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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

möchte man auch glauben, die verzeihende tragende Liebe, so selten sie ist, sei doch immer noch öfter zu finden, als jene zarte Tugend der Fremdlingsliebe ohne Murren, die, anmuthig wie eine Frühlingsblume der Pfingstzeit, Gottes und der Menschen Wohlgefallen, Gottes und der Menschen Segen und Vergeltung erben muß.

 Die beiden Aeußerungen der Liebe, jene, die der Sünden Menge deckt, diese, die dem Fremdling freudig entgegen kommt, können wie Anführerinnen einer großen Schaar von andern Liebesäußerungen angesehen werden; wenn der Apostel gewollt hätte, so hätte er auf diese beiden noch ein großes Register von Liebeswerken folgen laßen können, deren jedes den schon genannten ebenbürtig hätte zur Seite treten können. Statt deßen aber wählt er eine allgemeine Anweisung zum Guten und schreibt im zehnten Verse: „Dienet einander ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes.“ Hiebei sind Gabe und Gnade, oder genau zu reden, Gnadengabe und Gnade unterschieden. Beide unterscheiden sich von einander wie die Materie von ihrer Anwendung. Gott gibt den Menschen mancherlei Gnaden, aber auch mancherlei Gabe, die Gnade zum Heile anderer anzuwenden, andern damit zu dienen. Die Gnade wird empfangen, die Gnadengabe aber ist eine Geberin, welche die empfangene göttliche Gabe weiter befördert, damit ihr Segen und ihre Freude sich in immer weitere Kreise verbreiten könne. Da der HErr die Seinen zu Verwaltern und Haushaltern Seiner Gnadengüter bestellen will, ist nichts nöthiger, als daß Er ihnen auch die nöthigen Verwaltungs- und Haushaltungsgaben schenke, die Charismen, um das griechische Wort zu gebrauchen, ohne welche so hohe Güter nicht recht angewendet werden können. Gottes Gnaden und geistlichen Gaben können von einer pur menschlichen Weisheit nicht verwaltet werden; zu Haushaltern über Gottes Güter kann man keine Menschen setzen, die ihrem eigenen Sinn und Willen folgen, sondern nur solche, die sich von einer göttlichen Weisheit leiten laßen und diese göttliche Weisheit als Gnadengabe besitzen. Es fehlt denn auch der Kirche an dieser Gabe und Weisheit nicht, sondern einer jeglichen göttlichen Gnade zur Seite steht und geht eine Haushaltungs- und Verwaltungsgabe; so wenig der Kirche die göttlichen Güter fehlen, ebenso wenig fehlen ihr die Charismen, dieselben andern nutzbar zu machen. Was aber allerdings häufig fehlt, das ist die Liebe, welche das Charisma weckt und ins Leben ruft, und ohne welche viele Güter Gottes und viele edle Haushaltungsgaben im Reiche Gottes gar nicht zur Wirksamkeit und zum Leben kommen. Daher bleibt auch im Bereiche dieses zehnten Verses die Liebe die Königin, weil keine Gnade und keine Gnadengabe treibt und keimt und blüht und Früchte trägt ohne sie, weil sie der Frühling und das Element ist, unter deßen Einwirkung alle heiligen Kräfte, Gaben und Güter des lebendigen Gottes zum Vorschein kommen und thun, wozu sie gegeben sind. Ist nun die Liebe, welche die Sünden bedeckt und die Fremdlingsliebe zwei Meien gleich, die am Fest der Pfingsten ins Gotteshaus gesteckt werden, um es mit ihrem frischen Dufte zu durchgehen, so wird uns im zehnten Verse ein ganzes Liebesparadies gezeigt, wo unzählige Gnaden und Gnadengaben die ganze Luft und Atmosphäre mit Frühlingsduft erfüllen. Die christliche Gemeinde aber ist Besitzerin nicht bloß der beiden Meien, sondern des ganzen Paradieses, und ihr zu Gute kommen alle Gnaden und Gnadengaben.

 Der allgemeinste Vers im ganzen Texte ist der zehnte, den wir so eben mit einander betrachtet haben. Der letzte Vers aber, der eilfte, gibt zu dem allgemeinen zehnten Verse wiederum vortreffliche, paßende Beispiele.

 So jemand redet, spricht St. Petrus, daß ers rede als Gottes Wort. So jemand dienet, daß er es thue als aus dem Vermögen, das Gott darreicht, auf daß in allen Dingen Gott gepreiset werde durch JEsum Christ, welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Unter den Gnadengütern, welche der HErr Seiner Kirche verliehen hat, steht Sein theures Wort oben an. Zu dem hohen Gnadengute des Wortes aber hat der HErr Seinen Haushaltern, den Hirten und Lehrern der Gemeinden, die Gnadengabe verliehen, das göttliche Wort Seiner würdig als Gottes Wort auch vorzutragen. Da haben wir also ein Beispiel zu der allgemeinen apostolischen Vermahnung im zehnten Verse. Und wie dieses aus dem Bereiche des Hirten und Lehrerberufes genommen ist, so wird nun ein zweites allem Anscheine nach aus dem Berufe des

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/308&oldid=- (Version vom 1.8.2018)