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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

bei Jericho. Beiden ist eine Kunde verliehen, daß sie sehen sollten. Ein blindes Auge, ein blinder Geist sind beides Widersprüche. Aug und Geist sind geschaffen zum Sehen und Schauen: wie wäre es möglich, daß ein Blinder am Auge oder am Geiste zufrieden und ohne Verlangen nach Hilfe sein könnte? Möge nur der blinde Geist den Weg zum Lichte so sicher finden, wie der leiblich Blinde von Jericho ihn zum leiblichen Lichte fand. Licht für Seelenaugen findet man nur bei Dem, der allein Licht ist und Licht gibt für Leib und Seele; der dem Blinden bei Jericho das Auge öffnet, kann auch der Seele himmlisches Licht einflößen, wenn Er Sein Angesicht über ihr leuchten läßt. Der sich blind fühlt und elend, bettele darum doch ja nirgends anders als bei Jericho, wo der HErr vorübergeht, und von keinem andern, als allein von Ihm. − „Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ So betet der Blinde von Jericho. Er ist ein Meister des Gebetes für alle, die Licht und Auge begehren. Laßt uns zum Blinden in die Schule gehen und ihm nachbeten. Davids Sohn ist der Blinden Hilfe; nach Ihm strecken sie die Hände aus, ehe sie Ihn sehen, auf daß sie sehend werden und alsdann alles in Seinem Lichte sehen. Der Sohn Davids ist nicht wie andre Menschensöhne, die helfen wollen aber nicht können. Er will, denn Er hat ein menschlich Herz, durch welches Er unsre Leiden mitfühlt, − und Er hat zugleich ein göttlich Herz, durch welches Sein menschliches Erbarmen göttliche Kraft anzieht zu helfen. Er ist alleine Gottmensch, darum kann und will Er helfen. Wie Er ein Mittler ist zwischen Gott und Menschen, so vermittelt Er uns jede gute Gabe und jede vollkommene Gabe von dem Vater des Lichtes her. Darum bleibe es dabei: wir beten zum Sohne Davids und rufen Sein Erbarmen an, wenn uns Licht und Auge mangelt.

 Laßt uns aufmerken, wenn Er vorübergeht, und dann wollen wir die Stimmen aufheben und rufen: „Du Sohn Davids, erbarme Dich meiner!“ Wenn Er kommt und vorübergeht, so merken wirs an Seiner Begleitung. Wenn Seiner Jünger und Boten Füße rauschen und zugleich die Füße derer, die mit Ihm gehen, um Sein Wort zu hören, da wollen wir fragen. Und wenn wir zu blind und zu taub sind, die Stimmen und Füße Seiner Begleitung von andern Füßen und Stimmen zu unterscheiden; so − wollen wir nur immer, wenn wir Füße und Stimmen vernehmen, fragen, wer vorübergeht, und wenn uns die Antwort wird: „JEsus von Nazareth geht vorüber“ − dann laßt uns rufen. Wo die sind, die von Ihm sagen, von Ihm singen, Ihm nachwandeln und nachtrachten, da ist Er. Er geht nicht allein, Er ist bei den Seinigen. Unter den Versammlungen und Lobgesängen Seiner Kirche ist Er zu finden; ihnen schließe man sich an, wandle mit und rufe Ihn an: die Antwort bleibt sicher nicht aus.

 Man bete in den Versammlungen des HErrn, unter denen Er vorübergeht auf Erden, man bete und laße nicht ab, auch wenn die Begleiter des HErrn das Schreien der Beter wehren wollen und sich von demselben belästigt erklären. Seine Begleiter sind nicht wie Er, Seine Gemeine ist nur ein Bild von Ihm und reift Ihm und Seiner völligeren Aehnlichkeit erst entgegen. Er ist vollkommen, auch im Erbarmen: Seine Gemeine wird es erst. Die Jünger wehrten dem Blinden und den Kindlein, aber sie trafen damit beide Male Seinen Sinn nicht. Darum wenn du deine Finsternis merkst, wenn du sehend werden willst und Licht bedarfst, so rufe getrost und schone die Jünger und ihre Ohren nicht. In dem Stück sah der Blinde richtiger als die sehenden Jünger: ihm weißagte eine innere Zuversicht, daß der HErr hilft, wenn ein ernstliches Gebet vor Seine Ohren kommt. Lern das vom Blinden und laß dir nimmermehr dein Beten wehren. − Es scheint freilich ein Widerspruch, aber es ist doch volle Wahrheit, daß im Blinden zur Zeit seines Gebetes und seiner Zuversicht zu JEsu bereits einiges Licht war, vermöge deßen er seinen Helfer erkannte. Darum ging bei ihm in Erfüllung, was geschrieben steht: „Wer da hat, dem wird gegeben.“ So ists immer. Der Beter ist noch kein Empfänger deßen, darum er bittet; aber etwas aus der Hand des HErrn, zu dem er betet, hat er doch schon, sonst würde es ihn nicht zum Beten treiben. Was ihn zum Beten mahnt und treibt, ist bereits der Geist des Gebets, und den Geist dämpfe niemand, niemand widerstehe ihm, daß er ja nicht fliehe, sondern wenn du sein Wehen verspürst, da fall auf deine Kniee, verhülle dein Angesicht vor dem, der dich stört und mach dein Ohr taub gegen alles, was dir wehren will, und bete und halte an am Gebet.

 Bete, Seele, die nach Licht verlangt, bete: mitten aus der mangelhaften Begleitung JEsu her, von Ihm her, dem Mittelpunkt der Seinigen, wird dir Hilfe

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/134&oldid=- (Version vom 28.8.2016)