Erinnerungen aus dem heiligen Kriege/Nr. 11. In den Casematten von Ulm
In Nr. 22 der Gartenlaube von 1871 ist das Leben jener buntfarbigen Söldnertruppen geschildert, welche nebst den Mitrailleusen die Schlachtenpopanze für die deutschen Heere hatten abgeben sollen, schon damals aber zum größten Theil richtig aufgehoben hinter Schloß und Riegel der deutschen Festungen lagen. Aus der Fülle der Bilder, welche bei einem Gange durch die von den Turcos bewohnten Räume dem Auge sich boten, sei hier eins herausgehoben, nicht gerade wegen besonderer Lebendigkeit der Handlung, sondern mehr wegen der Originalität der dargestellten Menschen, welche nebst ihrer Umgebung streng nach der Natur gemalt wurden.
Aus einem vergitterten Fenster des äußersten Vorwerks der deutschen Reichsfestung Ulm schaut das Auge hinab auf die im Thale ausgebreitete Stadt mit ihrem Dome, die blaue Donau und die nach allen Richtungen sternförmig auseinandergehenden Linien der Schienen und die qualmenden Dampfrosse auf denselben. Das Auge des Schauenden, eines Sergeantfouriers der Turcos, war das einzige in der wilden Bande, in welches man mit Ruhe sehen und in dem man etwas Ebenbürtiges, geistig Stammverwandtes spüren konnte. Virgile Dhuicq aus Brest, blauäugig, mit rothblondem Haar und Bart, tiefer Baßstimme und einem großen, ebenso schön wie kraftvoll gebauten Körper, war aber auch eine Erscheinung, welche man viel eher in den Reihen der deutschen Gardegrenadiere als unter den quecksilbernen Turcos gesucht hätte. Auf die Bemerkung, daß er in seinem ganzen Wesen eigentlich gar nichts Französisches habe, erwiderte er denn auch: „Wir sind keine Franzosen, wir sind Saxons,“ also hindeutend auf die schon im fünften Jahrhundert aus England herübergekommenen Bretonen, die Hauptmasse der Bewohner der Bretagne, die ihre staatliche Selbstständigkeit erst zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts an Frankreich verloren, aber, wie wir hier sehen, noch heute nicht vergessen haben. Dhuicq war unter die Turcos eingereiht worden, um in der Verwaltung seiner Compagnie Ordnung zu halten.
An Körper und Geist der schneidendste Gegensatz zu dem Sergeanten war der neben demselben auf dem Boden kauernde Neger Saad ben bu Azas. Ein wunschloseres Genügen, ein süßeres Faulbehagen läßt sich nicht denken, als wenn Saad nach reichlichem Vesper die zweite Halbe vor sich stehen hatte und mit gekreuzten Beinen am Boden hockend den Qualm seiner Cigarre von sich blies. Dieser Erscheinung gegenüber kamen jedem Beschauer, auch bei sonst noch so sehr abweichenden Ansichten, dennoch Darwin’sche Schöpfungsgedanken, wenigstens für diese Sorte von Menschen, weshalb Saad auch bei der ganzen schwäbischen Wehrmannschaft „das Thierle“ hieß. Dabei war er in all seinem Thun und Lassen ein sanftes, fröhliches, harmloses Geschöpf, das mit den kurzen Rollhaaren auf dem milchhafenförmigen Schädel eher einem schwarzen Schaf als einer besondern Species der Schöpfungskönige glich. Und doch zeigte gerade auch dieses Wesen einen rührend feinen Zug. In einer Pause beim Malen vesperten der Herr Lieutenant und ich Schinken, der in den Casematten nicht oft zu haben war. Saad saß daneben am Boden mit seiner Halben und dampfte. Den Viertelsseitenblick, welchen er in einem Augenblick, wo er sich unbeachtet wähnte, nach unseren Tellern warf, und das leichte Hinaufziehen der Nasenflügel, um den köstlichen Duft einzuziehen, merkten wir aber doch, und so nahm ich ein saftiges Stück und hielt dasselbe über seinen Kopf; er warf ihn zurück in den Nacken, sperrte den dick umwulsteten Mund weit auf, daß seine Zahnreihen wie in einem Krokodilschlunde aus der dunkeln Höhle starrten; ein Knacken und Knirschen derselben, ein Druck des Halses, und verschwunden war das Stück. Der Ausdruck der Wonne über den gehabten Genuß war im Gesicht des schwarzen Schelmen zu groß, um nicht die Lust in uns rege zu machen, denselben noch ein Mal zu sehen; ich nahm daher das letzte und größte Stück unseres Vorrathes und hielt dasselbe wieder in gleicher Weise über seine eiförmige Stirn. Die Lippen blieben diesmal aber geschlossen; dagegen streckte er seine langen schwarzen Spinnenfinger mit den scharfen braunen Nägeln nach dem Schinken aus, wickelte das Stück sorgfältig in ein neben ihm liegendes Stück Zeitungspapier, schob es in seinen Mantel und krächzte mit freundlichem Grinsen das Wort „Messarud“ hervor. Messarud war aber der ebenfalls schwarzhäutige Corporal seines Zuges, und ihm, dem Stammesgenossen, nicht auch einen so seltenen Genuß verschafft zu haben, hätte der gute Bursche nicht über das Herz bringen können.
Der Dritte im Bilde, Ismail ben Kinana, war ein sanfter, brauner Araber, welcher den kleinen Kopf mit den großen dunkeln Augen meist etwas gesenkt auf dem hagern langen Körper trug. Jedenfalls schien er eher alles Andere zu sein als eine jener Soldatenbestien, als welche man die Turcos ohne Ausnahme zu betrachten gewohnt ist. Als er gegen das Ende der Gefangenschaft noch stiller und zurückgezogener wurde und ein Mal recht [91] traurig dastand, fragte ihn der Lieutenant, ob ihm denn irgend etwas abgehe, was ja nicht wohl sein könne, da er und seine Cameraden in Kleidung, Wohnung, im Essen und Trinken doch gewiß gut versorgt seien. Ismail nickte bejahend, schüttelte aber gleich nachher wieder den Kopf und sagte: „Nix femmes, nix promener, tout nix!“ und schritt still weiter.
Eine der wildesten und verkommensten Erscheinungen der ganzen Truppe war der Vierte im Bilde: Mohamed ben Hannach; maßlos in Allem, in Lust und Unmuth, in Genuß und Gier, mag er sonst im Kampfleben ein wild tapferer Soldat gewesen sein; in der Gefangenschaft war er aber eine Plage für seine Genossen, wie für die Wachen. Dem Kreuze, welches er in der Mitte seiner Stirn tätowirt hatte, war im Kampfe der Hieb eines deutschen Reitersäbels beigefügt worden, so daß die tiefe Narbe dicht an dem Kreuze vorüber über den Schädel unter dem Turban zurücklief. Dagegen war seine femme française, die er auf dem einen Arme tätowirt trug, und seine femme arabe mit untergeschlagenen Beinen, Husarenjäckchen und einem maurischen Fähnlein auf dem Kopfe, welche in die Haut des linken Armes eingeäzt war, noch unversehrt. Wie bald sein heißes Blut – gleich den meisten Anderen kannte natürlich auch er weder Eltern, noch Heimath, noch Lebensalter – in Wallung kommen konnte, zeigte er gelegentlich eines Streites, den er in der letzten Woche der Gefangenschaft aus unbedeutenden Anlaß mit einem Landsmanne, einem olivengrünhäutigen, leibarmen bartlosen Bürschlein, bekam. Er gerieth dabei in namenlose Wuth, riß ein im Gürtel verborgen gehaltenes Messer heraus und wollte nach seinem Gegner stoßen; dieser jedoch riß ihm mit Blitzesschnelle das Messer aus der Hand, schnitt sich hierbei wohl vier Finger halb durch, in der nächsten Secunde stak es aber dem lustigen Hannach so sicher in der Brust, daß, als es herausgezogen ward, der Blutstrahl an der daneben befindlichen Bretterwand bis zur Decke spritzte. Trotzdem wehrte sich die zähe Natur dieses Wilden noch einen ganzen Tag lang gegen den blassen Tod, der aber zuletzt Sieger blieb.
Hannach’s Leib liegt nun im Kirchhofe der schwäbischen Reichsstadt; ob seine Seele die richtige Pforte zum Eingang in das mohamedanische Paradies gefunden hat und nun mit den Houris desselben in schattigen Gängen wandelt, ist uns unbekannt; sicher aber ist, daß wenige Tage nach der Verscharrung seines Leibes die ganze Turcobande unter scharfer deutscher Bewachung die Festung verließ und über die Vogesen und die deutsche Reichsgrenze geführt wurde, um die an der Spitze der Civilisation schreitende Nation von Neuem zu beglücken. Wir aber rufen ihnen mit frohem Herzen nach: „Auf Nimmerwiedersehen!“