Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/306

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Gehen wir nun, lieben Brüder, in dem ersten Verse der Epistel weiter zu ihrem zweiten Theile, welcher von der Liebe handelt.

 Vor allen Dingen, sagt St. Petrus, habt unter einander eine brünstige Liebe.“ Also ist der Apostel nicht zufrieden, wenn Mäßigkeit, Nüchternheit und Gebet vorhanden ist, sondern er will vor allen Dingen die Liebe, und zwar eine brünstige Liebe, wie Luther übersetzt. Der mit dem Worte „brünstig“ übersetzte Ausdruck heißt eigentlich „ausgestreckt, angestrengt“; eine ausgestreckte, angestrengte Liebe muß aber eine starke, mächtige Liebe sein, eine brünstige Liebe; wie könnte sie ausgestreckt, wie könnte sie angestrengt sein, wenn keine Kraft da wäre, sich auszudehnen, und keine Macht, große Anstrengung zu machen und Thaten zu thun. Indem nun der Apostel von seinen Christen eine solche mächtige und ausgedehnte Liebe verlangt, stellt er ihr auch gleich die rechten Aufgaben, womit er gerade dies Wort „ausgedehnt, ausgestreckt, angestrengt“ erklärt. Er sagt nemlich: „Habt unter einander eine ausgedehnte Liebe, denn die Liebe decket der Sünden Menge.“ Da ist uns also gesagt, wohin sich die Liebe erstrecken soll, wohin sich ausdehnen, nemlich über die Menge der Sünden unsrer Brüder. Das reizt zum Nachdenken und zur Selbstprüfung. Die meisten Christen können ihre eigenen Sünden und Fehler gar wohl vertragen und sich mit ihnen hinschleppen durch die Welt, ohne an ihrer Seligkeit zweifelhaftig zu werden. Dagegen aber vertragen sie die Fehler und Sünden ihrer Brüder sehr schwer. Es ist eine gemeine Rede geworden: „Der und der kann kein Christ sein, denn er hat das oder das gesagt oder gethan.“ Während sie also für sich stündlich und täglich die Gnade Gottes in Anspruch nehmen und von ihr leben wollen, wird die Aufrichtigkeit des Christentums Anderer rein nach dem Maße der Heiligung beurtheilt, welcher in das menschliche Auge und Gericht fällt. Für die eigene Person bedarf und hält man täglich die Lehre der heiligen Schrift und der Lutheraner fest, daß auch die, welche nach der Taufe sündigen, in keiner andern Weise Ruhe für ihre Seelen finden können, als die ungetauften Sünder, daß sie allein aus Gnaden selig werden. Auf andere aber kann man die Lehre nicht anwenden, mit denen ist alles aus, wenn es auch ihnen geht, wie uns selbst alle Tage, wenn sich die Sünde häuft. Statt die Sünde zu decken, wie unser Text uns anleitet, flieht man von den Sündern, überläßt sie sich selbst und dem Urtheil Gottes und excommunicirt sie, noch ehe die Kirche sie excommunicirt hat, ja ehe sie dieselben hat excommuniciren können. Dieser starke Pharisäismus, diese heimliche, aber an gewissen Zeichen zu Tage stehende Hinneigung zur Selbstgerechtigkeit, diese Hochschätzung der eigenen Persönlichkeit bei der Erkenntnis vorhandener vieler Sünden, diese Verachtung anderer bei auch nur geringer Erkenntnis ihrer Sünden, kann in der Kirche Gottes nicht oft, nicht scharf genug gestraft, nicht unbarmherzig genug bloß gelegt, davor nicht ernst genug gewarnt werden. Das ist das reine Gegentheil der brünstigen Liebe, die der Sünden Menge deckt, das reine Gegentheil des JEsus, der Seine Jünger mit ihren Fehlern und Sünden so lange getragen hat, ohne an ihnen irre und ihrer müde zu werden, das reine Gegentheil deßen, was in unsrem Texte wie eine vierte Stufe des inwendigen geistlichen Lebens und schier wie über das Gebet erhaben genannt wird. Der HErr, der barmherzig ist und gnädig, mache uns in Liebe barmherzig und verleihe uns allen die ausgedehnte, ausgestreckte starke und unermüdliche Liebe, welche siebenzigmal siebenmal verzeiht und die Hoffnung an denen nicht aufgibt, die sich der Sünde langsam entwöhnen.

 Die Liebe erscheint also zunächst in unsrem Texte als eine deckende und verzeihende. Diese deckende und verzeihende Liebe aber wird sich vornehmlich an denen erweisen, unter welchen man lebt, also an den Brüdern und Freunden, mit denen man umgeht, da man ja Fehler und Sünden weniger an denen bemerken kann, die uns leiblich ferne leben, mit denen wir nicht zusammenkommen, als an denen, in deren beständigem Umgang man lebt. Die Liebe hat aber allerdings auch weitere Kreise, und einer von den weiteren Kreisen, von welchen die Rede sein kann, wird in dem Verse angedeutet, deßen nähere Betrachtung uns nun gerade obliegt. „Seid gastfrei unter einander ohne Murmeln,“ spricht St. Petrus. Unter den Gästen, die hier gemeint sind, welche die Liebe frei halten soll und sich ihrer annehmen, sind allerdings nicht alle die gemeint, welche wir Gäste zu nennen pflegen. Es liegt in unsern Sitten, daß sich Nachbarn und Freunde einander besuchen. Unsre Landleute gehen zu einander

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/306&oldid=- (Version vom 1.8.2018)