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Am Sonntage Estomihi.

Evang. Luc. 18, 31–43.
31. Er nahm aber zu Sich die Zwölfe, und sprach zu ihnen: Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn. 32. Denn Er wird überantwortet werden den Heiden; und Er wird verspottet, und geschmähet, und verspeiet werden; 33. Und sie werden Ihn geißeln und tödten; und am dritten Tage wird Er wieder auferstehen. 34. Sie aber vernahmen deren keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wußten nicht, was das gesagt war. 35. Es geschah aber, da Er nahe zu Jericho kam, saß ein Blinder am Wege, und bettelte. 36. Da er aber hörete das Volk, das durchhin gieng, forschete er, was das wäre. 37. Da verkündigten sie ihm, JEsus von Nazareth gienge vorüber. 38. Und er rief und sprach: JEsu, Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner! 39. Die aber vorne an giengen, bedroheten ihn, er sollte schweigen. Er aber schrie vielmehr: Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner! 40. JEsus aber stand stille, und hieß ihn zu Sich führen. Da sie ihn aber nahe bei Ihn brachten, fragte Er ihn, 41. Und sprach: Was willst du, daß Ich dir thun soll? Er sprach: HErr, daß ich sehen möge. 42. Und JEsus sprach zu ihm: Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen. 43. Und alsobald ward er sehend, und folgte Ihm nach, und preisete Gott. Und alles Volk, das solches sahe, lobete Gott.

 LIcht für die Seelen, Licht für den Leib bietet unser HErr nach dieser Lection. Denn Licht für die Seele ist doch das Evangelium Seiner Leiden, welches Er selbst mit den bestimmtesten Worten predigt, und Licht für den Leib gibt Er dem Blinden bei Jericho. Das Seelenlicht findet aber nach unserm Texte schwereren Eingang, als das leibliche Licht. Jenes wird ungesucht dargeboten und doch nur mit Befremden und Traurigkeit gesehen; dieses hingegen wird von dem Blinden bei Jericho so eifrig und sehnsüchtig erbeten, daß er mit seinem leiblichen Bedürfnis zu einem Muster und Beispiel für alle lichtbedürftigen Seelen geworden ist. So wie er das leibliche Licht gesucht und erbeten hat, sollte man das Licht der Seelen suchen. Diese einfachen Gedanken laßet uns miteinander näher beschauen.


 Mitten in Seinem Siegeslaufe, da Wunder auf Wunder von Ihm ausgeht wie Waßer von der Quelle, hält der HErr nach unserm Evangelium inne und verkündigt Seine Leiden. Und diese Leidensverkündigung mitten unter Wundern lesen wir heute am Sonntag vor der Fasten. Gesegnet seien die väterlichen Hände unserer Alten, die uns einen so schönen und völlig paßenden Text für diesen Sonntag ausgewählt haben! Möge der Text, durch deßen Lesen und Betrachten wir mit ihnen, wie durch viel anderes, in eine „Gemeinschaft der Heiligen“ treten, unsern Seelen gesegnet sein! Mögen wir, durch ihn vorbereitet, in die selige Gedächtniszeit der Leiden JEsu eingehen und die Liebe Gottes in Christo JEsu in unsre Herzen ausgegoßen werden!

 Die Leidensverkündigung JEsu ist des evangelischen Predigtamtes Inhalt − allezeit, besonders in der nun kommenden Gedächtniszeit der Leiden. Sie ist an Würde über alle Wunder erhaben, denn sie zu beglaubigen, sind alle Wunder geschehen. Heilsamer als alle Wunder, deren Gedächtnis aufbewahrt ist, ist sie, denn sie heilet die Seele und mittelbar auch| den Leib, während die Wunder nur Wirkungen Gottes im Bereiche des zeitlichen Lebens sind. Die Erde wäre ein trostloses Jammerthal, wenn dieß Evangelium nicht wäre. Es gäbe ohne dasselbe auf Erden keinen Weg zum ewigen Heil, sondern das Leben wäre eine unwegsame Wüste, von allen Seiten und in allen Richtungen von ewiger Verdammnis umgrenzt. Die Hölle wäre das unvermeidliche Ziel und Ende aller Menschen, aller Seelen und Leiber ewiger Aufenthalt. Der Himmel über uns und alles, was wir von ihm wißen oder sagen, wäre ohne die Botschaft von den Leiden JEsu eine trügerische Verheißung, ein Ziel, nach dem wir fruchtlos seufzen müßten von Ewigkeit zu Ewigkeit.

 Die Leidensverkündigung JEsu geht in unserm Evangelio in die Verkündigung Seiner Auferstehung über. In diesem Zusammenhang ist sie das Lied des neuen Bundes, ja das neue Lied der Ewigkeit geworden. Eine bloße Leidensverkündigung, welche sich nicht mit Sieges- und Triumphgeschrei schlöße, nicht in ein Danklied von Ueberwindung des Todes übergienge: wie könnte sie freudebringend oder gar seligmachend sein? Die Leiden des HErrn sind Vorboten ewiger Freuden, wie der Kampf ein Vorbote und Wegbahner des Sieges ist. Aus dem Siege versteht man den Kampf, aus dem Osterhalleluja das viele Geschrei und die Thränen des leidenden JEsus. Seitdem die Leidensverkündigung nicht mehr Weißagung zukünftiger, sondern Preis überstandener Leiden geworden ist, ist sie selbst eine Freudenbotschaft, weil ihr Inhalt von dem Gedächtnis der seligsten Ueberwindung des HErrn unzertrennlich ist und diese niemals, auch wenn wir von ihr schweigen, neben Seinem großen Kampfe in Vergeßenheit gerathen kann.

 Bei alle dem habe ich bereits vorausgesetzt, was ich nun mit herzlicher Freude ausdrücklich dazu setze. Die Leiden des HErrn sind unsre Strafen und Seine Auferstehung ist der Beweis, daß Er ins Meer unsrer Strafen hinabgestiegen, aber in seinen wallenden, brausenden Wogen nicht untergegangen ist, sondern Frieden hergestellt hat. Er hat gesiegt und in Ihm wir. Was Er gewonnen, haben wir gewonnen, denn wir habens zu genießen und nur für uns hat Ers gewonnen, da Er der ewigen Freuden Fülle ohnehin schon besaß. Für uns hat Er gearbeitet und erworben, gekämpft und gesiegt − und wie kann es also anders sein, als daß Er aus Liebe die Arbeit und den Kampf übernommen und zu unserer Befreiung von allem Uebel der Ewigkeit ihn vollendet hat. Als ein Werk von uns völlig unverdienter heiliger Liebe und Erbarmung müßen wir die Leiden des HErrn ansehen, demnach auch Seine Leidensverkündigung als nichts anderes denn als ein Wort unverdienter Liebe, als eine Erklärung der erbarmungsvollsten Zuneigung und freiesten, unbeschränktesten Hingebung zu unserm Heil.


 Die Worte dieser Leidensverkündigung sind leicht und schön; man sollte meinen, sie seien den Herzen der Jünger eingegangen sanft und angenehm wie Oel. Und doch waren sie ihnen ein Geheimnis. Erinnern wir uns nur wieder an die nicht völlig lautern Messiashoffnungen der Jünger und aller Juden. Im allgemeinen erwarteten sie einen Helfer und Erlöser; aber insbesondere gestalteten sich ihre Hoffnungen von ihm und seiner Hilfe so gar verschieden. Fleischlicher, geistlicher − menschlicher, göttlicher, je nach der eigenen Gesinnung und Beschaffenheit dachten sie sich das Bild des kommenden Erlösers. Indes so mancherlei auch ihre Hoffnungen waren, keine von allen war der Weißagung völlig getreu, keine stieg in die Tiefen der Verheißung hinab, keine hinauf in ihre Höhen. Obwohl geweißagt, erschien dennoch die Menschwerdung als etwas völlig neues, und ein Gottmensch wurde als Messias von den Juden nicht erwartet. Obwohl zuvor verkündigt, war ein leidender, sterbender, durch Unterliegen zum Siege dringender Messias, ein Gotteslamm, das der Welt Sünde trüge, dennoch etwas Unerwartetes. Darum redete auch unser HErr vor Seinen Jüngern von Seinem Leiden, als vor tauben Ohren. Eher noch Seine ewige Abkunft, Seine ewige Gotteskindschaft und Herrlichkeit hatten sie in den drei Jahren ihres Lernens zu Seinen Füßen gefaßt, als Sein zukünftiges Leiden. So hatten sie nicht gemeint, das klang ihnen fremd und widerstand ihrem Sinn. Gleich dem Täufer wollten sie nicht noch tiefer in die Erniedrigung, sondern von der Ebene des bisherigen Lebens bergan zu dem Gipfel der Erhöhung ihres Christus steigen. Sie erwarteten das um so mehr, als sie ja viel länger dem Thun des HErrn zugesehen hatten, an dem sich schon Johannes geärgert hatte. Und eben damit, mit ihren jüdischen Vorurtheilen, brachten sie| sich um die Fähigkeit, die Leidensverkündigung des HErrn zu verstehen. Vor lauter Verstand der hergebrachten Vorurtheile, vor großer Vertiefung in dieselben hinein vermochten sie nicht die Weisheit Christi zu verstehen, die zwar mit Knechtsgestalt der Leiden begann, aber mit der Klarheit Seiner Auferstehung schloß. Ach hätten sie einfältig, wie es Schülern geziemte, wenn ein göttlicher Lehrer sprach, auf Sein Wort gehorcht, so hätten sie den Anfang und das Ende vernommen, nicht über dem trüben Anfang das helle Licht des Schlußes übersehen: die Botschaft hätte ihnen dann, wenn auch befremdlich, doch unmöglich so traurig sein können, als sie es ihnen wirklich war. Mangel an Einfalt, Nebel der Vorurtheile brachte sie um die Erkenntnis, welche der HErr durch Seine Leidensverkündigung in ihnen bewirken wollte. Da sie die Erkenntnis nicht zuließen, genoßen sie auch nicht der Ruhe, welche in ihr lag. Darum kam in Seinen Leidenstagen die Unruhe über sie und ein heulendes Weh erfaßte ihr Herz, als nun geschah, was der HErr vorausgesagt hatte, als Er ans Kreuz stieg und hinab ins Grab. Das Wort, welches ihre Leuchte in dieser Dunkelheit hätte sein sollen und können, war nun für sie vergeblich gesprochen, wenigstens was deßen nächste, eigentlichste Absicht betraf. Sie sahen die Kreuzigung nicht als Verklärung und Bewährung Seines wahrhaftigen Wortes, und die Verheißung der Auferstehung milderte ihr Weh nicht, stimmte sie nicht zur Hoffnung eines verherrlichten Wiedersehens JEsu. Kurz, die für die Einfalt kinderleichten Worte JEsu von Seinem Leiden waren für die vorurtheilsblinden Jünger ein Geheimnis unter sieben Siegeln.

 So gieng es bei den Jüngern, und freilich, bei uns sollte es anders gehen. Die Leidensverkündigung geht bei uns nicht dem Leiden vorher, sondern nach, ist nicht ein Strahl, welcher auf das Kreuz fällt, sondern einer, der vom Kreuze ausgeht. Des HErrn Leiden, Sterben, Auferstehen ist bei uns vollendete Thatsache. Seine Liebesabsicht und Liebesmacht, das Heilsame Seiner Leiden ist ganz offenbar geworden. Seit achtzehn hundert Jahren reden wir davon, erfahren wir daran, und zahllose Menschen sind darauf gestorben und selig worden, haben Ruhe im Leben und Sterben darin gefunden. Und dennoch ists wahr, daß auch in unsrer Zeit die einfachste, friedenvollste, seligste Botschaft für viele keinen Sinn hat, keinen Segen abwirft. Noch sind die Vorurtheile nicht verschwunden und ausgestorben, welche das Auge, das sonnenhaft sein sollte, blind und unempfänglich machen für die Herrlichkeit der Leiden JEsu. Sind es nicht die alten, welche die Jünger hatten, so sind es andere, − wie viel schlechtere oder beßere, das ist nicht der Untersuchung werth, da sie uns doch einmal der wahrhaftigen Erkenntnis, des Friedens und Trostes berauben. Prüfe dich wohl, mein Herz, wie nahe dich dieß Wort von den Vorurtheilen angeht! Warum siehst du deines leidenden Heilandes Herrlichkeit nicht? Ists, daß du Sein nicht zu bedürfen meinst, ists, daß du dich Seiner unwerth erkennst und dich die Erkenntnis deiner Unwürdigkeit von Ihm wegdrängt? Oder was ist es? Seis was es sei, − ein falsches Urtheil, ein vorschnell Urtheil, ein schädlich Vorurtheil deines blinden Auges liegt zu Grunde. Du solltest alles vergeßen und in den Himmel Seiner Liebe einfach schauen, ins Licht Seines Wortes vom Kreuze deine Augen tauchen, auf daß sie durch dieß Licht erstarkten für das ewige Schauen und durch Erkenntnis des Kreuzes und Seiner verborgenen Herrlichkeit fähig würden für die unverhüllte Pracht Seines Angesichtes, wenn wir Ihn nun schauen werden wie Er ist. −


 Aber ach des Menschen Unglück vom Anfang der Sünde her ist, daß er blind ist an Aug und Herz. Ja wir sind blind. Wie unser leibliches Auge Gott nicht schaut, findet auch unser Geist den Allgegenwärtigen nicht mehr − wie das Auge, mit dem Auge ist das Ohr und aller Sinn für Ihn erstorben. Es ist von unsrem Sehen bis zur Blindheit des Blinden bei Jericho kein so gar weiter Schritt; jede leibliche Blindheit gründet tiefer und ist nur ein Theilchen jener allgemeinen Blindheit, die unser ganzes Wesen gefangen hält. Daher kommt es auch, daß beide so viel gemein haben, daß der leiblich Blinde ein so treffendes Bild des geistlich Blinden ist und seine Heilung im Evangelio eine so lichte Wegvorzeichnung zur Heilung blinder Seelen; ja daher kommt es auch, daß so gar nicht bloß zufällig, sondern wie von Gott gewollt und nahe gelegt, Gedanken, wie die nachfolgenden sind, aus unserm Texte entnommen werden.

 Blind am Geiste, so wie er ist, ist der Mensch doch mit seinem Zustand nicht zufriedener als der Blinde| bei Jericho. Beiden ist eine Kunde verliehen, daß sie sehen sollten. Ein blindes Auge, ein blinder Geist sind beides Widersprüche. Aug und Geist sind geschaffen zum Sehen und Schauen: wie wäre es möglich, daß ein Blinder am Auge oder am Geiste zufrieden und ohne Verlangen nach Hilfe sein könnte? Möge nur der blinde Geist den Weg zum Lichte so sicher finden, wie der leiblich Blinde von Jericho ihn zum leiblichen Lichte fand. Licht für Seelenaugen findet man nur bei Dem, der allein Licht ist und Licht gibt für Leib und Seele; der dem Blinden bei Jericho das Auge öffnet, kann auch der Seele himmlisches Licht einflößen, wenn Er Sein Angesicht über ihr leuchten läßt. Der sich blind fühlt und elend, bettele darum doch ja nirgends anders als bei Jericho, wo der HErr vorübergeht, und von keinem andern, als allein von Ihm. − „Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ So betet der Blinde von Jericho. Er ist ein Meister des Gebetes für alle, die Licht und Auge begehren. Laßt uns zum Blinden in die Schule gehen und ihm nachbeten. Davids Sohn ist der Blinden Hilfe; nach Ihm strecken sie die Hände aus, ehe sie Ihn sehen, auf daß sie sehend werden und alsdann alles in Seinem Lichte sehen. Der Sohn Davids ist nicht wie andre Menschensöhne, die helfen wollen aber nicht können. Er will, denn Er hat ein menschlich Herz, durch welches Er unsre Leiden mitfühlt, − und Er hat zugleich ein göttlich Herz, durch welches Sein menschliches Erbarmen göttliche Kraft anzieht zu helfen. Er ist alleine Gottmensch, darum kann und will Er helfen. Wie Er ein Mittler ist zwischen Gott und Menschen, so vermittelt Er uns jede gute Gabe und jede vollkommene Gabe von dem Vater des Lichtes her. Darum bleibe es dabei: wir beten zum Sohne Davids und rufen Sein Erbarmen an, wenn uns Licht und Auge mangelt.

 Laßt uns aufmerken, wenn Er vorübergeht, und dann wollen wir die Stimmen aufheben und rufen: „Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ Wenn Er kommt und vorübergeht, so merken wirs an Seiner Begleitung. Wenn Seiner Jünger und Boten Füße rauschen und zugleich die Füße derer, die mit Ihm gehen, um Sein Wort zu hören, da wollen wir fragen. Und wenn wir zu blind und zu taub sind, die Stimmen und Füße Seiner Begleitung von andern Füßen und Stimmen zu unterscheiden; so − wollen wir nur immer, wenn wir Füße und Stimmen vernehmen, fragen, wer vorübergeht, und wenn uns die Antwort wird: „JEsus von Nazareth geht vorüber“ − dann laßt uns rufen. Wo die sind, die von Ihm sagen, von Ihm singen, Ihm nachwandeln und nachtrachten, da ist Er. Er geht nicht allein, Er ist bei den Seinigen. Unter den Versammlungen und Lobgesängen Seiner Kirche ist Er zu finden; ihnen schließe man sich an, wandle mit und rufe Ihn an: die Antwort bleibt sicher nicht aus.

 Man bete in den Versammlungen des HErrn, unter denen Er vorübergeht auf Erden, man bete und laße nicht ab, auch wenn die Begleiter des HErrn das Schreien der Beter wehren wollen und sich von demselben belästigt erklären. Seine Begleiter sind nicht wie Er, Seine Gemeine ist nur ein Bild von Ihm und reift Ihm und Seiner völligeren Aehnlichkeit erst entgegen. Er ist vollkommen, auch im Erbarmen: Seine Gemeine wird es erst. Die Jünger wehrten dem Blinden und den Kindlein, aber sie trafen damit beide Male Seinen Sinn nicht. Darum wenn du deine Finsternis merkst, wenn du sehend werden willst und Licht bedarfst, so rufe getrost und schone die Jünger und ihre Ohren nicht. In dem Stück sah der Blinde richtiger als die sehenden Jünger: ihm weißagte eine innere Zuversicht, daß der HErr hilft, wenn ein ernstliches Gebet vor Seine Ohren kommt. Lern das vom Blinden und laß dir nimmermehr dein Beten wehren. − Es scheint freilich ein Widerspruch, aber es ist doch volle Wahrheit, daß im Blinden zur Zeit seines Gebetes und seiner Zuversicht zu JEsu bereits einiges Licht war, vermöge deßen er seinen Helfer erkannte. Darum ging bei ihm in Erfüllung, was geschrieben steht: „Wer da hat, dem wird gegeben.“ So ists immer. Der Beter ist noch kein Empfänger deßen, darum er bittet; aber etwas aus der Hand des HErrn, zu dem er betet, hat er doch schon, sonst würde es ihn nicht zum Beten treiben. Was ihn zum Beten mahnt und treibt, ist bereits der Geist des Gebets, und den Geist dämpfe niemand, niemand widerstehe ihm, daß er ja nicht fliehe, sondern wenn du sein Wehen verspürst, da fall auf deine Kniee, verhülle dein Angesicht vor dem, der dich stört und mach dein Ohr taub gegen alles, was dir wehren will, und bete und halte an am Gebet.

 Bete, Seele, die nach Licht verlangt, bete: mitten aus der mangelhaften Begleitung JEsu her, von Ihm her, dem Mittelpunkt der Seinigen, wird dir Hilfe| kommen. JEsus wird deiner achten, nicht weiter gehen, sondern stille stehen: dann wird auch das Rauschen der Füße stille werden, die an dir glauben vorübergehen zu dürfen, weil sie JEsu nachfolgen; dann werden sie auch stille stehen und dein achten, man wird dir nicht mehr wehren, sondern du wirst mitten durch sie hin und von ihren Händen sänftiglich zu dem HErrn geführt werden. Der HErr wendet die Herzen der Seinigen zu den Elenden und Blinden, und wenn Ers thut, werden sie, auch wenn sie vorher es irrsam verweigerten, deren Führer und Freunde. Dann wird es den Blinden und Elenden wohl in der Gemeine JEsu, so unvollkommen sie ist, und noch ehe ihnen geholfen ist, wird ihre Freude in Hoffnung groß. Und wenn sie dann vor dem HErrn stehen, wenn Sein Mund spricht: „Was willst du, daß Ich dir thun soll?“ wenn dieß Wort alles Vertrauen der Seelen erweckt, wenn es voll Güte und Macht in die Seele dringt und man nun spürt, daß der Augenblick des Glücks gekommen ist, da wird dann auch einmal gebetet, wie mans immer und ewig soll: vor Ihm, zu Ihm, anbetend, glaubensvoll, einfältig, muthig, bereits selig kommt dann ein vollkommenes Gebet, wie das des Blinden war: „HErr, daß ich sehen möge!“ Und die Antwort kommt dann so erwünscht, so mächtig, wirkt und ändert schnell, was zuvor so traurig war. „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen!“ heißt es. Und man sieht, sieht Ihn. Der Glaube ist in Schauen verwandelt, in das Schauen des Schönsten unter den Menschenkindern, des großen Helden; das Gebet wird in Lob und Dank verwandelt, − der sehend gewordene Blinde, der erlöste Elende wird nun ein Vorsänger in der Gemeine JEsu beim Lob- und Dankgesang, alles Volk lobet den HErrn mit dem Erhörten − und er wandelt mit dem Volke dem HErrn JEsu nach.

 Selige Blindheit, die betend zur Gemeine und zu ihrem Mittelpunkt gelangt: du bist erhört! Und wir sind so blind, oft so blind, − viele von uns sind so blind, blind für eine größere Schönheit, als der Blinde von Jericho inne wurde, für die hohenpriesterliche, königliche, göttliche Schönheit des Gekreuzigten! Blind ach schon so lang , − blind so lang ohne der inwendigen Sehnsucht und Mahnung zum Gebet um Licht zu achten, ohne daß einmal die Frage: „Was willst du, daß Ich dir thun soll?“ das Ohr erreichte, ohne daß einmal die Antwort kam: „HErr, daß ich sehen möge!“ Oder ist es nicht wahr, gibt es nicht unter uns Leute genug, die alt geworden sind, ohne bis auf diese Stunde JEsu Leiden, JEsu Auferstehen zu faßen? Zwar rauschen vor uns vorüber Füße so mancher Schaar, die von Jericho mit hinaufgeht nach Golgatha und wieder zurückkommt vom leeren Grabe Josephs von Arimathia, − es rauschen nicht bloß Füße, es tönen Stimmen, die uns nicht das Gebet verwehren, sondern uns zum Gebet ermuntern, die von der Schönheit und Seligkeit der Leiden JEsu reden und nicht genug rühmen können, was alles sie in JEsu, dem Gekreuzigten, erkannt und gefunden haben! Viele aber werden durch keinen Lobgesang vorüberziehender Pilger vom heiligen Kreuz und Grab zu einer Sehnsucht aufgeweckt, auch sehen, sagen, singen und sich freuen zu können, wie sie. Ungerührt, ja unberührt in ihrer geistlichen Blindheit, fühllos im Unglück ihrer Nacht gehen sie nicht hinauf von Jericho nach Golgatha. Eine Passionszeit nach der andern geht an ihnen vorüber, und sie sind hernachmals keinen Augenblick aufgeklärter und sehender und seliger als zuvor. Das Leben nützt ihnen nichts, das Predigen hilft ihnen nichts, sie bleiben blind und todt vor Jericho sitzen; sie hören nicht, wenn in anbetenden Chören die pilgernde Gemeinde ihr „Christe, Du Lamm Gottes“ singt; sie zieht nichts nieder in den Staub; ihr Auge weiß keine Thräne der Andacht, und ihr Herz weiß den Weg nicht, den die Schaar erlöster Sünder bis zu dem Orte findet, wo man mit himmlischem Entzücken, ob außer, ob im Leibe, das weiß man kaum, − dem nun erhöhten Lamme sich und alles was man ist und hat zum Opfer bringt.

 Ach, daß ich die Blinden − nicht sehend, aber hörend machen könnte! daß ich eine Posaune hätte oder wäre, um mit unwiderstehlichem Tone die Starrheit der Blinden zu brechen und sie zum Beten aufzurufen. Wer JEsu Leiden nicht verstehen und genießen lernt im Leben, ist doch umsonst geboren, eine Fehlgeburt, aller Thränen der unglücklichen Mutter werth. Wer im Leben JEsu Leiden nicht verstehen lernt, lebt, lernt, leidet, stirbt umsonst: des Lebens Zweck ist versäumt, der Gewinn des Lebens verloren. Im Leiden JEsu ist seligmachende Weisheit, süßes Leben auch für die bittere Stunde des Todes, Leben, ewiges Leben ist im Leiden JEsu! − Oder wäre das zu viel gesagt? Ists nicht| wahr! Sind wir Prediger, wir Stimmen vom Kreuze JEsu, etwa gleich Marktschreiern, die den Leuten viel verheißen, wenig leisten? Haben wir keinen Glauben bei euch funden? Möget ihr nicht einmal beten, daß euch Gott erleuchte und zeige, ob wir schwatzen oder reden? − Nun denn, so höre mich der HErr selbst, von dem ich rede, und erhöre mein Schreien für euch und für mich! Selig sind Deine Beter, die von Erhörung zu Erhörung und immer mehr dem hellen Tag entgegen gehen, die betend immer näher zu Dir kommen, o HErr, erst das Kreuz im Licht, dann Licht im Kreuz, die Welt im Lichte des Kreuzes, in des Himmels Licht das Kreuz, in des Kreuzes Licht den Himmel sehen. − Du Sohn David, erhöre mich, erbarme Dich meiner und aller Blinden: laß uns sehen! Dein Kreuz steht vor mir in der Nacht des Mittags vom Charfreitag: laß uns es sehen in Lichte des Abends, da die Sonne sich tief zum Untergang neigte, im Lichte der Vollendung und des Wortes: „Es ist vollbracht!“ Sprich zu uns, wie zum Blinden von Jericho: „Sei sehend!“ daß unsre Schuppen von den Augen fallen, daß wir einfältig schauen Dich und Deine Leidensschönheit, und durch solch Erkenntnis selig werden! Laß uns sehend heimgehen in unsre Hütten, zu unsern Kindern, daß wir ihnen Deine Herrlichkeit rühmen, − und von ihnen laß uns sehend zu Deinem Himmel kommen, wo wir Dich ewig schauen! HErr JEsu! Amen.




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