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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sind. Ich darf doch die Worte des Apostels nicht anders auslegen, als sie lauten, und wenn es heißt: „Ihr waret wie die irrenden Schafe, aber ihr seid nun bekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen,“ so muß es doch dabei bleiben, daß das Wörtchen „Ihr“ in diesem letzten Verse des Textes nicht anders genommen und bezogen werden kann, als im ersten, nemlich auf die christlichen Sklaven. Diese, vormals elende, unglückliche, irrende Schafe, sind nunmehr heil geworden durch JEsu Wunden und, der Sünde abgestorben, leben sie nun der Gerechtigkeit und ihrem schweren Berufe, dem Gotteslamm und Bischof der Seelen nachzufolgen, mit Fröhlichkeit, mit ausharrender Geduld, und dienen nun ihren Herren, auch den wunderlichen, in großem Frieden wie Christo. Sie sehen und finden ihre Würde und Hoheit darinnen, dem Lamme Gottes nicht bloß in Seinem Leiden, sondern auch in den Tugenden Seines Leidens nachzufolgen, wie die Heerde dem Hirten nachfolgt. Sie sehen die strahlende Gerechtigkeit JEsu Christi in Werk und Wort und es verlangt sie, ihrem Hirten in Werken und Worten ähnlich zu werden. Ja, ähnlich im Reden, im Schweigen, in der Liebe, in der Hingebung, in der Aufopferung. Sie werden gescholten und schelten nicht wieder, sie segnen; sie leiden und dräuen nicht, sie beten; sie übergeben ihre Sache Dem, der recht richtet, und werden inbrünstige Fürbitter wie JEsus und mit JEsus, und ringen und kämpfen und arbeiten nach einem Einzigen, nämlich daß ihre Beleidiger und Verfolger, ihre Herren und Tyrannen heil werden durch JEsu Wunden, der Sünde absterben, der Gerechtigkeit leben und als fromme Schafe dem guten Hirten nachgehen, wie und wohin Er vorangeht. Hier, meine Freunde, sehen wir am Sonntag des guten Hirten den Triumph des guten Hirten. Er geht voran, und aus den verlaßensten und geplagtesten Menschenkindern, den Sklaven, folgt Ihm eine getreue Heerde, deren Gang und Licht immer leuchtender wird und die aller Welt den Beweis geben, daß die heilige Religion JEsu alle Noth in Seligkeit und Freuden, ja selbst die Sklaverei in einen Stand der seligsten Nachfolge JEsu verwandeln kann.

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 Wenn die Sklaven JEsu Christo folgen, was thun wir, meine Brüder? Wenn sie bei ihrem jammervollen Leiden in Christo JEsu ihr leuchtendes Vorbild sehen und ihr Herz mitten unter ihren Dornen fröhlich, geduldig sein kann, und das Uebel vertragen: werden wir den Beruf der Nachfolge JEsu im Leiden zu schwer finden dürfen? Wir haben wenig zu leiden, wir werden wenig gescholten, wir habens so leicht, die Sklaven aber haben es so schwer: werden wir denn die Nachfolge des guten Hirten JEsu und den Gehorsam Seiner Schafe ausschlagen und verweigern und zu Seiner Ehre in Seiner Nachfolge die kleine Last nicht tragen können, da die Sklaven die große Last tragen und die allergrößte der Erzhirte und Bischof unserer Seelen selbst? Wir werden gescholten, o Schande, und wir schelten wieder. Wir leiden, und was denn? Fast nichts, ein kleines! Und wir werden erbittert, wir schreien und heulen und weinen und drohen! Wir können gar nichts dem himmlischen Vater übergeben! Es kostet uns großmächtige Mühe, eine Beleidigung hinunterzubringen. Da brauchen wir Stunden und Tage und Wochen, um wieder ins Gleichgewicht und in die Ruhe zu kommen. Wo bleibt da der Sinn Christi, welcher sich für Seine Feinde opferte, und die freudige Hingebung für unsere Feinde, wo das Gebet für sie, wo die Arbeit zu ihrem Heil, wo und wann wird da der Feind uns zum Lebenszweck, zum Liebesziel? – Ach wir gemeinen, niederträchtigen, weltlich gesinnten Seelen, nicht werth, Schafe JEsu zu heißen, nicht werth, daß man uns anspricht wie jene Sklaven: „Ihr seid nun bekehrt zum Hirten und Bischof eurer Seelen.“ Ach wehe! Das dreiundfünfzigste Kapitel Jesaiä, in deßen Andenken der heilige Apostel unsern Text geschrieben, kommt auch mir zu Andenken. Ich denke an die Worte: „Wir waren wie die irrenden Schafe, ein jegliches sahe auf seinen Weg.“ Wir sehen immer auf unsern Weg, starr und steif; wo unsre Füße sind, die da laufen, da ist auch unser Auge, unser Blick; wie unsere Triebe uns treiben, so folgen auch unsere sinnenden Gedanken, wir denken und wollen nichts anderes, als was die Leidenschaft uns sagt. Zu hoch, zu groß, zu hehr ist uns das Beispiel JEsu, und wir entlaufen Seinem Hirtenstabe, weil wir keine Lust haben zu Seinen Wegen, und laufen lieber den Weg zur Hölle, weil uns auf dem niemand

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 263. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/271&oldid=- (Version vom 1.8.2018)