Erfurt (Meyer’s Universum)

CCCX. Augsburg Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Siebenter Band (1840) von Joseph Meyer
CCCXI. Erfurt
CCCXII. Messina
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ERFURT

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CCCXI. Erfurt.




Erfurt liegt in der Mitte und zugleich in der schönsten Gegend des Thüringer Landes, in einer von Hügeln rundum geschützten Thalebene voller Fruchtbarkeit. Das Thal wird durchströmt von der Gera, einem hoch aus dem Gebirge herkommenden Nebenfluß der Unstrut. Uralt ist Erfurt. Schon Bonifazius, der Apostel, fand es groß und volkreich, und lange Zeit trieb er dort sein Bekehrungswerk, baute Kirchen und Klöster, und machte Erphisford zum Sitz des neugegründeten Thüringer Bisthums. Karl der Große, dessen Alles durchdringender Adlerblick die günstige Lage für den Handel erkannte, schenkte der Stadt Stapelrecht und andere Privilegien. Als Venedig emporkam, selbst ehe noch Nürnberg und Augsburg Verbindungen mit der nachherigen Königin der Meere angeknüpft hatten, trat Erfurt mit ihr in Verkehr, und so lange der Handel in den alten Wegen blieb, war Erfurt für Centraldeutschland der Platz, wo dieses die kostbaren Güter Indiens und die Fabrikate der lombardischen Städte gegen die einheimischen Produkte tauschte. Wenige Städte waren damals so blühend, volkreich und mächtig. Einmal zogen 9000 Bürger in ritterlicher Rüstung zur Fehde aus, und die Einwohnerzahl soll sich im 14. Jahrh. auf 90,000 belaufen haben. Auch zum Bunde der Hansa gehörte Erfurt und es war eines ihrer nützlichsten Glieder, denn es sorgte für die Sicherheit der Handelsstraßen im Innern Deutschlands, hielt die Raubritter im Zaum, und verschaffte durch die Stärke seines Arms und [93] seines Reichthums dem Bunde Achtung, Anerkennung und Hülfe bei den Fürsten. Augsburg, Ulm, Nürnberg und Erfurt nannte man die 4 Pfeiler der Bundesmacht im Innern des Reichs. Mit Regensburg unterhielt Erfurt einen unermeßlichen Verkehr. An vielen Orten, selbst in den fernsten Ländern, hatte Erfurt Contore und Niederlagen, und an manchen war der Handel ganz in der Erfurter Hand. Erfurt legte Hammer- und Hüttenwerke an im meißener Lande und auf dem thüringer Walde, sein Unternehmungsgeist suchte die verborgenen Schätze der Erde auf und beutete sie aus, der sonst so blühende Bergbau Thüringens, welcher kaum noch in Sagen des Volks fortlebt, kommt fast ganz auf Erfurter Rechnung. – Er sank erst, als seine Pflegerin gesunken war.

Erfurt’s lebendiger, thätiger Reichthum, der bei seinen Besitzern Pracht und vermehrten Lebensgenuß erzeugte, nach allen Radien hin Erwerbsmittel schuf und zu gleichen Bestrebungen anspornte, breitete seine wohlthätigen Wirkungen bis in die kleinste Stadt des thüringer Landes, bis in die Hütte des Landmanns aus. Die thüringer Chroniken aus jener Zeit enthalten davon die sprechendsten Beweise, und die Beschreibungen der öffentlichen und Privatfeste, nicht der fürstlichen, sondern der Bürger- und Volkslust auf Vogelschießen, Kirchweihen, Märkten, Bergfahrten etc., der Kleidungen, Speisen und Sitten auch der geringen Klassen geben uns in anziehenden Bildern zu erkennen, welch ein heitres, frohes Leben damals von Erfurt über ganz Thüringen ausgegangen, und andrerseits auch, wie damals die öffentlichen Bedürfnisse, die erkünstelten des Staats, in unsern herrlichen Gauen und traulichen Waldgründen noch nicht den Privatwohlstand verschlangen; wie noch des Bauers und Bürgers blieb, was er durch Emsigkeit errungen; wie nicht blos erworben, sondern auch genossen wurde. –

Als Erfurt blühete, vom 12. bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts, geschah nichts von allgemeinem Interesse in Deutschland, woran die Stadt nicht nahen oder fernen Theil nahm. Häufig zogen die Kaiser nach Erfurt, hielten Reichs- und Kirchenversammlungen daselbst, und eine Menge der wichtigsten Urkunden datiren von daher. Ohne freie Reichsstadt zu seyn genoß Erfurt, vermöge seiner Privilegien, doch faktisch die Unabhängigkeit. Das Gefühl derselben erregte den Stolz, und der Reichthum mehrte den trotzigen Sinn. Im Mittelalter war keine Bürgerschaft wegen ihrer Kriegslust und ihres waglichen Sinns mehr verschrieen und mehr gefürchtet, als die Erfurter. Hader, Kampf und Fehde nach allen Richtungen hin ziehen sich durch die ganze Geschichte Erfurt’s wie ein blutiger Faden. Mehrmals traf sie der päpstliche Bannstrahl, mehrmals, ihren Trotz gegen die Kaiser zu züchtigen, die Reichsacht. Für Gegenkaiser und Gegenpäpste nahm sie oft Partei, und mit ritterlichem Sinn, wenn auch mit wenig Klugheit, ergriff sie oft die Partei der Schwächern. Neben dieser Lust an Krieg wurde die Kunst und Wissenschaft eifrig gepflegt. Die Klosterschulen Erfurt’s waren Sitze der Gelehrsamkeit. Erfurt’s Universität, [94] eine der ältesten in Deutschland (seit 1816 aufgehoben), wurde schon 1378 gegründet und reich fundirt. Damals war die große Zeit Erfurt’s.

Sie schwand. 1472 legte ein furchtbarer Brand, durch Pfaffenbosheit angestiftet, die Hälfte der Stadt in Asche und vernichtete eine unermeßliche Menge an Gütern und Werth aller Art. Viele Kaufleute zogen fort nach andern Orten, und Erfurt’s Handelsverbindungen nahmen sie mit sich. Schlag auf Schlag folgten diesem ersten Unglück andere. Die gänzliche Umkehr im 16. Jahrhundert des Welthandels, die Auflösung der Hansa, die veränderte Lage des Reichs isolirten Erfurt und zerschnitten die Fäden seines Reichthums. Schlechte Wirthschaft im städtischen Haushalte führte zum Haß und blutigen Aufruhr der Bürger gegen den patrizischen Magistrat; die Reformation endlich, der die Hälfte der Bürger anhing, schürte das Feuer der innern Zwietracht in’s Unendliche fort. Selten sah Erfurt nach langjährigem innerem Hader und Zwist kurze Perioden der Ruhe und des Friedens. Wer beides liebte, wanderte aus; viele reiche Erfurter ließen sich in Frankfurt nieder, andere in Braunschweig und eine Menge in Leipzig; andere zogen mit ihren Gewerben in die benachbarten thüring’schen Städte. Ehe der Donner des dreißigjährigen Kriegs über die Stadt hinrollte mit seinen Hagelwettern, da war die Einwohnerzahl Erfurt’s schon auf 40,000 gesunken. Des langen Kriegs schwere Zeit lag hart auf Thüringen’s Hauptstadt. Bald sah es die Schweden mit Gustav Adolph, bald Tilly, bald Banner in seinen Mauern; alle forderten Opfer, alle verwüsteten und verheerten, drangsalten und trieben Brandschatzungen ein, und als der Religionsfriede dem Kriege ein Ende machte, war Erfurt, sagt der Chronist, „wie eine Laterne, ohne Licht und mit zerbrochenen Scheiben.“ Pest, Brand, Hungersnoth folgten, und ließen kein Wiederaufkommen zu. Von seiner ehemaligen Handelswichtigkeit blieb auch nicht eine Spur zurück, und die wenigen Fabrikgewerbe, welche sich erhielten, wollten nur selten recht gedeihen. Bis 1813 war die Einwohnerzahl auf 13,000 herabgekommen. Ein Drittel fast der 3000 Häuser stand leer. – Wie eine schlechte abgegriffene Münze, die Niemand behalten mag, ging zu jener Zeit Erfurt und sein Gebiet aus einer Fürstenhand in die andere, und jeder neue Besitzer suchte der Stadt und dem Ländchen den Ueberrest an Lebenssaft auszudrücken. –

Als 1807 Napoleon seine Heeresfluth gegen Preußen wälzte, wurde Erfurt seine Erstlingsbeute von Friedrichs des Großen Reich. Er erkohr Erfurt zum Waffenplatz, zur Zwingburg für Deutschland, und machte es zur „guten Stadt des Reichs.“ Sein Plan, das Frankenreich Carls des Großen, aber in gallischer Zunge, aufzurichten, war der Welt kein Geheimniß mehr. In seinem Erfurt schaarte ein Wink des Gewaltigen, 1808, Deutschlands Könige und Fürsten um sich her, damit er seinem kaiserlichen Gast zeige, zu welcher Erniedrigung man sich verstehe, und wie reich Deutschland an Knechtschaft sey. Und als Gott dem Titan in Rußlands Steppen die Kraft genommen, und die zur Vergeltung aufgestandenen Völker von Auf- und Niedergang in den Ebenen Leipzigs zerstampft [95] hatten die eiserne Krone der Weltherrschaft, die er geschmiedet, da mußte Erfurt noch dazu dienen, seine flüchtigen Schaaren vor Vernichtung zu schützen.

Deutschland war längst befreiet, längst hatten seine Söhne auf dem Völkerzuge zur neuen Roma den Rhein überschritten, als noch immer der fremde Raubadler auf Erfurts Höhen horstete. Erst im Frühjahr 1814 wurden die beiden Erfurter Citadellen, Petersberg und Cyriaxburg, an das preußische Belagerungsheer übergeben, nachdem die Franzosen die Stadt selbst im Spätherbst des vorhergehenden Jahres, nach einem Bombardement, das 300 Häuser zertrümmerte, geräumt hatten. Seitdem gehört Erfurt, als Hauptort eines Regierungsbezirks, zum preußischen Staate, und lebt wieder einer besseren Zeit zu. Die Volksmenge hat sich seit 1813 fast verdoppelt; einschließlich der 3000 Mann starken Garnison beträgt sie gegenwärtig 26,000.

Die Sehenswürdigkeiten Erfurts, – wenn wir die Festungswerke der Stadt selbst, ihre beiden Citadellen und die Verschönerungen am Friedrich-Wilhelmsplatze, mit der prachtvollen Fontaine, dem Obelisk und dem Karl Friedrichs-Denkmal ausnehmen – gehören sämmtlich einer längst verschwundenen Periode an. So viel auch die zerstörende Hand der Zeit zertrümmert hat, so viel auch Vandalismus, Krieg und Vernachläßigung vernichteten: so ist doch für den Freund der Kunst und des Alterthums immer noch eine größere Ausbeute übrig, als auf so wenig Raum zu beschreiben ist. Vor allem muß der Dom uns fesseln, der, erhaben auf einem Felsen stehend, mit seinem hohen, stumpfen Thurmkegel als die hervortretendste Figur in der Ansicht Erfurts schon von fern den Blick auf sich zog. Inzwischen ist der erste Eindruck bei näherer Beschauung dieses uralten Denkmals der deutschen Baukunst kein erfreulicher. Mit Wehmuth vielmehr bemerkt man an so vielen Zeichen die dem Prachtbau durch Elemente und Krieg, durch Blitz und Kanonenkugeln gewordene Mißhandlung. Der Thurm ist seines Schmucks entkleidet, die Spitze, die Seitenthürmchen, die Erker, Nischen und der tausendfache Zierrath von Arabesken etc. sind abgeschlagen bis auf einzelne Trümmer, und nichts blieb übrig, als nacktes Mauerwerk. Es gehört schon eine kräftige Phantasie dazu, sich den herrlichen Bau in allen seinen Theilen zur vollen Anschauung vor die Seele zu zaubern; und nicht eher sollte man dessen Inneres betreten. Dann erst wird unser Auge das Novantike und Restaurirte in vieler Art übersehen und der Betrachter im Stande seyn, den großen, ästhetischen Eindruck in vollem Maße zu genießen, der ihn erwartet, wenn er aus dem Schiff in das bis auf wenige Einzelnheiten noch in seiner alterthümlichen Herrlichkeit vollkommen erhaltene Chor, durch dessen Fenster ihm die milde Farbengluth der nobelsten Schmelzmalerei anstrahlt, getreten ist. Wohl ihm, wenn ihn hier der Hauch der Begeisterung nicht unangeweht läßt, aus welcher die höhere Erkenntniß reift. Vor seinem geistigen Auge fallen dann die irdischen Formen, womit Zeit und Meinung das Wesen der Gottheit verschieden bekleiden; er liest an den Tempelhallen, in die Nacht der Berge hinein gebrochen; an den hohen Säulenhäusern zu ihren Füßen; an den Pylonen, deren Hieroglyphen von den Wundern der Kinder-Zeiten stammeln; an Luxors Obelisken und in den Säulenstraßen [96] Balbecks; an den lichten Tempeln Griechenlands und Roms wie an des Nordens runen-beschriebenen Felsenhäuptern immer das nämliche Symbol – immer das eine Wort. – Stehend im hohen Münster des Mittelalters, dessen Massen, so will es ihn bedünken, Riesen thürmten, während seine Einzelnheiten kunstreiche Zwerge fertigten; stehend im Tempel voll schwebender Lichtgestalten, die in Feuersgluth auf ihn niederschauen, wird er inne, daß vom christlichen Prachtpalast der Gottheit bis zum rohen Altar des Wilden auf Bergeshöhe alles nur eines Triebes, einer Begeisterung Werk ist.


Wer aber lieber am Einzelnen sich erfreuen mag, läßt sich das schöne Cranachsbild an einem der Pfeiler zeigen und den großen Christoph an der Mauer, und die bronzene Statüe des büßenden Kerzenträgers (schön, fast wie eine Arbeit Vischer’s), betrachtet die köstlichen Schnitzereien an den Chorstühlen und steht sinnend an dem Grabsteine mit dem Bilde des gleichenschen Grafen zwischen seinen beiden Frauen, denkend des Unterschieds von Jetzt und Damals, da Roms Schlüssel noch solche Kraft besaß, zu lösen und zu binden. Das lange männliche Gerippe hinter dem Hochaltar, welches lügenhaft als das des Grafen ausgegeben wird, läßt Jedes gern ungesehen. Den Domthurm aber werden alle besteigen, schon um des prächtigen Blicks auf die Stadt und Umgegend, wenn auch nicht um der weltberühmten Susanne willen, der großen Glocke nämlich, die 286 Zentner wiegt, und welche man aus Furcht, der alte Thurm möchte es nicht ertragen, schon lange nicht mehr läutet. – Noch einen Ort nur muß der Leser sehen, und genug dann! – Es ist ein finsteres, ödes Gebäude, wohin ich ihn führe, durch düstere Kreuzgänge fort zu der kleinen, engen Zelle eines Mönchleins, – jenes Mannes sag’ ich, der kühn ein Jahrtausend aus Roms Geschichte riß, um es den Flammen hinzugeben; der seine gute Ueberzeugung hart neben der Unfehlbarkeit auf den Stuhl hinsetzte und zwei Ringe aus der dreifachen Krone brach: – – zur Zelle Luther’s.