« Himmelfahrtstag Wilhelm Löhe
Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
Register der Winterpostille
Pfingsttag »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|

Am Sonntage Exaudi.

1 Petri 4, 8–11.
8. So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet. Vor allen Dingen aber habt unter einander eine brünstige Liebe; denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge. 9. Seid gastfrei unter einander ohne Murmeln. 10. Und dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes. 11. So Jemand redet, daß ers rede als Gottes Wort. So Jemand ein Amt hat, daß er es thue als aus dem Vermögen, das Gott darreichet, auf daß in allen Dingen Gott gepriesen werde durch JEsum Christum, welchem sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

 GAnz in der Nähe des Pfingstfestes sind wir nun angekommen; acht Tage noch, und der Festtag der Ausgießung des heiligen Geistes ist gekommen, der Geburtstag der heiligen Kirche ist da. Darum redet heute schon das Evangelium von dem Zeugnis des Geistes und der Apostel und von der eben so schmerzen- als freudenreichen Sonderung von der Welt, aus welcher die Kirche hervorgehen und wachsen wird. Darum redet aber auch die heutige Epistel bereits von den Tugenden einer Seele, die sich auf Pfingsten bereitet, von Tugenden, denen durch die Ausgießung des heiligen Geistes ein neuer Zufluß kommen muß, damit sie als Mitarbeiterinnen an allen guten Werken der Jünger, die da zeugen sollen, den seligen Zustand der auf Erden unsterblichen, sich immer mehrenden Kirche herbeiführen können. So geben die beiden Texte| Nachricht vom Wort und Verhalten der Jünger, von allem, was zur Aufrichtung der heiligen Kirche auf Erden nöthig ist, und es gehen auch heute Evangelium und Epistel würdiglich neben einander.

 Wenn man die Epistel liest, so ist einem eben, als sollten die Seelen der Jünger geschildert werden, die von der Himmelfahrt Christi nach Jerusalem zurückgehen auf den Söller, auf welchem sie in seliger Gemeinschaft, voll heiliger Erinnerungen, voll Sehnsucht und Gebetes dem großen Tage entgegen gehen, der ihnen neue Kräfte und eine Erhebung ihres Lebens bringen sollte, von der sie zuvor keinen Gedanken hatten. Schon in den Tagen des Lebens JEsu in der Niedrigkeit hatten sie Mittheilungen des heiligen Geistes genug bekommen; in den Worten JEsu wirkte der Geist JEsu auf die Jünger. In den vierzig Tagen nach der Auferstehung, unter den Gesprächen des verklärten HErrn, die Er mit Seinen Jüngern vom Reiche Gottes führte, kamen diesen noch reichere Zuflüße des Geistes. Wenn also nunmehr nach der Auffahrt Christi auf eine neue Ausgießung des heiligen Geistes zu warten ist, so hat man sich nicht zu denken, daß nun alles vorige, die reichen Mittheilungen des heiligen Geistes in den Zeiten des sichtbaren Umgangs mit JEsu Christo, wie nichts angesehen werden sollen; sondern es tritt eben eine neue Stufe ein und den Jüngern, die da haben, wird nun gegeben, auf daß sie die Fülle haben; es geht von Licht zu Licht, von Kraft zu Kraft. Daher kann man in der Epistel Gaben und Tugenden angezeigt finden, die sie am Tage der Himmelfahrt bereits hatten, mit denen erfüllt sie vom Oelberg nach Jerusalem zurückkehrten, und die sie doch auch wieder in neuen Maßen an Pfingsten bekommen sollten. Was sie haben, das wird ihnen auch aufs neue gegeben, nicht bloß anderes und völlig neues, sondern das alte in neuem Maße, Tugenden, die für Pfingsten befähigen, Tugenden, die an Pfingsten neu gegeben, geläutert und gereinigt, gemehrt und gestärkt werden. Wir, meine lieben Brüder, können freilich unsere Gnadenmaße nicht mit denen der Apostel vergleichen: was sind wir gegen die Apostel; aber dennoch, so gering wir sind, es geht uns ganz wie den Aposteln, wir haben Anfänge von Gaben und Tugenden, welche die Fortsetzung bedürfen; unser gesammtes geistliches Leben gleicht den Pflanzen, die, ehe der Frühling kommt, in der Erde stecken und verborgen sind, als wären sie todt, da sie doch nicht todt sind, die aber, wenn die Frühlingslüfte kommen und die Erneuerung der Erde erfolgt, emporgehen, blühen und Früchte tragen, die man von den armen winterlichen Wurzeln nicht gehofft hätte. So haben auch wir in uns ein Leben und dies Leben hat seine Gaben und Tugenden, aber wir harren auf einen Frühling und auf ein Pfingsten, durch welches, was da ist, gemehrt, zur Kraft, zu Trieb und Blüthe und Frucht gefördert werden soll. Es muß auch uns gegeben werden, was wir haben. Das wollen wir im Auge behalten, wenn wir nun mit einander den Text betrachten, der vor uns aufgeschlagen liegt.

 Der Text in seinem ersten Verse und deßen erstem Theile redet vom Gebet. Das erinnert an die zehn Tage vor Pfingsten, welche die Jünger mit Gebet und Flehen in Jerusalem zubrachten. Der gesammte übrige Inhalt des Textes redet von der Liebe, der guten Haushalterin über alle Gaben Gottes, und zeigt, wie diese Liebe in immer weiteren Kreisen, in immer größeren Arbeits- und Berufskreisen und Aemtern das Gute thut, das Heil der Menschen und Gottes Ehre schafft.

 So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet,“ sagt der heilige Apostel. In diesen Worten finden wir einen Stufengang: Mäßigkeit, Nüchternheit, Gebet, und zwar finden wir, daß der Fortschritt dieser drei nicht bloß anzeigt, wie Nüchternheit mehr ist, als Mäßigkeit, Gebet aber höher als beide, sondern wie alle drei mit einander in Beziehung treten, eines das andere vorbereitet und vergleichsweise das Gebet die höchste Höhe ist, zu welcher Mäßigkeit und Nüchternheit emporzustreben haben. Der Name „Gebet“ deutet auf ein hohes geistiges und geistliches Leben. Mäßigkeit und Nüchternheit aber scheinen auf ein so kühles Leben hinzudeuten, daß wir vielleicht von uns selber es für ganz unstatthaft halten würden, mit diesen Namen Vorstufen des Gebetes anzudeuten. Allein, meine geliebten Brüder, da der Apostel die drei zusammenreiht, und die ersten zwei in Beziehung zu dem dritten setzt, so wird es allerdings mit unserer Schätzung der ganzen Reihe von Tugenden nichts sein; Mäßigkeit und Nüchternheit werden sich dem Gebete gegenüber nicht wie Kälte und Wärme verhalten, sondern vielmehr wie die reine Luft zur Flamme, die darinnen lodert, und wir werden das erkennen,| wenn wir mit einander zuerst die drei Worte einzeln betrachtet haben.

 Dasjenige Wort, welches Martin Luther mit dem deutschen Ausdruck „seid mäßig“ übersetzt, ist jenes den heiligen Aposteln so hoch stehende und werthe Wort, welches ich euch schon einmal nach dem griechischen Klange zu merken zugemuthet habe. Ihr werdet euch ja vielleicht noch an jenen Vortrag erinnern, da ich euch den schönen Namen männlicher Tugend, den Namen Sophrosyne nannte. Diese Tugend möchte ich namentlich zum Unterschied von der Nüchternheit eine Tugend nicht der Seele, sondern des Geistes nennen. Sie besteht zunächst in einem gesunden Urtheil über alle Dinge und in dem Bestreben, das gesunde, richtige, weder zur Rechten noch zur Linken von der Wahrheit abweichende Urtheil über alles zu finden, sich anzueignen und zu üben. Wo diese Tugend ist, da schafft sie eine ganz eigene Ruhe und Heiterkeit, eine Freudigkeit und Zuversicht und ein gutes Gewißen gegen jedermann. Diese Tugend ist aber auch nichts leichtes, nichts kleines, weder in unserer noch in früheren Zeiten. Die Heiden konnten das rechte Maß des Urtheils und das rechte Urtheil über die Dinge dieser Erde nicht finden, und auch in unsern gewöhnlichen Umgebungen, die von einem abfälligen Sinn und von weltlichem, antichristlichem Wesen beherrscht werden, kommt man schwer zu richtigem Urtheil und rechtem Maß des Urtheils. Es gehört eine Schule des heiligen Geistes und die bildende Kraft einer heiligen kirchlichen Umgebung dazu, um zu einem gesunden Urtheil gebildet zu werden, zu einem heiligen gottwohlgefälligen Maß der Gedanken. – Verstehen wir nun unter der Mäßigkeit, von welcher hier die Rede ist, eine Tugend des Geistes, so werden wir unter Nüchternheit mehr eine Tugend des Gemüths zu verstehen haben. Es ließe sich denken, daß in der höchsten Region der Seele das gesunde Maß der Gedanken herrschte, während das gemüthliche Leben von Uebertreibung nicht frei bliebe, Nebel der Leidenschaft, Rausch der Begeisterung, Gefangenheit der Neigungen in starkem Contrast zu dem gesunden Urtheil des Geistes ständen. Seelsorger kennen diesen Mangel an Ebenmaß und Harmonie der Menschenseele und wißen es, wie oftmals über trüben Regionen des gemüthlichen Lebens und seiner Stimmungen ein lauteres und gerechtes Maß heiliger Gedanken thront. Allerdings aber ist das ein unerträglicher Widerspruch: nur wo sich eine leidenschaftlose nüchterne Seele mit einem klaren, das göttliche Maß einhaltenden Gedanken vereinigt, gibt es ein rechtes Wohlsein. Schon als ich vorhin die heilige Sophrosyne in ihren Wirkungen und in ihrer schaffenden Macht vor euren Ohren schilderte, wußte und erkannte ich, daß sie nur auf dem Boden der Nüchternheit gedeiht; es war mir schier, als wäre sie die Quelle der Nüchternheit, als müßte sie alle Benebelung der Seele vertreiben, obwohl ich andrerseits auch wußte, wie oft im gewöhnlichen Leben sich die edle Tugend des Geistes im Widerspruch gegen das seelische Befinden und ohne Nüchternheit erweist. Wo nun entweder der Geist nicht richtig urtheilt, oder das Herz im Nebel und Rausche der Leidenschaften und Stimmungen dahin geht, da mangelt der normale Zustand der Seele für das Leben des Gebets. Es beten zwar allerdings Tausende, ohne die beiden genannten Tugenden, aber der Beter, wie er sein soll, ist klaren Geistes und nüchterner Seele; in dem Elemente der Mäßigkeit und Nüchternheit lodert wie unter reichlicher Strömung der Lebenslust die Flamme so das Gebet zu Gott auf, getragen vom rechten Maße heiliger Gedanken, ungehindert von unlauterer Stimmung der Seelen. Die heiligen Apostel bei ihrer Rückkehr vom Oelberg und der Himmelfahrt des HErrn, in der gewaltigen Läuterung, welche ihrer Seele durch die vierzig österlichen Tage und den Heimgang JEsu zu Theil wurde, mögen bereits eine herrliche Stufe des gerechten Maßes im Urtheil und der Nüchternheit der Seele beseßen haben; eben deshalb werden sie auch fürs Gebet und das selige Warten auf ihren Pfingsttag desto geschickter und bereiteter gewesen sein; der Pfingsttag selbst aber wird all dieses Leben und diesen herrlichen Zustand der Mäßigkeit, Nüchternheit und des Gebetes nur desto mehr erhoben, gereift und gestärkt haben. Das beweist die heilige Rede Petri am Pfingsttag, welche, wenn irgend etwas, der Spiegel einer mäßigen, nüchternen und betenden Seele ist. Möchte uns allen einem so heiligen Vorbilde nach durch den Geist der Pfingsten gegeben werden Mäßigkeit, Nüchternheit und Gebet. Unmaß, Mangel an Nüchternheit bindet die Flügel der Seele, daß sie nicht auffahren kann zum Gebet, wie gebunden am Boden liegt und den Weg zum Himmel nicht findet, welcher doch der Weg ihrer Heimath ist.

|  Gehen wir nun, lieben Brüder, in dem ersten Verse der Epistel weiter zu ihrem zweiten Theile, welcher von der Liebe handelt.

 Vor allen Dingen, sagt St. Petrus, habt unter einander eine brünstige Liebe.“ Also ist der Apostel nicht zufrieden, wenn Mäßigkeit, Nüchternheit und Gebet vorhanden ist, sondern er will vor allen Dingen die Liebe, und zwar eine brünstige Liebe, wie Luther übersetzt. Der mit dem Worte „brünstig“ übersetzte Ausdruck heißt eigentlich „ausgestreckt, angestrengt“; eine ausgestreckte, angestrengte Liebe muß aber eine starke, mächtige Liebe sein, eine brünstige Liebe; wie könnte sie ausgestreckt, wie könnte sie angestrengt sein, wenn keine Kraft da wäre, sich auszudehnen, und keine Macht, große Anstrengung zu machen und Thaten zu thun. Indem nun der Apostel von seinen Christen eine solche mächtige und ausgedehnte Liebe verlangt, stellt er ihr auch gleich die rechten Aufgaben, womit er gerade dies Wort „ausgedehnt, ausgestreckt, angestrengt“ erklärt. Er sagt nemlich: „Habt unter einander eine ausgedehnte Liebe, denn die Liebe decket der Sünden Menge.“ Da ist uns also gesagt, wohin sich die Liebe erstrecken soll, wohin sich ausdehnen, nemlich über die Menge der Sünden unsrer Brüder. Das reizt zum Nachdenken und zur Selbstprüfung. Die meisten Christen können ihre eigenen Sünden und Fehler gar wohl vertragen und sich mit ihnen hinschleppen durch die Welt, ohne an ihrer Seligkeit zweifelhaftig zu werden. Dagegen aber vertragen sie die Fehler und Sünden ihrer Brüder sehr schwer. Es ist eine gemeine Rede geworden: „Der und der kann kein Christ sein, denn er hat das oder das gesagt oder gethan.“ Während sie also für sich stündlich und täglich die Gnade Gottes in Anspruch nehmen und von ihr leben wollen, wird die Aufrichtigkeit des Christentums Anderer rein nach dem Maße der Heiligung beurtheilt, welcher in das menschliche Auge und Gericht fällt. Für die eigene Person bedarf und hält man täglich die Lehre der heiligen Schrift und der Lutheraner fest, daß auch die, welche nach der Taufe sündigen, in keiner andern Weise Ruhe für ihre Seelen finden können, als die ungetauften Sünder, daß sie allein aus Gnaden selig werden. Auf andere aber kann man die Lehre nicht anwenden, mit denen ist alles aus, wenn es auch ihnen geht, wie uns selbst alle Tage, wenn sich die Sünde häuft. Statt die Sünde zu decken, wie unser Text uns anleitet, flieht man von den Sündern, überläßt sie sich selbst und dem Urtheil Gottes und excommunicirt sie, noch ehe die Kirche sie excommunicirt hat, ja ehe sie dieselben hat excommuniciren können. Dieser starke Pharisäismus, diese heimliche, aber an gewissen Zeichen zu Tage stehende Hinneigung zur Selbstgerechtigkeit, diese Hochschätzung der eigenen Persönlichkeit bei der Erkenntnis vorhandener vieler Sünden, diese Verachtung anderer bei auch nur geringer Erkenntnis ihrer Sünden, kann in der Kirche Gottes nicht oft, nicht scharf genug gestraft, nicht unbarmherzig genug bloß gelegt, davor nicht ernst genug gewarnt werden. Das ist das reine Gegentheil der brünstigen Liebe, die der Sünden Menge deckt, das reine Gegentheil des JEsus, der Seine Jünger mit ihren Fehlern und Sünden so lange getragen hat, ohne an ihnen irre und ihrer müde zu werden, das reine Gegentheil deßen, was in unsrem Texte wie eine vierte Stufe des inwendigen geistlichen Lebens und schier wie über das Gebet erhaben genannt wird. Der HErr, der barmherzig ist und gnädig, mache uns in Liebe barmherzig und verleihe uns allen die ausgedehnte, ausgestreckte starke und unermüdliche Liebe, welche siebenzigmal siebenmal verzeiht und die Hoffnung an denen nicht aufgibt, die sich der Sünde langsam entwöhnen.

 Die Liebe erscheint also zunächst in unsrem Texte als eine deckende und verzeihende. Diese deckende und verzeihende Liebe aber wird sich vornehmlich an denen erweisen, unter welchen man lebt, also an den Brüdern und Freunden, mit denen man umgeht, da man ja Fehler und Sünden weniger an denen bemerken kann, die uns leiblich ferne leben, mit denen wir nicht zusammenkommen, als an denen, in deren beständigem Umgang man lebt. Die Liebe hat aber allerdings auch weitere Kreise, und einer von den weiteren Kreisen, von welchen die Rede sein kann, wird in dem Verse angedeutet, deßen nähere Betrachtung uns nun gerade obliegt. „Seid gastfrei unter einander ohne Murmeln,“ spricht St. Petrus. Unter den Gästen, die hier gemeint sind, welche die Liebe frei halten soll und sich ihrer annehmen, sind allerdings nicht alle die gemeint, welche wir Gäste zu nennen pflegen. Es liegt in unsern Sitten, daß sich Nachbarn und Freunde einander besuchen. Unsre Landleute gehen zu einander| wie sie zu sagen pflegen, „ins Dorf,“ in der „Sitzweile,“ oder sonst bei gegebener Gelegenheit. Unter den Christen der sogenannten gebildeteren Stände hat sich die Sitte des gegenseitigen Besuchs, oder wie man sich mit einem fremden Worte auszudrücken pflegt, der Visite, festgesetzt. Da besucht man sich nicht irgend einer Nothdurft halben, oder weil man des nachbarlichen oder freundlichen Dienstes bedarf, sondern es sind die Annehmlichkeiten des Umgangs und die Freuden der Gemeinschaft, die man sucht. Die sich nun auf diese Weise einander besuchen, heißen sich auch Gäste, und was sie an einander üben, heißt gleichfalls Gastfreundschaft. Von dieser Gastfreundschaft aber redet St. Petrus nicht; auch ist sie in keiner von den berühmten Stellen des heiligen Paulus, welche von der Gastfreundschaft handeln, mit eingeschloßen. Allenthalben in der heiligen Schrift ist von der Liebe gegen den Fremdling und Pilgrim die Rede. Wir haben aller Orten unsere Gasthäuser, in denen ein Jeder um Geld die Dienste haben kann, welche er in der Fremde bedarf; diese Einrichtung verdient an und für sich selber keinen Tadel, kann aber allerdings, je nachdem sie an dem oder jenem Orte gestaltet ist, bald des Lobes oder Tadels werth sein. Dagegen aber ist es keinem Zweifel unterworfen, daß dem Fremdling das Haus des Gastfreundes trauter und heimathlicher ist, als ein Gasthaus, eine Gastwirthschaft; der Fremdling, der in fernen Gegenden reist, wird, wenn auch nicht die leibliche Gemächlichkeit, die er auch in jedem Gasthaus finden kann, doch aber die Liebe und Güte, die Freundschaft und Bruderschaft der Gastfreunde hoch anschlagen und für seine Seele eine große Genüge darinnen finden. Und diese Güte und Liebe, Freundschaft und Bruderschaft gegen den Fremdling, insonderheit gegen den reisenden Glaubensgenoßen ist es, welche Christus und Seine Apostel so hoch ehren, und welche der HErr, der Richter der Welt, an jenem großen Tage noch ehren und hervorheben wird; denn Er wird ja zu den Seinen sagen: „Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt Mich beherbergt.“ Dem Fremdling entgegen kommen, im Fremdling JEsum kommen sehen, im Fremdling den Erlöser bedienen, und zwar nach St. Petri Forderung ohne Murmeln, ohne Unzufriedenheit über die Störung oder den Kostenaufwand, das ist die Liebe des weitern Kreises, von welcher unser Text spricht. Wie viele Menschen, ich sage Christen, namentlich diejenigen, die selbst in beschränkten Verhältnissen leben, fliehen die Gastfreundschaft und halten es für eitel Lebensplage, den Fremdling aufnehmen zu sollen. Der geizige Landmann, der ebenso geizige, selbstsüchtige, seine ungestörte Häuslichkeit bewachende Spießbürger in den Städten will nichts vom Fremdling und vom Herbergen wißen; muß er’s dennoch einmal Ehren oder Schanden halben übernehmen, einen fremden Bruder in sein Haus und seine Bedienung aufzunehmen, so geschieht es mit Murmeln. In manchen Gegenden ist sogar der liebe Name „Gast“ zu einem Schimpfwort geworden, hie und da findet der Fremde bei Jungen und Alten Hohn und Spott, Verachtung und Haß, ohne daß jemand dran denkt, daß die Liebe zum Fremdling ebenso wohl geboten ist, als jede andere Tugend, und daß der HErr es an jenem großen Tage rächen wird, wenn man im Fremdling nicht Ihn selbst begrüßte und Ihm nicht die heimathliche Liebe entgegen trug. Eingedenk deßen bildete sich in der ersten christlichen Zeit die Liebe zum Fremdling fast systematisch aus. Jeder Reisende trug als das theuerste Dokument den Empfehlungsbrief seines Bischofs bei sich, wohin er gieng. Diese Empfehlungsbriefe, über deren Form die Bischöfe mit einander überein gekommen waren, waren wie Schlüßel zu den Herzen und der Liebe der Gläubigen. So wie sie übergeben und richtig befunden waren, war der Fremdling bei den Seinen, von heimathlicher Liebe umfangen, in allen Stücken versorgt, wie ers bedurfte. Die Liebe zum Fremdling erschien in der verklärten Gestalt der Bruderliebe. Daher auch alle Heiden, sogar diejenigen, unter welchen die Gastfreundschaft selbst etwas Heiliges war, beim Anblick dieser schnellen Liebe und heimathlichen Vertrautheit erstaunten und kaum glauben konnten, daß es hie mit rechten Dingen zugehe. Wahrlich, der Gehorsam des Altertums gegen den apostolischen und göttlichen Befehl der Fremdlingsliebe ist aller Nachahmung werth, und die Fremdlingsliebe selbst ist werth, als Schwester neben jener Liebe zu stehen, welche der Sünden Menge deckt. Daheim in der nächsten Umgebung tragen und verzeihen, dem Fremdling aber liebevoll entgegen kommen und für ihn als für einen Bruder sorgen: da ist wahrlich eines so schön wie das andere und weckt eines so viel Liebe und Ehrerbietung als das andere. Fast| möchte man auch glauben, die verzeihende tragende Liebe, so selten sie ist, sei doch immer noch öfter zu finden, als jene zarte Tugend der Fremdlingsliebe ohne Murren, die, anmuthig wie eine Frühlingsblume der Pfingstzeit, Gottes und der Menschen Wohlgefallen, Gottes und der Menschen Segen und Vergeltung erben muß.

 Die beiden Aeußerungen der Liebe, jene, die der Sünden Menge deckt, diese, die dem Fremdling freudig entgegen kommt, können wie Anführerinnen einer großen Schaar von andern Liebesäußerungen angesehen werden; wenn der Apostel gewollt hätte, so hätte er auf diese beiden noch ein großes Register von Liebeswerken folgen laßen können, deren jedes den schon genannten ebenbürtig hätte zur Seite treten können. Statt deßen aber wählt er eine allgemeine Anweisung zum Guten und schreibt im zehnten Verse: „Dienet einander ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes.“ Hiebei sind Gabe und Gnade, oder genau zu reden, Gnadengabe und Gnade unterschieden. Beide unterscheiden sich von einander wie die Materie von ihrer Anwendung. Gott gibt den Menschen mancherlei Gnaden, aber auch mancherlei Gabe, die Gnade zum Heile anderer anzuwenden, andern damit zu dienen. Die Gnade wird empfangen, die Gnadengabe aber ist eine Geberin, welche die empfangene göttliche Gabe weiter befördert, damit ihr Segen und ihre Freude sich in immer weitere Kreise verbreiten könne. Da der HErr die Seinen zu Verwaltern und Haushaltern Seiner Gnadengüter bestellen will, ist nichts nöthiger, als daß Er ihnen auch die nöthigen Verwaltungs- und Haushaltungsgaben schenke, die Charismen, um das griechische Wort zu gebrauchen, ohne welche so hohe Güter nicht recht angewendet werden können. Gottes Gnaden und geistlichen Gaben können von einer pur menschlichen Weisheit nicht verwaltet werden; zu Haushaltern über Gottes Güter kann man keine Menschen setzen, die ihrem eigenen Sinn und Willen folgen, sondern nur solche, die sich von einer göttlichen Weisheit leiten laßen und diese göttliche Weisheit als Gnadengabe besitzen. Es fehlt denn auch der Kirche an dieser Gabe und Weisheit nicht, sondern einer jeglichen göttlichen Gnade zur Seite steht und geht eine Haushaltungs- und Verwaltungsgabe; so wenig der Kirche die göttlichen Güter fehlen, ebenso wenig fehlen ihr die Charismen, dieselben andern nutzbar zu machen. Was aber allerdings häufig fehlt, das ist die Liebe, welche das Charisma weckt und ins Leben ruft, und ohne welche viele Güter Gottes und viele edle Haushaltungsgaben im Reiche Gottes gar nicht zur Wirksamkeit und zum Leben kommen. Daher bleibt auch im Bereiche dieses zehnten Verses die Liebe die Königin, weil keine Gnade und keine Gnadengabe treibt und keimt und blüht und Früchte trägt ohne sie, weil sie der Frühling und das Element ist, unter deßen Einwirkung alle heiligen Kräfte, Gaben und Güter des lebendigen Gottes zum Vorschein kommen und thun, wozu sie gegeben sind. Ist nun die Liebe, welche die Sünden bedeckt und die Fremdlingsliebe zwei Meien gleich, die am Fest der Pfingsten ins Gotteshaus gesteckt werden, um es mit ihrem frischen Dufte zu durchgehen, so wird uns im zehnten Verse ein ganzes Liebesparadies gezeigt, wo unzählige Gnaden und Gnadengaben die ganze Luft und Atmosphäre mit Frühlingsduft erfüllen. Die christliche Gemeinde aber ist Besitzerin nicht bloß der beiden Meien, sondern des ganzen Paradieses, und ihr zu Gute kommen alle Gnaden und Gnadengaben.

 Der allgemeinste Vers im ganzen Texte ist der zehnte, den wir so eben mit einander betrachtet haben. Der letzte Vers aber, der eilfte, gibt zu dem allgemeinen zehnten Verse wiederum vortreffliche, paßende Beispiele.

 So jemand redet, spricht St. Petrus, daß ers rede als Gottes Wort. So jemand dienet, daß er es thue als aus dem Vermögen, das Gott darreicht, auf daß in allen Dingen Gott gepreiset werde durch JEsum Christ, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Unter den Gnadengütern, welche der HErr Seiner Kirche verliehen hat, steht Sein theures Wort oben an. Zu dem hohen Gnadengute des Wortes aber hat der HErr Seinen Haushaltern, den Hirten und Lehrern der Gemeinden, die Gnadengabe verliehen, das göttliche Wort Seiner würdig als Gottes Wort auch vorzutragen. Da haben wir also ein Beispiel zu der allgemeinen apostolischen Vermahnung im zehnten Verse. Und wie dieses aus dem Bereiche des Hirten und Lehrerberufes genommen ist, so wird nun ein zweites allem Anscheine nach aus dem Berufe des| Diakonus oder Armenpflegers genommen. „So jemand dienet, ermahnt St. Petrus, daß er es thue nach dem Vermögen, das Gott darreicht.“ So wie bei dem ersteren Beispiel das Wort Gottes die Sache und das Gut ist, welche verwaltet werden soll, so ist es bei dem zweiten die zeitliche irdische Gabe des Almosens. Und wie der Hirte und Lehrer die Gnadengabe hat, Gottes Worte als Gottes Worte zu gebrauchen; so hat der Diakonus, der Armenpfleger die Gnadengabe, die zeitlichen Güter und Almosen nach der von Gott dargereichten Macht, d. i. nachdem vorhandenen Maße der Güter selber für die Nothdurft der Armen anzuwenden. Zwar haben manche davon nichts wißen wollen, daß in diesen beiden Beispielen die Gnadengabe des Presbyters und des Diakonus beispielsweise vorgelegt werde, sie haben die erste Ermahnung: „So jemand redet, daß er es rede als Gottes Wort“ auf alle Reden aller Christen bezogen, den zweiten Satz aber: „So jemand dienet, daß er es thue aus dem Vermögen, das Gott darreicht,“ wenn auch nicht auf alle Christen, doch auf alle Aemter unter den Christen bezogen, wie denn auch Luther übersetzt: So jemand ein Amt hat etc. Allein auf diese Weise paßt der erstere Satz nicht zum ganzen Zusammenhang. Es ist ja von Gnaden und Gnadengaben die Rede, und da möchte man denn fragen, ob der Satz, wenn er von einer Gabe redet, nicht von einer allgemeinen Gabe reden müße, ob dann nicht von allen, die da reden, also von allen Christen verlangt werden müße, daß sie alles, was sie reden, als Gottes Worte reden sollen: ein Verlangen, dem ohne Zweifel keine Statt gegeben werden kann, denn wie könnten wohl Alle alle ihre Reden als Gottes Worte halten? Das kann man wohl von den Hirten und Lehrern fordern und von ihren amtlichen Vorträgen, dagegen aber ist es eine unmögliche Sache, alles was man im ganzen Leben redet, als Gottes Wort zu reden. Wird sich aber dies einem jeden, der überlegt, empfehlen, so wird auch der zweite Satz von denen, die da dienen, sich leicht und natürlich auf das apostolische Amt des Diakonus oder Armenpflegers anwenden. Da paßt dann auch alles, die Kraft, die Gott darreicht, man verstehe darunter die materielle Kraft des Almosens, oder die Kraft des Geistes und Körpers, welcher ein rechter Diakonus zum Dienste der Armen und Elenden bedarf. Da sehen wir dann auch die beiden stehenden Aemter apostolischer Gemeinden mit ihren Gnadengütern und Haushaltungsgaben, wie sie von der Liebe in die Hand genommen und von dieser besten unter allen Haushälterinnen Gottes zum Wohle der Gemeinden angewendet werden. Wenn so die Liebe über Gottes Gaben und Güter waltet, ja über Gottes Aemter, dann wird auch Gott gepriesen durch JEsum Christum, der Seiner Gemeinde die Güter, die Gaben, die Aemter ausgemittelt und verschafft hat, dann dient auch alles mit einander zum Preise des Christus, dem in die Ewigkeiten der Ewigkeiten die Herrlichkeit und die Kraft des lebendigen Gottes beigelegt ist. Da wird alsdann der Vater gepriesen in dem Sohne und der Sohn geehret zu desto größerer Ehre Seines Vaters.

 Mäßigkeit, Nüchternheit, Gebet, Liebe, mächtige angestrengte Liebe, welche die Sünden bedeckt, dem Fremdling dienet, Güter und Gaben und Aemter als Gottes gute Haushälterin seliglich verwaltet: dieser schöne Inhalt der Epistel, die wir gelesen haben, leitet uns in die Woche hinüber, die vor dem Pfingstfest hergeht. Dieser Inhalt ist eine Prüfungstafel, wirkt Scham, Reue und Verzagen bei allen denen, die sich richtig und ernstlich prüfen, treibt aber auch hinein ins Gebet und erweckt in uns die große Sehnsucht, solch pfingstmäßiges frühlinghaftes Leben in unsere Seelen zu bekommen. Da helfe uns denn der HErr Selber, der im Himmel ist, der aufgefahrene ewige Hohepriester, erhörlich beten und seufzen, und wende uns nach der Macht Seines Königreichs ein Pfingstfest zu, das uns innerlich mit den reichen Gaben beschenke, von denen unser Text spricht. Amen.




« Himmelfahrtstag Wilhelm Löhe
Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
Pfingsttag »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).