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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

tüchtig sind, Menschenfischer zu werden; ja, in dem Galiläa der Heiden wurden in jenen Tagen die an Geist und Gemüth hochbegabtesten aller Männer und Frauen geboren. Wem das zu viel gesagt, zu hoch gesprochen ist, der schaue prüfend in die Leidensgeschichte und laße die Darstellungen der heiligen Schriftsteller einfach auf sich wirken: bald wird er merken, daß ihm lauter Menschen von bedeutenden Kräften und Gaben und Charakteren begegnen. Er wird noch mehr merken als das. Den großen Heiligen jener Zeiten stehen ausgezeichnete, ausgeprägte Beispiele der Bosheit gegenüber, und wie sich alle Herrlichkeit heiliger Gemüther in JEsu Freunden offenbart, so spiegelt sich aller Welt Bosheit und Irrwahn, Leidenschaft und Satansknechtschaft in den Feinden JEsu. Was für Charaktere sind dieser Kaiphas, dieser Judas, was für ein Charakter der Charakterlosigkeit und Verlorenheit ist dieser Pilatus! − Man hat zuweilen gefragt, ob man bei Betrachtung der Leidensgeschichte auf andere Personen als auf JEsum sehen solle; allein die Frage ist leicht beantwortet. Wir sollen auf alles achten, was uns der Geist des HErrn hat aufzeichnen laßen, also auch auf die verschiedenen Personen der Leidensgeschichte. Ohne sie gab es keine Passion, keine Passionsgeschichte; ohne daß wir sie erkennen, erkennen wir den HErrn nicht, der alles, was Er gewesen und geworden, gethan und gelitten hat, im Zusammenhang mit Seinen Freunden und im Gegensatz zu Seinen Feinden gewesen und geworden ist, gethan und gelitten hat. Ihn anschauen macht uns klein und anbetend, die andern Menschen Seiner Zeit, namentlich Seiner letzten Zeit betrachten reizt uns theils zur Buße, theils zum getrosten Glauben. Denn in Seinen Feinden erkennen wir nur die Vollendung desselben Bösen, das in uns schlummert und das uns quält; und in Seinen Freunden sehen wir Beispiele Seiner lockenden, anziehenden und erziehenden Huld und Gnade, − Beispiele, die auch uns Muth machen, auf Ihn zu hoffen, und uns gläubig an Den zu halten, vor deßen Leidensmajestät und Schöne wir im Staube liegen und rufen: „Lob sei Dir ewig, o JEsu!“




4. Judä Vertrag.
Matth. 26, 1–16.

 AM Dienstag der Leidenswoche legte der HErr Sein Lehramt nieder. Wie Er vom Sonntag bis zum Dienstag geredet hatte, wie Er strafend zum Beschluß Seines Lehramtes wie vor Jahren zum Beginn desselben den Tempel gereinigt, wie Er segnend und erbarmend viele Kranke gesund gemacht hatte, das alles ist einem aufmerksamen Bibelleser bekannt. Eine jede Seiner letzten Reden war mit Schwertesgewalt in die Seelen gefahren; so, in der Weise, mit dem Ansehen, mit der alles überwindenden Macht hatte Er zuvor nie geredet. Und nun dazu das Andenken an die Geißel − und das Lob, der Dank aller der Geheilten! Die letzten Prophetentage des HErrn mußten in der That auf die bereits zum Osterfest versammelte Menge einen gewaltigen Eindruck gemacht haben. Die schon durch die Auferweckung Lazari und den herrlichen Einzug am Palmensonntag mächtig angefachte Verehrung des Volkes mußte durch die prophetischen, feierlichen, ernsten Reden JEsu und durch Sein wunderbares Walten auf den höchsten Gipfel gestiegen sein. Zwar war Er nun am Mittwoch nicht wieder gekommen; aber konnten die Hohenpriester wißen, ob Er nicht noch kam? Wenn Er so, wie an den ersten Tagen der Woche, fortlehrte und fortwirkte: stand für sie nicht alles auf dem Spiel? Er hatte es doch gar keinen Hehl, wie gar nicht Er es mit der herrschenden Partei hielt; Seine Reden waren oft gradezu gegen dieselbe gerichtet; im Tempel benahm Er Sich wie der Hausherr, auf die Einsprachen der Hohenpriester und Schriftgelehrten achtete Er nicht, und alles, was Er vor dem Volke zu und von ihnen sprach, war wie wenn nun all ihr Ansehen untergraben, all ihre Herrlichkeit in den Staub gelegt werden sollte. So konnte es nicht fortgehen. Gleiches mit Gleichem konnten sie Ihm nicht vergelten; sie waren keine Propheten, wo sollten sie Reden und Thaten hernehmen, welche den Seinigen glichen: da standen sie bettelarm. Und doch mußte etwas geschehen: es hilft nichts, sie müßen thun, was sie können, − und haben

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/304&oldid=- (Version vom 8.8.2016)