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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

einem Texte durch seine nächste und richtigste Auffaßung nichts genommen, nichts entzogen werden, was ihm gebührt, und wenn auch irgend eine falsche Auffaßung vernichtet, ein dem oder jenem Leser lieb gewordener Gedanke genommen wird, so wird man doch immer durch die Heimkehr und Einkehr zum richtigen Verständnis des göttlichen Wortes nur gewinnen können; es kann ja nur Gewinn sein, wenn man die Worte des heiligen Geistes in Seinem Sinne faßt. Das gilt auch bei unserem heutigen epistolischen Texte. Das Wort Petri von dem Hirten und Bischof unserer Seelen und seiner Nachfolge, ein Wort an die Sklaven. Nimmt dieses Thema der Sache etwas? Wenn es ein Wort an die Sklaven ist, gehört es deshalb den Freien nicht auch? Wenn es so gar ein Wort nur an die Sklaven ist, verliert es deswegen seine Ausdehnung und seine Beziehung auf dich und mich, wenn doch in Christo JEsu der Sklave und der Freie Einer sind, wenn sich im Heiligtum kein Knecht und kein Freier, sondern eitel Knechte Christi, eitel Gefreiete und Erlösete Gottes befinden? Werfet die eitle Furcht weg, und gebt getrost den Sklaven dies heilige Wort als ihr besonderes Eigentum, da euch damit nichts entwendet wird und sich kein Sklave über Diebstahl und Entwendung beklagen wird, wenn auch ihr mit niedersitzet bei Seiner Mahlzeit, die reich und überflüssig genug ist, die ganze Welt zu sättigen.

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 Um euch jedoch zu überzeugen, daß Petrus im nächsten Zusammenhange die Worte des heutigen Textes an die Sklaven gerichtet hat, lese ich euch die ersten Worte unseres Textes noch einmal im Zusammenhang mit den drei der Lection vorangehenden Versen: „Ihr Sklaven, schreibt St. Petrus vom achtzehnten Verse an, seid unterthan in aller Furcht den Herren, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den wunderlichen; denn das ist Gnade, so jemand um des Gewißens willen zu Gott das Uebel verträgt und leidet das Unrecht. Denn was ist das für ein Ruhm, so ihr um Missethat willen Streiche leidet? Aber wenn ihr um Wohlthat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen.“ Ihr? wer soll das sein, wer anders, als diejenigen, die in den drei vorausgehenden Versen angeredet sind, auf welche das Wörtchen „Ihr“ in allen diesen Versen geht? Also wer anders, als die Sklaven? Und wozu sind also diese berufen, zu welcher Absicht sind sie zu Gott und Seinem Christus und Seiner Kirche gerufen? Dazu ganz offenbar, daß sie ausharren beides im heiligen Benehmen, in ehrfürchtiger und herzlicher Unterthänigkeit gegen ihre Herren, wer und wie die auch seien, und zugleich im Leiden, in Vertragung des Uebels und Erduldung des Unrechts. Welch ein Beruf des Sklaven! Wer hat einen höheren und schöneren? Schön ist der Beruf der Arbeit und der guten Werke, schön der Beruf des Leidens, schöner aber der Doppelberuf der guten Werke und des Leidens, der Beruf, ohne Dank Wohlthat zu üben, ohne Lohn zu arbeiten, ohne Ernte zu säen, ja der Herren Undank, der Herren ungerechten Haß und die Peitsche des Tyrannen hinzunehmen, seinen Rücken aber geduldig denen darzuhalten, die da schlagen, das Angesicht nicht zu verbergen vor Speichel und Geifer der Ungerechten, und wenn die Thräne strömt und das Herz blutet, dabei das Angesicht in den Staub zu legen und dankbar anbetend zu sprechen: dazu bin ich berufen. Denk dir einen Sklaven, der das kann und der das thut, denk dich in seine Nähe und in die tägliche Erfahrung, in das tägliche Anschauen einer solchen Tugend und sag mir, ob du etwas schöneres und größeres weißt, einen größeren Triumph des Christentums, als diesen. Ja sag mir, ob du irgend einen Menschen weißt, der Christo ähnlicher ist, als ein solcher Sklave, da doch auch Christus ganz ähnlich litt vor dem geistlichen und weltlichen Gerichte und um eitel Wohlthat willen die schmähliche Pein des Kreuzes und aller der damit zusammenhangenden Leiden dahinzunehmen hatte. Ein jeder Christ ist zur Nachfolge JEsu berufen; ein jeder wird in der Welt und von der Welt für seine Wohlthat nichts anders ernten, als Haß und den schmählichen Undank der Verfolgung; am wenigsten aber kann diesem Loose der christliche Sklave entgehen, der einen weltlichen Herrn hat, und er vor allen andern hat das heilige Recht und die selige Pflicht, den Brüdern voranzuwandeln in der Nachfolge JEsu und im getrosten Leiden des Unrechts. Welch eine Würde des frommen christlichen Sklaven! Was ist er für ein Herzog derer, die durch’s Jammerthal gehen, und wenn er seinen Beruf erfüllt, nämlich den des unschuldigen Leidens unter den Händen eines wunderlichen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/267&oldid=- (Version vom 1.8.2018)