder, ja fast Urbilder weiblicher Begabung und Vollendung erkenne. Mit alle dem gibt die ganze Welt den heiligen Schriftstellern nur das Zeugnis vollendeter Charakterzeichnung, Gott aber die Ehre, daß Er um die hohe Majestät Seines menschgewordenen Sohnes her Seiner würdig begabte Menschen erweckt habe. Es ist hier im Großen und im höheren Maße, was man auch sonst in der Geschichte findet. Um Moses her wachsen Aaron und Mirjam empor, um David her seiner würdige Verwandte. So blüht und grünt es zur Zeit unsers HErrn am galiläischen Meere von Fischern und Zöllnern, die

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/303&oldid=- (Version vom 8.8.2016)