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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

kommen. JEsus wird deiner achten, nicht weiter gehen, sondern stille stehen: dann wird auch das Rauschen der Füße stille werden, die an dir glauben vorübergehen zu dürfen, weil sie JEsu nachfolgen; dann werden sie auch stille stehen und dein achten, man wird dir nicht mehr wehren, sondern du wirst mitten durch sie hin und von ihren Händen sänftiglich zu dem HErrn geführt werden. Der HErr wendet die Herzen der Seinigen zu den Elenden und Blinden, und wenn Ers thut, werden sie, auch wenn sie vorher es irrsam verweigerten, deren Führer und Freunde. Dann wird es den Blinden und Elenden wohl in der Gemeine JEsu, so unvollkommen sie ist, und noch ehe ihnen geholfen ist, wird ihre Freude in Hoffnung groß. Und wenn sie dann vor dem HErrn stehen, wenn Sein Mund spricht: „Was willst du, daß Ich dir thun soll?“ wenn dieß Wort alles Vertrauen der Seelen erweckt, wenn es voll Güte und Macht in die Seele dringt und man nun spürt, daß der Augenblick des Glücks gekommen ist, da wird dann auch einmal gebetet, wie mans immer und ewig soll: vor Ihm, zu Ihm, anbetend, glaubensvoll, einfältig, muthig, bereits selig kommt dann ein vollkommenes Gebet, wie das des Blinden war: „HErr, daß ich sehen möge!“ Und die Antwort kommt dann so erwünscht, so mächtig, wirkt und ändert schnell, was zuvor so traurig war. „Sei sehend, dein Glaube hat dir geholfen!“ heißt es. Und man sieht, sieht Ihn. Der Glaube ist in Schauen verwandelt, in das Schauen des Schönsten unter den Menschenkindern, des großen Helden; das Gebet wird in Lob und Dank verwandelt, − der sehend gewordene Blinde, der erlöste Elende wird nun ein Vorsänger in der Gemeine JEsu beim Lob- und Dankgesang, alles Volk lobet den HErrn mit dem Erhörten − und er wandelt mit dem Volke dem HErrn JEsu nach.


 Selige Blindheit, die betend zur Gemeine und zu ihrem Mittelpunkt gelangt: du bist erhört! Und wir sind so blind, oft so blind, − viele von uns sind so blind, blind für eine größere Schönheit, als der Blinde von Jericho inne wurde, für die hohenpriesterliche, königliche, göttliche Schönheit des Gekreuzigten! Blind ach schon so lang , − blind so lang ohne der inwendigen Sehnsucht und Mahnung zum Gebet um Licht zu achten, ohne daß einmal die Frage: „Was willst du, daß Ich dir thun soll?“ das Ohr erreichte, ohne daß einmal die Antwort kam: „HErr, daß ich sehen möge!“ Oder ist es nicht wahr, gibt es nicht unter uns Leute genug, die alt geworden sind, ohne bis auf diese Stunde JEsu Leiden, JEsu Auferstehen zu faßen? Zwar rauschen vor uns vorüber Füße so mancher Schaar, die von Jericho mit hinaufgeht nach Golgatha und wieder zurückkommt vom leeren Grabe Josephs von Arimathia, − es rauschen nicht bloß Füße, es tönen Stimmen, die uns nicht das Gebet verwehren, sondern uns zum Gebet ermuntern, die von der Schönheit und Seligkeit der Leiden JEsu reden und nicht genug rühmen können, was alles sie in JEsu, dem Gekreuzigten, erkannt und gefunden haben! Viele aber werden durch keinen Lobgesang vorüberziehender Pilger vom heiligen Kreuz und Grab zu einer Sehnsucht aufgeweckt, auch sehen, sagen, singen und sich freuen zu können, wie sie. Ungerührt, ja unberührt in ihrer geistlichen Blindheit, fühllos im Unglück ihrer Nacht gehen sie nicht hinauf von Jericho nach Golgatha. Eine Passionszeit nach der andern geht an ihnen vorüber, und sie sind hernachmals keinen Augenblick aufgeklärter und sehender und seliger als zuvor. Das Leben nützt ihnen nichts, das Predigen hilft ihnen nichts, sie bleiben blind und todt vor Jericho sitzen; sie hören nicht, wenn in anbetenden Chören die pilgernde Gemeinde ihr „Christe, Du Lamm Gottes“ singt; sie zieht nichts nieder in den Staub; ihr Auge weiß keine Thräne der Andacht, und ihr Herz weiß den Weg nicht, den die Schaar erlöster Sünder bis zu dem Orte findet, wo man mit himmlischem Entzücken, ob außer, ob im Leibe, das weiß man kaum, − dem nun erhöhten Lamme sich und alles was man ist und hat zum Opfer bringt.

 Ach, daß ich die Blinden − nicht sehend, aber hörend machen könnte! daß ich eine Posaune hätte oder wäre, um mit unwiderstehlichem Tone die Starrheit der Blinden zu brechen und sie zum Beten aufzurufen. Wer JEsu Leiden nicht verstehen und genießen lernt im Leben, ist doch umsonst geboren, eine Fehlgeburt, aller Thränen der unglücklichen Mutter werth. Wer im Leben JEsu Leiden nicht verstehen lernt, lebt, lernt, leidet, stirbt umsonst: des Lebens Zweck ist versäumt, der Gewinn des Lebens verloren. Im Leiden JEsu ist seligmachende Weisheit, süßes Leben auch für die bittere Stunde des Todes, Leben, ewiges Leben ist im Leiden JEsu! − Oder wäre das zu viel gesagt? Ists nicht

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/135&oldid=- (Version vom 28.8.2016)