Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)/Misericordias Domini

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Am Sonntage Misericordias Domini.

1 Petri 2, 21–25.
21. Denn dazu seid ihr berufen. Sintemal auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Vorbild gelaßen, daß ihr sollt nachfolgen Seinen Fußstapfen; 22. Welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in Seinem Munde erfunden; 23. Welcher nicht wieder schalt, da Er gescholten ward, nicht drohete, da Er litte, Er stellete es aber Dem heim, der da recht richtet. 24. Welcher unsere Sünden selbst geopfert hat an Seinem Leibe an dem Holz, auf daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben; durch welches Wunden ihr seid heil geworden. 25. Denn ihr waret wie die irrende Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.

 WIr feiern heute den Sonntag, der seinen Namen vom guten Hirten trägt, weil man an ihm das schöne und herrliche Evangelium aus Joh. 10 liest, das von Christo, dem guten Hirten und Seiner Heerde handelt. Der Sonntag verdient durch seine evangelische Lection den auszeichnenden Namen „Sonntag des guten Hirten“. Er verdient ihn aber auch durch die epistolische Lection; denn auch diese handelt vom guten Hirten und Seiner Nachfolge. Evangelium und Epistel stehen in seltenem Einklang mit einander, in einem Einklang, den man nicht suchen muß, der auch keines Nachweises bedarf, sondern im Gegentheil so augenfällig ist, daß vielleicht ein jeder, dem man die Aufgabe machen würde, zum Evangelium eine entsprechende Epistel zu suchen, nach derselben Stelle der heiligen Schrift, nach unserem Texte greifen würde. Es fällt daher derjenige Eingang, welchen diese Epistelvorträge zu haben pflegen, diesmal ganz weg, oder geräth doch ganz kurz. Da ich gewöhnlich den Zusammenhang der Epistel mit dem Evangelio nachzuweisen pflege, diesmal aber, wie gesagt, kein Nachweis nöthig ist, so komme ich schnell zum Texte und kehre ihm alsbald Auge und Aufmerksamkeit zu.

 Schon einmal, nämlich am sechsten Sonntag nach dem Erscheinungsfeste Christi, hat uns die Epistel Gelegenheit gegeben, darauf hinzudeuten, wie nach dem Willen des HErrn die Sklaven, also gerade diejenige Menschenklasse, welche so zu sagen, aller Menschenrechte verlustig ist und fast dem Thiere gleich steht, von dem HErrn auserwählt sind, die leuchtendsten Denkmäler und Zeugnisse Seiner umgestaltenden Gnade zu werden. Weil sie am tiefsten erniedrigt sind dem leiblichen Loose nach, sollen sie geistlich am höchsten erhöht werden, wie denn der HErr gerne die Niedrigen erhöhet, den Demüthigen Gnade erweist und mit denen zu Ehren wird, deren Gesellschaft von den stolzen Freien dieser Erde gerne gemieden wird. In jener Epistel des sechsten Epiphaniensonntags bildet gerade die Verklärung des Sklavenstandes die höchste Höhe. Das ist nun zwar in dem heutigen Texte nicht der Fall, der Text selbst redet von den Sklaven kein Wort. Aber ist uns die heutige Epistel ihrem Inhalte nach ganz ohne Zweifel ein Lieblingstext im Kirchenjahre, so dürfen wir uns doch aus seinem Zusammenhang mit den vorausgehenden Versen sagen, daß er um der Sklaven willen geschrieben ist, ja daß er geradezu an sie gerichtet ist, und daß ein jedes Wort und jeder Satz, den er enthält, erst dadurch zu seiner ganzen und eigenthümlichen Beziehung kommt, daß man sie als an Sklaven gerichtet auffaßt. Bei diesen meinen Worten fürchte ich, meine lieben Brüder, nicht, von dem oder jenem unter euch die Rede zu hören, daß eine solche Beziehung auf die Sklaven dem ganzen Texte seine großartige Allgemeinheit nehme. Es kann überhaupt| einem Texte durch seine nächste und richtigste Auffaßung nichts genommen, nichts entzogen werden, was ihm gebührt, und wenn auch irgend eine falsche Auffaßung vernichtet, ein dem oder jenem Leser lieb gewordener Gedanke genommen wird, so wird man doch immer durch die Heimkehr und Einkehr zum richtigen Verständnis des göttlichen Wortes nur gewinnen können; es kann ja nur Gewinn sein, wenn man die Worte des heiligen Geistes in Seinem Sinne faßt. Das gilt auch bei unserem heutigen epistolischen Texte. Das Wort Petri von dem Hirten und Bischof unserer Seelen und seiner Nachfolge, ein Wort an die Sklaven. Nimmt dieses Thema der Sache etwas? Wenn es ein Wort an die Sklaven ist, gehört es deshalb den Freien nicht auch? Wenn es so gar ein Wort nur an die Sklaven ist, verliert es deswegen seine Ausdehnung und seine Beziehung auf dich und mich, wenn doch in Christo JEsu der Sklave und der Freie Einer sind, wenn sich im Heiligtum kein Knecht und kein Freier, sondern eitel Knechte Christi, eitel Gefreiete und Erlösete Gottes befinden? Werfet die eitle Furcht weg, und gebt getrost den Sklaven dies heilige Wort als ihr besonderes Eigentum, da euch damit nichts entwendet wird und sich kein Sklave über Diebstahl und Entwendung beklagen wird, wenn auch ihr mit niedersitzet bei Seiner Mahlzeit, die reich und überflüssig genug ist, die ganze Welt zu sättigen.
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 Um euch jedoch zu überzeugen, daß Petrus im nächsten Zusammenhange die Worte des heutigen Textes an die Sklaven gerichtet hat, lese ich euch die ersten Worte unseres Textes noch einmal im Zusammenhang mit den drei der Lection vorangehenden Versen: „Ihr Sklaven, schreibt St. Petrus vom achtzehnten Verse an, seid unterthan in aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen; denn das ist Gnade, so jemand um des Gewißens willen zu Gott das Uebel verträgt und leidet das Unrecht. Denn was ist das für ein Ruhm, so ihr um Missethat willen Streiche leidet? Aber wenn ihr um Wohlthat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen.“ Ihr? wer soll das sein, wer anders, als diejenigen, die in den drei vorausgehenden Versen angeredet sind, auf welche das Wörtchen „Ihr“ in allen diesen Versen geht? Also wer anders, als die Sklaven? Und wozu sind also diese berufen, zu welcher Absicht sind sie zu Gott und Seinem Christus und Seiner Kirche gerufen? Dazu ganz offenbar, daß sie ausharren beides im heiligen Benehmen, in ehrfürchtiger und herzlicher Unterthänigkeit gegen ihre Herren, wer und wie die auch seien, und zugleich im Leiden, in Vertragung des Uebels und Erduldung des Unrechts. Welch ein Beruf des Sklaven! Wer hat einen höheren und schöneren? Schön ist der Beruf der Arbeit und der guten Werke, schön der Beruf des Leidens, schöner aber der Doppelberuf der guten Werke und des Leidens, der Beruf, ohne Dank Wohlthat zu üben, ohne Lohn zu arbeiten, ohne Ernte zu säen, ja der Herren Undank, der Herren ungerechten Haß und die Peitsche des Tyrannen hinzunehmen, seinen Rücken aber geduldig denen darzuhalten, die da schlagen, das Angesicht nicht zu verbergen vor Speichel und Geifer der Ungerechten, und wenn die Thräne strömt und das Herz blutet, dabei das Angesicht in den Staub zu legen und dankbar anbetend zu sprechen: dazu bin ich berufen. Denk dir einen Sklaven, der das kann und der das thut, denk dich in seine Nähe und in die tägliche Erfahrung, in das tägliche Anschauen einer solchen Tugend und sag mir, ob du etwas schöneres und größeres weißt, einen größeren Triumph des Christentums, als diesen. Ja sag mir, ob du irgend einen Menschen weißt, der Christo ähnlicher ist, als ein solcher Sklave, da doch auch Christus ganz ähnlich litt vor dem geistlichen und weltlichen Gerichte und um eitel Wohlthat willen die schmähliche Pein des Kreuzes und aller der damit zusammenhangenden Leiden dahinzunehmen hatte. Ein jeder Christ ist zur Nachfolge JEsu berufen; ein jeder wird in der Welt und von der Welt für seine Wohlthat nichts anders ernten, als Haß und den schmählichen Undank der Verfolgung; am wenigsten aber kann diesem Loose der christliche Sklave entgehen, der einen weltlichen Herrn hat, und er vor allen andern hat das heilige Recht und die selige Pflicht, den Brüdern voranzuwandeln in der Nachfolge JEsu und im getrosten Leiden des Unrechts. Welch eine Würde des frommen christlichen Sklaven! Was ist er für ein Herzog derer, die durch’s Jammerthal gehen, und wenn er seinen Beruf erfüllt, nämlich den des unschuldigen Leidens unter den Händen eines wunderlichen| Herrn, wie werden sich da die heiligen Engel und ihr ewiger König, denen solche Beispiele offenbar sind, freuen über den Sklaven, der also Buße thut und seinen Ernst im Christentum beweist! – Indes, meine lieben Freunde, nicht um der Lehre willen, die den Sklaven und andern Christen in unserem Texte gegeben wird, auch nicht zunächst um der Nachfolge willen, die der Sklave seinem Christus schuldig ist, wie alle Christen, ist unser heutiger Text von der Kirche gewählt, sondern im Gegentheil um des Vorgangs Christi willen, dem wir nachfolgen sollen, und um der Aehnlichkeit willen, welche unser Text mit dem Evangelium vom guten Hirten hat. Daher laßt uns nun einmal den Inhalt der meisten Worte unserer Epistel betrachten, den guten Hirten schauen, und erst am Ende zu den Sklaven zurückkehren und zu ihrer schuldigen Nachfolge des guten Hirten JEsu.

 Der Stand des Sklaven ist ein Stand unverschuldeter Leiden. Frei geboren, oder schon in der Sklaverei geboren, findet sich so ein armer Sklave in der Unterthänigkeit und Gewalt eines fremden Willens und muß es sich gefallen laßen, daß über ihn, seine Zeit und seine Kraft willkürlich verfügt wird, und ihm so Arbeit, wie Leid je nach seines Herrn Wohlgefallen zufließt. Da wird denn in unserem Texte dem leidenden Sklaven gesagt, daß dies Leiden sein Beruf sei und der enge, schmale, heilige Pfad der Nachfolge Seines ewig guten Hirten. „Dazu seid ihr berufen, heißt es, denn auch Christus hat gelitten für euch und euch ein Vorbild gelaßen, daß ihr sollt nachfolgen Seinen Fußstapfen.“ Siehe da JEsum im Leiden, im unverschuldeten Leiden für andere, im stellvertretenden Leiden, – JEsus im Leiden ein Vorbild, ein Vorbild nach Gottes Absicht, in Deßen Fußstapfen wir alle, voran die berufenen christlichen Sklaven wandeln sollen! Der leidende Christus, unser Vorbild! Kannst du dir ein Vorbild denken, das ehrwürdiger, glänzender, und wenn auch nicht durch die Tiefe der Leiden, so doch durch die Tugend der Verleugnung und durch die Herrlichkeit des Zieles und Erfolges einladender wäre? Weißt du eine Nachfolge, die du lieber wählen möchtest, als Christo nach, durch die Schmach, durchs Gedräng von auß’ und innen, das Geraume zu gewinnen, deßen Pforten JEsus brach? Geht es zu tiefen Thalen, so hebt sichs doch auch wieder zu großen Höhen; sinkt man hinein in tiefe Leiden, so gelangt man doch hernach auch wieder zu großen Freuden, zu einem Glücke, das nimmer aufhört, zu einem Wohlsein, das keine Grenzen hat. Darum sieh nur auf den Anfänger und Vollender, den Vorgänger, den Herzog aller Heiligen, und wandle Ihm nach, so aber, daß du würdig erfunden wirst bis ans Ende und bis zum Ziele des Weges deinem HErrn nachzugehen. Um aber das zu können, so beschau dir das Beispiel deines Christus recht genau und präge dir den Weg damit recht fest ein, den du wandeln sollst!

 St. Paulus beschreibt dir das Vorbild deines HErrn bis ins einzelne: „Er hat keine Sünde gethan, auch ist kein Betrug in Seinem Munde erfunden worden.“ Das sind die Worte Pauli, aber auch die Worte Jesaiä des Propheten im neunten Vers des dreiundfünfzigsten Kapitels seiner Weißagungen, also die Worte der Propheten und der Apostel, das Licht und die Ueberzeugung des alten und des neuen Testamentes, des Israel vor und nach der Geburt Christi, der Kirche aller Zeiten. In diesen Worten liegt uns JEsu Christi vollkommenes sittliches Vorbild klar und hehr aufgedeckt, und wir, Seine armen Nachfolger, würden bei der Erkenntnis unserer tiefen Armuth, Schwachheit, Bosheit, Sünde schon bei diesen ersten Grundzügen des Bildes Christi Lust und Muth der Nachfolge verlieren, wenn uns nicht die unbeschreibliche göttliche Anmuth des Bildes Christi anzöge, und Sein guter Geist uns bei all unserer Schwachheit auf Seinem Weg erhielte. Der heilige Jakobus in seinem wunderschönen Briefe sagt: der erst sei der vollkommene Mann, welcher auch in keinem Worte fehle. Wo wird man einen vollkommenen Mann finden, wo den, der auch in keinem Worte fehlt? Hier ist der vollkommene Mann, hier ist der Mensch ohne Tadel, JEsus Christus, der keine Sünde gethan, in deßen Munde kein Betrug, kein Falsch, kein Hehl, kein Irrtum erfunden ist, der untadelich Reine, an deßen Verhalten und Reden auch die Sonne des göttlichen Auges keinen Mangel fand und welchem der Vater zu dreien Malen vom Himmel her das Zeugnis gab, daß Er an Ihm Wohlgefallen habe.

 Der dreiundzwanzigste Vers, der nun in unserm| Texte folgt, scheint nur eine Erläuterung des zweiundzwanzigsten zu sein und von nichts anderem zu sprechen, als von der Vollkommenheit JEsu im Gebrauche der Zunge. Er schließt sich eng an den Vers vorher an und führt die Rede desselben fort mit den Worten: „Welcher nicht wiederschalt, da Er gescholten wurde, nicht dräuete, da Er litte, es aber Dem anheimstellte, der da recht richtet.“ Doch darf man bemerken, daß dieser Vers, wenn überhaupt vom Gebrauche der Zunge, doch mehr vom Schweigen handelt, als vom Reden, daß er uns mehr ein Beispiel vom Nichtgebrauch, als vom Gebrauch der Zunge gibt. Der nicht wiederschilt, der nicht dräuet, sind nicht beide vielmehr Schweigende, als Redende? Und wenn einer dem gerechten Richter in der Höhe die Beurtheilung seiner Lästerer und Verfolger überläßt, sich selbst mit dem Urtheile gar nicht bemüht, geht nicht auch der, ich sage nicht bloß in äußerer, sondern auch in innerer Stille mitten hindurch durch seine Feinde, schweigt nicht ein solcher doppelt, äußerlich und innerlich?

 Diese Auslegung auf das Schweigen JEsu und auf die Empfehlung des Schweigens, welche in Seinem hohen Vorbild für die gescholtenen und leidenden Sklaven und für alle verfolgten und leidenden Christen ausgesprochen ist, wird auch ihr gewisses Recht behaupten, und man kann sagen, wer dem schweigenden Christus, der wie ein Lamm zur Schlachtbank und zum Scheerer geführt wurde, ohne Seinen Mund aufzuthun, in Seinem heiligen Schweigen nachfolge, der studire eine hohe Kunst und leiste in tiefer Stille mehr als viel tausend Zungen mit ihrem unermüdlichen Tönen.

 Es liegt in dem Schelten eine gar mächtige Herausforderung zum Wiederschelten, wie sich denn auch die ganze Welt für entschuldigt hält, wenn sie nur den Anfang zum Schelten nicht machte, wenn nur ihr Schelten das bloße Echo des Scheltens anderer war. Ebenso liegt in der Ohnmacht des Leidenden, der sich seiner Verfolger nicht erwehren kann, ein starker Antrieb zum Drohen und zwar im Namen des Allerhöchsten, und man könnte wohl eine große Anzahl von Beispielen solcher aufbringen, die unter den Händen ihrer Peiniger und Mörder sich in unzählige Drohungen ergoßen haben. Wer unter kleinen Leiden, wie sie uns vorzukommen pflegen, auf sich selbst geachtet und über die Regung seiner Seele gewacht hat, der wird es wohl bestätigen, daß Schweigen, zumal inneres und äußeres, keine kleine Selbstverläugnung für den ist, dem Unrecht geschieht. Die meisten gehen in solchen Fällen den Weg des geraden Gegentheiles, und das Geschrei der Verfolgten und Leidenden ist allenthalben groß in der Welt. Seltener noch als das pure Schweigen ist aber die Seelenstille und der innere, feierliche Sabbath, da man sich in Verläumdung und Verfolgung bei dem Weh und Leid gar nicht aufhält, anderen beßeren Gedanken nachgeht und Gott dem HErrn das Urtheil über das erlittene Unrecht ganz und gar anheim gibt.

 Das ist hohe Einfalt und große Tugend. Und doch wird mit dieser Erkenntnis der Sinn unseres Textesverses keineswegs erschöpft. Die einzelnen Worte des Verses sind denen der zehn Gebote zu vergleichen, die, wo sie verbieten, ein Gebot einschließen, und wo sie gebieten, ein Verbot in sich tragen. Unser HErr schalt nicht bloß nicht wieder, wenn Er gescholten ward, sondern Er segnete dagegen, Er drohete nicht bloß nicht, da Er litte, sondern Er betete voll Inbrunst für Seine Verfolger; Er stellte auch nicht bloß das Urtheil dem gerechten Richter anheim, sondern Er opferte sich auf und brachte Sein Blut und Leben zu einem Lösegeld für Seine Beleidiger dar. Die heilige Zurückhaltung, welche unser Vers im Ausdrucke braucht, muß uns ermuntern, zu den Worten Gottes diejenigen Zusätze zu machen, die wir nach andern Stellen desselbigen göttlichen Wortes machen dürfen, und eben damit das heilige Beispiel JEsu in seinen ganzen Glanz zu sehen. Es ist jedoch nicht bloß ein schweigender JEsus, der uns demnach vorgestellt wird, auch ist es nicht bloß die Absicht des heiligen Apostels, im Nichtgebrauch der Zunge einen Theil des rechten Gebrauches zu lehren. Es soll uns überhaupt nicht allein gezeigt werden, was einst ein Prediger seinem Volke im Leiden JEsu zeigte, daß man zu rechter Zeit reden, zu rechter Zeit schweigen solle, sondern, wenn uns der zweiundzwanzigste Vers unseres Texteskapitels die Sündlosigkeit JEsu im hellen Strahle zeigt, so offenbart uns der dreiundzwanzigste Sein liebevolles Herz und macht damit den würdigen Uebergang zum vierundzwanzigsten Verse, in welchem wir den vollkommenen| JEsus, den Menschensohn voll Liebe in Seinem priesterlichen Amte und in Seinem Hunger und Durst nach der heiligen Absicht Seines priesterlichen Amtes schauen. „Er hat unsere Sünden selbst geopfert an Seinem Leibe auf dem Holze, auf daß wir der Sünde abgestorben der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil worden.“ So lautet der vierundzwanzigste Vers. Das priesterliche Amt JEsu erscheint in demselben als die Fülle Seiner göttlichen Liebe. Der Apostel hat gar nicht vor, eine Belehrung über das priesterliche Amt des HErrn zu geben, sondern seine ganze Absicht ist, den Sklaven und allen Christen in Christo JEsu das vollkommenste Vorbild für die Zeit der Verfolgung und ungerechten Behandlung der Menschen zu geben. So gar nicht ließ Er sich erbittern, so wenig machte Er sich der Sünden Seiner Feinde theilhaftig, so völlig verzieh Er allen denen, die Ihm Leiden und Jammer verursachten, daß Er durch Seine Wunden sie heilen wollte und die ungerechten Leiden, die Ihn trafen, zu Versöhnungsleiden machte, Seine Kreuzigung zu einer Aufopferung für uns und Sein Blutvergießen zu einer Herstellung eines vollkommenen Reinigungsmittels für alle Sünden. Ein höheres Beispiel der vollkommenen Liebe im Leiden läßt sich nicht geben, nicht auffinden, nicht denken. Juden und Heiden behandeln unsern HErrn also und überschütten Ihn mit solcher Pein und Noth, daß man Ihn für einen von Gott geschlagenen und gemarterten halten konnte. Die Menschen gehen darauf aus, Ihn zu tödten und vom Plane der Welt wegzuschaffen: himmelschreiend ist ihr Benehmen. Was aber thut Er? Er schreit, und Sein Blut schreit lauter, als die Ungerechtigkeit um Rache ruft, um Erbarmung, und die Schmerzen Seiner Leiden und Seines Todes, mit welchen Ihn die Bosheit überschüttet, weiß Er, ich wiederhole und möchte es tausend mal wiederholen, umzuwandeln in Versöhnungs- und Erlösungsschmerzen und in einen Opfertod, durch welchen die ganze Menschheit straffrei wird, ja so heil und umgewandelt, daß sie der Sünde abstirbt und der Gerechtigkeit lebt. So wird aus dem Uebelthäter, den Pilatus verdammte, zugleich der Hohepriester und das Opfer der Welt, und mit dem heillosesten verdammlichsten Morde des Heiligen Gottes vereinigt sich wunderbarlich die selige Absicht unserer ewigen Erlösung. Mit der That der tiefsten Finsternis fällt zusammen die That des größten Lichtes und der Liebe, und dicht neben der Bosheit der Juden erscheint sieghaft und triumphirend eine Liebe, welche es unternimmt und vermag, die gottlosen Mörder zu reinigen, zu heiligen und zu ihrer Beute zu machen.
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 Meine theuren Brüder, als ich zu reden anfieng von dem Vorbild JEsu, nahm ich mir vor, zu vergeßen, daß der ganze heutige Text im Grunde eine Ansprache an Sklaven ist und daß ihnen zunächst ein hohes Beispiel des Verhaltens im Leiden in Christo JEsu vorgestellt werden sollte. Ich muß es euch aber gestehen, daß ich bei Betrachtung des hohen Vorbildes den Gedanken an die Sklaven nicht aus meinem Andenken bringen konnte, sondern daß mir im Gegentheil Schritt für Schritt der Gedanke an die Sklaven folgte und ich je länger je mehr durchdrungen worden bin von Bewunderung und Anbetung gegen den Gott, welcher sich in Christo JEsu der Sklaven so sehr erbarmt hat und ihnen fortwährend Sein liebevolles Andenken in solchem Maße zuwendet, daß der hohe Apostel Petrus ihnen zunächst das hohe Vorbild JEsu zum Eigentum schenkt, und durch seine heilige, wundervolle Rede den Beruf der Sklaven, die getreuesten Abbilder des leidenden Christus auf Erden zu sein, in das glänzendste Licht stellt. Schon wenn man dies Vorbild des leidenden Christus ins Auge faßt und auf die Sklaven anwendet, wird man von Freude über diese heutige Textwahl durchdrungen. Diese Freude aber wird erst recht vollkommen dadurch, daß in dem letzten Verse die christlichen Sklaven als die Schafe des guten Hirten vorgestellt werden, die nicht bloß von selbst dem Beispiele JEsu nachfolgen, sondern auch von Ihm auf ihren Leidens- und Entsagungswegen geleitet und geweidet werden. Es fällt mir gar nicht ein, die christlichen Sklaven zu den einzigen Schafen JEsu Christi zu machen und ihnen allein den guten Hirten zum Eigentum zu geben. Bin ich doch selbst ein Schaf JEsu, obwohl kein Sklave; könnte ich doch in meinem und aller Gläubigen Namen die Seligkeit, an dem Einen guten Hirten Theil zu haben, nimmermehr aufgeben, müßte sie vielmehr als unser gemeinsames nothwendigstes und unentbehrlichstes Gnadenrecht beanspruchen. Aber ich kann doch auch nicht läugnen, daß in unserem Texte zunächst die Sklaven angeredet| sind. Ich darf doch die Worte des Apostels nicht anders auslegen, als sie lauten, und wenn es heißt: „Ihr waret wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen,“ so muß es doch dabei bleiben, daß das Wörtchen „Ihr“ in diesem letzten Verse des Textes nicht anders genommen und bezogen werden kann, als im ersten, nemlich auf die christlichen Sklaven. Diese, vormals elende, unglückliche, irrende Schafe, sind nunmehr heil geworden durch JEsu Wunden und, der Sünde abgestorben, leben sie nun der Gerechtigkeit und ihrem schweren Berufe, dem Gotteslamm und Bischof der Seelen nachzufolgen, mit Fröhlichkeit, mit ausharrender Geduld, und dienen nun ihren Herren, auch den wunderlichen, in großem Frieden wie Christo. Sie sehen und finden ihre Würde und Hoheit darinnen, dem Lamme Gottes nicht bloß in Seinem Leiden, sondern auch in den Tugenden Seines Leidens nachzufolgen, wie die Heerde dem Hirten nachfolgt. Sie sehen die strahlende Gerechtigkeit JEsu Christi in Werk und Wort und es verlangt sie, ihrem Hirten in Werken und Worten ähnlich zu werden. Ja, ähnlich im Reden, im Schweigen, in der Liebe, in der Hingebung, in der Aufopferung. Sie werden gescholten und schelten nicht wieder, sie segnen; sie leiden und dräuen nicht, sie beten; sie übergeben ihre Sache Dem, der recht richtet, und werden inbrünstige Fürbitter wie JEsus und mit JEsus, und ringen und kämpfen und arbeiten nach einem Einzigen, nämlich daß ihre Beleidiger und Verfolger, ihre Herren und Tyrannen heil werden durch JEsu Wunden, der Sünde absterben, der Gerechtigkeit leben und als fromme Schafe dem guten Hirten nachgehen, wie und wohin Er vorangeht. Hier, meine Freunde, sehen wir am Sonntag des guten Hirten den Triumph des guten Hirten. Er geht voran, und aus den verlaßensten und geplagtesten Menschenkindern, den Sklaven, folgt Ihm eine getreue Heerde, deren Gang und Licht immer leuchtender wird und die aller Welt den Beweis geben, daß die heilige Religion JEsu alle Noth in Seligkeit und Freuden, ja selbst die Sklaverei in einen Stand der seligsten Nachfolge JEsu verwandeln kann.
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 Wenn die Sklaven JEsu Christo folgen, was thun wir, meine Brüder? Wenn sie bei ihrem jammervollen Leiden in Christo JEsu ihr leuchtendes Vorbild sehen und ihr Herz mitten unter ihren Dornen fröhlich, geduldig sein kann, und das Uebel vertragen: werden wir den Beruf der Nachfolge JEsu im Leiden zu schwer finden dürfen? Wir haben wenig zu leiden, wir werden wenig gescholten, wir habens so leicht, die Sklaven aber haben es so schwer: werden wir denn die Nachfolge des guten Hirten JEsu und den Gehorsam Seiner Schafe ausschlagen und verweigern und zu Seiner Ehre in Seiner Nachfolge die kleine Last nicht tragen können, da die Sklaven die große Last tragen und die allergrößte der Erzhirte und Bischof unserer Seelen selbst? Wir werden gescholten, o Schande, und wir schelten wieder. Wir leiden, und was denn? Fast nichts, ein kleines! Und wir werden erbittert, wir schreien und heulen und weinen und drohen! Wir können gar nichts dem himmlischen Vater übergeben! Es kostet uns großmächtige Mühe, eine Beleidigung hinunterzubringen. Da brauchen wir Stunden und Tage und Wochen, um wieder ins Gleichgewicht und in die Ruhe zu kommen. Wo bleibt da der Sinn Christi, welcher sich für Seine Feinde opferte, und die freudige Hingebung für unsere Feinde, wo das Gebet für sie, wo die Arbeit zu ihrem Heil, wo und wann wird da der Feind uns zum Lebenszweck, zum Liebesziel? – Ach wir gemeinen, niederträchtigen, weltlich gesinnten Seelen, nicht werth, Schafe JEsu zu heißen, nicht werth, daß man uns anspricht wie jene Sklaven: „Ihr seid nun bekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen.“ Ach wehe! Das dreiundfünfzigste Kapitel Jesaiä, in deßen Andenken der heilige Apostel unsern Text geschrieben, kommt auch mir zu Andenken. Ich denke an die Worte: „Wir waren wie die irrenden Schafe, ein jegliches sahe auf seinen Weg.“ Wir sehen immer auf unsern Weg, starr und steif; wo unsre Füße sind, die da laufen, da ist auch unser Auge, unser Blick; wie unsere Triebe uns treiben, so folgen auch unsere sinnenden Gedanken, wir denken und wollen nichts anderes, als was die Leidenschaft uns sagt. Zu hoch, zu groß, zu hehr ist uns das Beispiel JEsu, und wir entlaufen Seinem Hirtenstabe, weil wir keine Lust haben zu Seinen Wegen, und laufen lieber den Weg zur Hölle, weil uns auf dem niemand| hindert zu thun, was wir wollen, und was der alte Adam, ja das Thier in uns begehrt. – Es ist österliche Zeit. Wir leben in den vierzig Tagen, welche dem Andenken an jene vierzig größten Freudentage der Erde gewidmet sind, in welchen der Auferstandene und Verklärte den Seinen sich so oft sichtbar erwies. Was that Er in den vierzig Tagen? Er sammelte die zerstreuten Schafe wieder, die in Gethsemane von Ihm geflohen waren und ordnete Seine Heerde. Kein österlicheres Bild, als der gute Hirte unter Seinen Schafen in der Glorie Seiner Auferstehung, mit der siegreichen Kraft Seines Leidens und Sterbens. Christus und Seine Heerde, Christus und die sich wieder sammelnden Apostel, Christus der Hirte unter den Sklaven, Christus und nicht unser Hirte? Ist das erträglich? Kann mans aushalten auf den eignen Wegen und Stegen am Felsenrande der Hölle? Kann man den Auferstandenen rufen hören: „Kommt her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, Ich will euch erquicken, nehmt auf euch Mein Joch, denn Mein Joch ist sanft und Meine Last ist leicht, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen?“ Entbrennt an solchen Worten und an der Erinnerung des Sterbens, Leidens und Auferstehung Christi, das wir feierten, keine Lust, kein Drang zur Nachfolge, zur Nachfolge im Leiden? Wen soll ich senden, wer will unser Bote sein? ruft Gott Jesaia 6. Und Jesaias antwortet: Hie bin ich, sende mich. Heute fragt er ein Leichteres: Wen soll ich berufen, wer will mir nachfolgen? Gibts keine Antwort, will niemand sagen: Führe mich mein Hirte, ich will Dir folgen, mein Bischof, gedulde Dich mit mir, führe mich Deine Wege, leite mich Deine Straße, faß mich an meinen Händen, zieh mich, wenn ich nicht gehen will, trag mich, wenn ich nicht folgen kann?! O des Jammers, daß ihr so stille seid, daß der Hirte so einsam durch unsre Pfarrei geht und so wenig Schafe Ihm folgen aus ihren Ställen! O des Jammers, daß ich nicht mehr kann, als jammern und weinen und warten, und die entzückenden Worte meines Textes zu keinem Feuer machen kann, das auch euch ergreife und entzünde, daß ihr in der Liebe und Nachfolge JEsu lebtet! Helfer aus der Höhe, mächtiger, starker, hilf unter uns Deinem Worte, oder gib auch mir die große Kunst, die Du kannst, fröhlich zu sein mit denjenigen unter meinen Schafen, die zu Dir kommen, und es tragen zu können, wenn Dein süßes Locken und Leiten nicht haufenweise die irrenden Schafe wieder zu Dir bringt! Amen.




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