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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am Sonntage Cantate.

Jakobi 1, 16–21.
16. Irret nicht, lieben Brüder. 17. Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei welchem ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und der Finsternis. 18. Er hat uns gezeuget nach Seinem Willen, durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir wären Erstlinge Seiner Creaturen. 19. Darum, lieben Brüder, ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden, und langsam zum Zorn. 20. Denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist. 21. Darum so leget ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmet das Wort an mit Sanftmuth, das in euch gepflanzet ist, welches kann eure Seelen selig machen.

 IMmer näher, meine lieben Brüder, treten wir dem Feste der Pfingsten; die österlichen Gedanken treten bereits zurück, die des hohen Pfingsten machen sich geltend: vorwärts strebt die Zeit, unaufhaltsam führt der Geist der Kirche die Heiligen Gottes der Vollendung entgegen. Das zeigt sich auch an den beiden Texten des heutigen Tages. Das Evangelium redet in Einem Zusammenhange von dem Hingang JEsu zu Seinem Vater, von Seiner Himmelfahrt und Heimkunft, von der Sendung des heiligen Geistes, die von der Heimkunft JEsu abhängt, und von den großen Werken des Geistes, die Er in der Welt und in der Kirche üben soll. Die Welt soll überwiesen werden von Sünde, Gerechtigkeit und Gericht, die Kirche aber soll in alle Wahrheit geleitet werden durch den Geist des HErrn. Da lebt und webt es alles so frühlingsmäßig, der Geist Gottes und Seine Kräfte sind allenthalben zu erkennen, das Land wird voll der Güter des HErrn. In demselben hohen Pfingstton aber redet auch die Epistel. Da sieht man den Himmel der Kirche voll Frühlingswolken, die Regen und Segen bringen, dazu voll Güter und Gaben, die herabsteigen aus den ewigen Höhen und die armen Pilger auf Erden erfreuen sollen. Und wie in der Geschichte der Schöpfung erst Himmel und Erde und Paradies muß fertig werden, ehe der Mensch geschaffen wird, der in dasselbe eintreten soll, wie in sein Königreich: so redet die Epistel zuerst von allen guten geistlichen Gaben, die Gott vom Himmel schickt, dann aber von der geistlichen Neugeburt des Menschen selbst, dem zu Hilf und Heil alle Gaben geschenkt werden. Auch da ist es ja, wie wenn sich das Angesicht der Erde erneut und dann der Mensch mit Lob und Dank hinaustritt in seinen schönen Aufenthalt und in ihm wandelt. Nicht ohne Absicht, setzte ich dazu „und in ihm wandelt,“ denn die Epistel redet nicht allein von den Gaben Gottes und von der Neugeburt des Menschen, sondern auch von dem heiligen Wandel des Neugeborenen. Sehen wir also im Evangelium den Geist des HErrn geschäftig, die Welt zur Kirche, die Kirche selbst aber in alle Wahrheit zu leiten, so sehen wir in der Epistel, wie der Geist des HErrn die aus Gott geborene Kirche zum Besitze aller Himmelsgüter und zu einem Leben voll Heiligung und Tugend leitet. Da wird das Herz durch Einfluß unserer Texte sehnsüchtig und verlangend nach einer Wiederholung des Pfingstens, nach neuen Erfahrungen der Gnade Gottes. Nicht bloß beschrieben will man sehen und hören, was Gott den Seinen thun will; inne werden, erfahren will man es. Da nun aber der Weg der Erfahrung kein anderer ist, als der des göttlichen Wortes, und der HErr das geben will, wovon Er spricht, und zwar| durch den Hauch Seines Mundes und das Wort Seiner Rede, so laßt uns mit Freuden hineingehen in den blühenden, frühlingsmäßigen Pfingstgarten unserer Epistel; der HErr aber sei mit uns und schenke uns alles, wovon Er redet, und gebe uns, was Er verheißt.

 Schon in der bisher gesprochenen Einleitung konnte ein aufmerksamer Hörer bemerken, daß unser heutiger epistolischer Text in drei Theile zerfällt. Die beiden ersten Verse wehren eine gefährliche Meinung von dem Wege des Christen ab, eine Meinung, die wir sammt der Abwehr im ersten Theile unsres Vortrags ins Auge faßen müßen. Der nächstfolgende dritte Vers des Textes, der achtzehnte des Kapitels, zeigt uns, wie schon gesagt, die Herrlichkeit der neuen Creatur aus Gott. Die drei letzten Verse, Vers 19–21, zeigen uns heilige Folgen und Absichten Gottes bei unserer neuen Geburt auf dem Gebiete unserer Heiligung. Laßt uns nun diese drei Theile mit einander betrachten, wo möglich einen jeden nach dem Maße, welches der Text selbst einhält, so daß wir nicht einen jeden Theil wie nach der Elle gleich zu machen suchen, sondern die von uns gemachte Eintheilung nur treu benützen, den Gedankengang des Apostels desto leichter zu bemerken und zu behalten.


 Da geht ein Mensch dahin auf der Straße, unversehens fällt er und beschädigt sich. Was pflegt man einem solchen zum Troste zuzurufen? Man ruft ihm zu: das ist vom HErrn, ohne Deßen Willen kein Sperling vom Dach, ja kein Haar vom Haupte fallen kann. Da geht ein anderer, nicht die gepflasterte Straße, aber seinen Lebensweg dahin; eine Weile geht er sacht und gerad und still, richtig und unsträflich; aber noch eine Weile, und siehe, der Ruhm ist aus, der schöne Anfang ist zum häßlichen Ende gekommen, ein Sündenfall ist geschehen, die sittige Tochter ist zur Hure, der scheinbar ehrenfeste Sohn zum Verführer, der fromme Mann zum Ehebrecher geworden u. s. w. Was sagt nun in solchem Fall kein Pfarrer, wohl aber eine Stimme im eignen Herzen, eine verführerische, gleißende? Sie sagt: Ohne Gottes Willen ist nichts; so wenig du ohne den Willen Gottes fallen und ein Bein brechen kannst, eben so wenig kannst du ohne Seinen Willen in eine Sünde fallen; deine Sünde ist Gottes Wille. – Schauderhaftes Wort! heilloser Widerspruch: die Sünde – Gottes Wille! Aber sollte mans glauben, diese Stimme kann Gehör finden bei den Gefallenen, und die vernünftige Menschenseele, welche sonst den Widerspruch so sehr scheut, es für die größte Schande hält, sich selbst zu widersprechen, kann ihre Ruhe in einem Gedanken suchen, ja gar zu finden und zu haben glauben, der Gott mit Sich Selbst in Widerspruch setzt! Es sind zwei verschiedene Reiche, das Reich der Natur und das sittliche Reich der Geister und Seelen; in jenem herrscht Gottes Machtgebot, in diesem aber ist Gottes heiliger Wille nicht unwiderstehlich, sondern der Geist, die Seele, welche es wagen will, kann Trotz bieten dem Allmächtigen und nein sagen zu Dem, Des Wille allein heilig und gut ist. Denn das eben war der Triumph des Schöpfers in Seiner Schöpfung, daß Er außer Sich Wesen schuf und schaffen konnte, denen ein selbständiger Wille beigelegt war, die sich in freier Neigung dem Willen ihres Schöpfers anschließen oder ihm widerstreben konnten. Und wenn auch die Menschenseele zur Strafe des ersten Falles in eine Bahn der Abneigung von Gott hineingetrieben ist, auf welcher sie sich selbst überlaßen, nur dem Verderben zueilen kann, so hat sie doch eine Wißenschaft davon, daß es einst anders mit ihr stand und annoch anders mit ihr stehen sollte, daß sie nicht eine Sklavin des Bösen, sondern eine Herrin darüber sein sollte und eine Meisterin im Guten. So oft daher einer auch in die Sünde dahin falle und so sehr er das Sündenleben gewohnt werde, so bleibt doch immer in der Seele dieselbe Stimme der Selbstanklage: „Du hast nicht anders gewollt“. Niemals findet im Herzen die Entschuldigung Glauben: „du hast nicht anders gekonnt“; das Herz wird nicht ruhig und der Geist nicht zufrieden, der es versucht, sich wie einen Stein oder einen andern irdischen Körper auf die Bahn der allmächtigen Nothwendigkeit zu werfen. Ganz dasselbe ist es mit dem Versuche, einen Sündenfall als Gottes Willen hinzustellen. Gott verbeut die Sünde, Gott droht ihr zeitliche und ewige Strafen, Er zürnt ihr und um ihretwillen den Uebelthätern, und Er soll sie wollen? Er will sie nicht; Er läßt Sich| auch nicht spotten, als wollte Er sie. Er will sie so gar nicht, daß man auch nicht einmal eine Versuchung zur Sünde Ihm zuschreiben darf. Er läßt das Böse zu, weil Er dem Menschen den freien Willen angeschaffen hat, das Böse aber nichts anders ist, als der Misbrauch des freien Willens. Er ist der große Künstler, der am Ende alles Böse mit Gutem überwindet und alle bösen Werke der Menschen und der Teufel Seinem göttlichen, heiligen Liebesplane unterthänig macht. Aber Er läßt sie zu und macht sie unterthänig und haßt und verdammt sie doch, verwirft und verwehrt sie sammt ihren Anfängen, den ersten Gedanken und Versuchungen dermaßen, daß auch niemand sagen darf, es sei der Wille Gottes, daß ein Mensch zum Bösen versucht werde. Das ist es, was der heilige Apostel im ersten Verse unseres Textes meint, wenn er ausruft: Irret euch nicht, meine geliebten Brüder. Worinnen sollen sie sich nicht irren? Nemlich in der Meinung, als würde jemand von Gott zum Bösen versucht. „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe, also jede Eingebung und Anregung zum Guten und alle vollkommene Gabe und Kraft zur Heiligung, keineswegs aber die Neigung und Versuchung zum Bösen kommt von oben herab, vom Vater des Lichtes, bei welchem ist keine Veränderung, noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.“ Die sieben Lichter vor Seinem Throne, das Licht, von dem geschrieben steht, daß Er drinnen wohnet, ist nicht wie das Sonnenlicht der Erde, das sich je nach der Tages- und Jahreszeit mehrt und mindert, oder gar dem Schatten weicht und der Nacht Platz macht; bei Gott ist ein Licht, ein unveränderliches und ewiges, ein reiner, heiliger, vollkommener Wille, der sich immer gleich bleibt und an alle freigeschaffenen Geister und Seelen immer aufs neue den alten Anspruch stellt, sich aus der Tiefe der eigenen Willensbewegung dem alleine guten göttlichen Willen anzuschließen. Das will Gott, sonst will Er nichts, und das gibt Gott, anderes gibt Er nicht; wer Ihm einen andern Willen oder eine andere Gabe zutraut, der lästert Ihn, und wer seine arme Seele nach geschehenem Fall, statt sie in die Buße einleiten zu laßen und sie zu den Wunden JEsu zu führen, mit einem vorhanden sein sollenden göttlichen Willen des Bösen trösten will, der führt sich selbst in die Irre und ins Verderben. Wer aber eine solche Lehre führt, nach welcher das Böse, und wäre es auch nur die Versuchung dazu, mit dem Willen Gottes übereinkommen sollte, den möchte ich nicht einen Wolf im Schafskleid, sondern einen offenbaren reißenden Wolf nennen, der es darauf abgesehen hat, Gott Seine Ehre zu rauben, dem Menschen sein Heil. Es gibt Fälle, in welchen eine Zulaßung Gottes vor dem blöden Auge des Menschen einem Willen Gottes so ähnlich sieht, wie ein Tag dem andern und eine Nacht der andern; es gibt in gewissen Fällen äußerst verführerische Gründe, mit denen man es nachzuweisen versuchen könnte, daß etwas Böses im Willen Gottes sei; wer es aber versuchen würde, es zu thun, wehe dem: denn es muß immer und ewig und in allen Fällen, so schwer es auch zuweilen gehe, festgehalten werden der ewige Grundsatz, daß Gott ein Licht ist und keine Finsternis in Ihm, daß die Sünde und das Böse nichts anders ist, als eine freiwillige Irrfahrt des menschlichen Geschlechtes, die von Gott wohl getragen, von Christo gesühnt, vom heiligen Geiste geändert und geheilt, nie aber gebilligt, gelobt oder gar getheilt werden kann. Ein Anathema und Wehe über alle Lehre, die dem Bösen und seiner Versuchung einen anderen Ursprung zuweist, als allein die Irrfahrt des kreatürlichen Willens.
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 Nach der Auffaßung des ersten Theiles unseres Textes, die wir gegeben haben, wird dem Menschen die Quelle des Bösen, das ihn ersäuft, ins eigne Herz gelegt; eine Offenbarung und Entdeckung, welche uns um so tiefer betrüben muß, je wahrer sie ist und je mehr sie sich in täglicher Erfahrung beweist. Diesem ersten Theile gegenüber steht nun der zweite des Textes, der uns eine heilige und für uns selige Lehre ist und uns tröstet in dem Elend auf Erden, die Gott verflucht hat. Es wird uns nämlich in diesem zweiten Theile gezeigt, daß wir, obwohl innerlich verderbt und durch Abkehr des kreatürlichen Willens böse geworden, dennoch gar nicht nöthig hätten, für immer und ewig in diesem verderbten bösen Zustand zu bleiben, sondern daß derselbe Gott, welcher in uns selbst alles Böse sieht, einen Weg gefunden hat, auf dem Er, Seiner ganz würdig, uns umschaffen kann und Kinder des Lebens aus denen machen, in welchen Sünde und Tod ihre Quellen und ihren Anfang gefunden haben. Was haben sich doch von Anfang her die Völker und ihre| Weisen für Mühe gegeben, um die menschliche Natur zu veredeln, zu bilden, umzuändern, und welche Erfolge dieses Strebens und Mühens könnte man allerdings nachweisen. Weit und breit berühmt und anerkannt ist die Bildung der Römer und Griechen, der Egypter und Inder und anderer. Staunenswerthe Dinge kann man von diesen Völkern in den alten Schriften lesen und in den Denkmälern sehen, an denen sich der Nachhall längst vergangener Zeiten bis zu uns verloren hat. Auch sittliche Anstrengungen, große bewundernswerthe Beispiele der Selbstüberwindung und Aufopferung stehen in den Jahrbüchern der Heiden aufgeschrieben. Zeugnisse, wie groß und mächtig der menschliche Wille sich nicht bloß außer dem eignen Hause, in Bewältigung der Natur und ihrer Kräfte, sondern im eignen Hause, im eignen Innern erwiesen hat. Wenn du aber auch alles, was berichtet wird, von der glänzendsten Seite auffaßtest und mit Vergrößerungsgläsern lesen würdest, würdest du es wagen dürfen, die Erweisungen der Größe der menschlichen Seele als eine Aenderung, eine Umänderung der Natur, als eine Erneuerung zum uranfänglichen Bilde Gottes, als eine wahre Wiedergeburt zu faßen? Gewislich nicht! In aller jener alten heidnischen Bildung und Tugend dehnt und streckt sich der alte Mensch, zeigt sich die natürliche Kraft und die Bildungsfähigkeit des Menschen außer Christo. Im Heidentum, wie auch im Muhamedanismus gibt es allerdings Umwandelungen und Bekehrungen, aber nur des alten Menschen, eine Erneuerung und Wiedergeburt zum Ebenbilde Gottes suchst du vergebens. Auch wenn die Menschheit von einer mächtigen Sehnsucht nach der anfänglichen Herrlichkeit ergriffen würde und mit aller Gewalt zurückgriffe zu ihren Anfängen, sie würde doch nicht vermögen, was sie in diesem Falle wollte, und sie will es ja auch nicht einmal und kann es nicht wollen, weil ihr von Natur das Licht ihres Anfangs fehlt und sie gar nicht weiß, wovon sie gefallen ist. Eine neue Geburt, eine durchgreifende innere Veränderung, welche dieses Namens würdig wäre, liegt allein in den allmächtigen Händen, von welchen St. Jakobus redet: „Nachdem Er gewollt hat, heißt es da, hat Er uns gezeuget durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir wären Erstlinge Seiner Creaturen.“ Herrlicher Ausdruck des heiligen Schriftstellers, „nachdem Er gewollt hat, hat Er uns gezeuget.“ Zuerst redet hier der Apostel von dem Willensentschluß Gottes, „nachdem Er gewollt hat.“ So wie aber in unsern Willen unser Verderben gelegt wird und unsere Sünde, so wird hier in den Willen des heiligen Gottes der Anfang unserer Erneuerung gelegt, und so wie die Sünde als ein armes, geringes Werk dadurch gezeigt wird, daß ihr Ursprung in den kreatürlichen Willen gelegt ist, so wird umgekehrt unsre Erneuerung mit dem Glanze eines göttlichen Werkes umgeben, das werth ist, neben unsrer Schöpfung zu stehen, indem sie aus dem Rathe und Willensentschluß des Allerhöchsten hervorgeht. Schon dadurch finden wir uns aufgefordert zur Anbetung des allerhöchsten Gottes und Seiner großen Güte. Dasselbe geschieht aber auch durch einen andern Ausdruck, den M. Luther übersetzt hat, „Er hat uns gezeuget“. Das griechische Wort stellt unsere Wiedergeburt gewissermaßen als ein mühseliges Werk vor, es deutet mehr auf die schwere mütterliche Arbeit des gebärenden Weibes, als des erzeugenden Vaters, auf die Noth und Schwierigkeit und Größe des Werkes, von dem die Rede ist. Unsere Wiedergeburt erscheint dadurch nicht wie eine mit Blitzesschnelle ins Leben tretende göttliche Handlung, sondern wie eine menschliche, die allmählich unter Hindernissen und Schwierigkeiten zu ihrem Ziele und zu ihrer Vollendung fortschreitet. Der Beisatz „durchs Wort der Wahrheit, Er hat uns ausgeboren durch das Wort der Wahrheit“ deutet zugleich auf das Mittel hin, deßen Sich Gott zu unserer Wiedergeburt bedient, und indem dies Mittel genannt wird, wächst uns die Meinung groß, daß in dem Verse unseres Textes von einer allmählichen, mühselig vorwärts schreitenden Erneuerung und Wiedergeburt der Seelen die Rede ist.
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 Das Wort der Wahrheit will gelehrt, gelernt, gefaßt sein, damit es uns faße und durchleuchte, unsern Willen breche, einen neuen Willen schaffe, uns umwandele und erneue. Das alles aber erfordert Zeit, das geht nicht mit Einem Male; und wenn uns der Apostel sagt: Gott habe uns durchs Wort der Wahrheit ausgeboren, neu geboren, so erscheint uns eben die Wiedergeburt weniger nach ihrem ersten Anfang, wie in manch anderm Worte der Schrift, als in ihrem Fortgang, und wenn man so sagen| darf, in ihrer Entwickelung bis zu einem bestimmten Grade, ich denke bis zu dem Grade, in welchem sie als eine göttliche Macht der satanischen verlockenden Macht unserer Lüste gegenüber steht. Allerdings erscheint uns da das Wesen des durch Gottes Wort umgeänderten, ausgeborenen und erneuerten Menschen als ein zwiefaches, nämlich einmal als ein lichtes, dem göttlichen Bilde und Wesen entsprechendes, dann aber auch im Widerspruch der alten, dem Tode geweihten, aber noch nicht ertödteten lüsternen Natur. Diese Zweiheit aber ist ja keine bleibende, sondern eine verschwindende, aus welcher sich die Einheit und Kraft der andern neuen Natur und Creatur hervorhebt, so daß der Mensch je länger je mehr in sich die Gegensätze schwinden, sich selbst aber je länger je mehr in der Einfachheit und Klarheit der neuen göttlichen Natur einhertreten sieht. Das ist ja auch die heilige Absicht Gottes nach unserem Textesverse, in welchem es heißt, der HErr habe uns ausgeboren durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir mit einander würden wie ein Erstling und eine Erstlingsernte unter Seinen Creaturen. Es sollen Ihm dermaleins viel größere Ernten werden; Ihm gebührt nicht bloß von Seinen Creaturen ein Erstling, es soll Ihm, so weit nicht der Trotz der Bösen die heilige Absicht verhindert, herwiedergebracht werden die ganze unzählige Heerschaar Seiner Creaturen. Leider ist durch Schuld der Kreatur die sogenannte Lehre von der Wiederbringung aller Dinge ein unschriftmäßiger Traum; es kehrt nicht alles wieder, denn es beugt sich niemals aller kreatürliche Wille unter Gott. Wohl aber hat alle Kreatur den Befehl zu ihrer Heimkehr, und was der Wille Gottes ist, wenn nichts Ihm widerstrebt, das ist offenbar. Kehrt nun aber auch nicht alles wieder, so bleibt doch auch die Erstlingsfrucht nicht allein, die in den Tempel des HErrn zu Gabe und Opfer gebracht wird, es folgt auf die österliche Erstlingsgarbe ein reiches Erntefest der Pfingsten, wie in dem Festlauf der Israeliten, und auf diese Ernte soll die Erstlingsgarbe deuten, für die Ernte soll sie das Pfand sein. So sollen die neugeborenen Christen der ersten Zeit ein Pfand sein für das Gelingen des ganzen Werkes Gottes und zugleich eine göttliche Mehrung der Zuversicht in den Herzen der Gläubigen, daß Der, welcher die Erstlingsgarbe hat wachsen laßen, es auch nicht an der Ernte wird fehlen laßen. Unsere Wiedergeburt ist also eine Weißagung und Versiegelung fernerer Wiederherstellung der Kreatur, und die wiedergeborene Schaar einer jeden Zeit deutet auf die Garben und Ernten späterer Zeiten hin. Da sehen wir also gegenüber unserer Verderbnis, wie sie im ersten Verse beschrieben steht, eine sich mehr und mehr ausbreitende Wiedergeburt der Welt, einen Frühling der Kirche, der von der Ostergarbe zur Pfingsternte fortschreitet, ein der Zahl nach immer fortschreitendes mächtiges Wachstum der Kirche Gottes in der Zeit.
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 Hier schreiten wir nun zum dritten Theile Unseres Textes. Den laßt uns vor allen Dingen noch einmal hören, damit wir dann seinen Sinn und deßen rechte Deutung finden. „Darum, meine lieben Brüder, so übersetzt M. Luther, ein jeglicher Mensch sei schnell zu hören, langsam aber zu reden und langsam zum Zorn. Denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist. Darum so leget ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmet das Wort an mit Sanftmuth, das in euch gepflanzt ist, welches kann eure Seelen selig machen.“ Wenn man diese Worte äußerlich auffaßt, ohne recht auf Zusammenhang und Sinn zu horchen, so könnten wenigstens die ersten Verse sich wie pure Lebensregeln ausnehmen. Schnell zu hören, langsam zu reden, langsam zum Zorn – das klingt fast wie eine menschliche Klugheitsregel, gerade wie wenn einer dem andern die gute Lehre geben wollte, recht viel zu hören, wenig zu reden, sich nicht zu erzürnen, weil viel hören weise macht, mit viel Schweigen sich verredt niemand und mit wenigem Zürnen die eigne Seele wenig aus dem Gleichgewicht kommt, Gott und Menschen am meisten zufrieden sind. Allein, meine lieben Brüder, was soll die Klugheitsregel in diesem Zusammenhang? Der achtzehnte Vers redet von der Fortbewegung unseres neuen wiedergebornen Lebens unter Hindernissen: hat da der Apostel nichts nöthigers zu thun gehabt, als Lebens- und Klugheitsregeln zu geben? So schön die Klugheitslehre wäre, ist sie denn doch würdig, im Zusammenhang mit dem Vorausgegangenen zu stehen? Oder deuten die Worte des heiligen Schriftstellers auf etwas anderes und größeres? – Durch das Wort der Wahrheit hat uns Gott ausgeboren, daß wir Erstlinge Seiner| Kreaturen wären: das Wort der Wahrheit ist hier Gottes mächtiges Umwandlungsmittel; wodurch man neu geboren wird, dadurch wird man auch erhalten; wodurch die Umwandlung ins Leben trat, dadurch schreitet sie auch fort. Das Wort bleibt auf allen Stufen unseres innern Lebens die Kraft und Ursache jedes neuen Fortschritts, und dies Wort, meine lieben Brüder, finde ich im letzten Theile unsers Textes mehrfach wieder. Wenn es im neunzehnten Verse heißt „ein jeder Mensch solle schnell zum Hören sein“, so wird es mir schwer, es für eine apostolische Regel zu halten, daß man überhaupt und in allen Stücken schnell sein solle zu hören. Ist es denn wirklich eine Tugend oder auch nur eine Klugheit, auf alles zu horchen? Läßt sich nicht eben so wohl das Gegentheil vertheidigen? Ist ein langsames Hören nicht in manchen Fällen beßer oder doch eben so gut, als ein langsames Reden? Ist nicht oftmals geradezu der der Weiseste, der taub und stumm scheint und unter dem Geschwätz der Tage völlig theilnahmlos dahin geht? Ich denke, schnell zu hören soll man sein, nicht wenn die Schlange von den Zweigen herab spricht, sondern wenn das Wort der Wahrheit erschallt; so wie das Wort der Wahrheit im achtzehnten Verse als das Mittel unserer Wiedergeburt hingestellt ist, so sollen wir nun nach dem neunzehnten Verse dasselbige Wort schnell, eifrig, fleißig hören, in seiner Schule verharren, damit wir auch recht ausgeboren werden fürs ewige Leben, wenn wir es etwa noch nicht sind, und damit wir es um so mehr werden, wenn das gute Werk in uns schon begonnen hat. Schnell sein zum Hören des göttlichen Wortes, ja das ist eine treffliche Lehre, die schließt sich an den achtzehnten Vers an, die ist eine reine Folge aus diesem Verse, die besiegelt und bekräftigt das Ganze, da findet sich der helle schöne Gegensatz gegen den Anfang des Textes: denn auf die Versuchung und Lockung der Sünde soll man nicht achten, wohl aber auf das Wort, das uns wiedergebiert und selig macht. Zu diesem Sinne paßt denn auch der Fortgang unseres Textes so schön: „Langsam zum reden“. Sollst du Gottes Wort schnell hören, so wirst du wohl auch dasselbe, das Wort deines Gottes, langsam predigen und sprechen sollen. Es sind wohl die rechten Schüler nicht, von denen man sagt: „Was sie heute gelernt, das wollen sie morgen schon lehren“, auch ist das Wort zu groß, zu reich und ein zu tiefes weites Meer, als daß man nur mit einem so kleinen Weilchen hören Meister sein könnte und ein Lehrer werden. Nicht doch, sei vor allen Dingen ein stiller, lauschender, eifriger Schüler und laß das Wort erst in dir wurzeln, ehe du deinen Mund aufthust und des Wortes Früchte von deiner Zunge lösest. Der schnell zum Prediger wird, hat bald ausgesprochen: schnelle Worte, schnelle Sünden, schnelle Verdammnis. Für Gottes Wort hat jeder zwei offene Ohren, aber einen geschloßenen Mund, der erst durch den Geist geöffnet sein will, welcher durch das Ohr eindrang. Ohne Zweifel, meine lieben Brüder, fügt sich bis hieher die Auslegung ganz wohl. Ob nun aber auch, meine Lieben, der Satz „langsam zum Zorn“ sich in diese Auslegung fügt, oder es sich an dieser Stelle etwa doch noch findet, daß die erst erwähnte sprichwörtliche Deutung der drei gegliederten Lebensregel die rechte sei? Allein, meine Brüder, der letzte, 21. Vers des Textes, in dem es heißt: „Nehmet das Wort an mit Sanftmuth, das in euch gepflanzt ist, welches kann eure Seelen seligmachen“ lenkt ganz offenbar zu meiner Auffaßung ein, und doch beginnt auch dieser Vers mit den fast nur wie ganz gelegentlich klingenden Worten: „Darum so leget ab alle Unsauberkeit und alle Bosheit und nehmet das Wort an mit Sanftmuth.“ Da geht also ein Fortschritt des Gedankens von der Unsauberkeit und Bosheit zur Sanftmuth in Annahme des Wortes. Was Wunder, wenn im neunzehnten Vers der Fortschritt des Gedankens der ist: Gottes Wort schnell und eifrig hören, Gottes Wort langsam reden, sich nicht den augenblicklichen bösen Eindruck, die Leidenschaft, den entflammenden Zorn des alten Menschen von dem Wort abwenden laßen, weil man dadurch jene Gerechtigkeit nicht wirket, die Gott in den Kindern der Wiedergeburt schaffen will und nicht thut, was vor Gott recht ist. Der neunzehnte Vers verbietet den Zorn des alten Menschen wider das Wort, das uns gepredigt wird, der einundzwanzigste Vers hingegen gebietet das Gegentheil, nämlich die Sanftmuth und stille Hingebung an die Wirksamkeit des Worts. Der zwanzigste Vers zeigt dem Menschen, wie er durch Zorn wider das Wort des lebendigen Gottes um die Gerechtigkeit des neuen wiedergeborenen Lebens kommt; der einundzwanzigste Vers faßt| eben diesen Zorn als Unsauberkeit und Ueberfluß der Bosheit. Es stimmt in der That alles zusammen für unsere Auffaßung, nur daß wir nicht gewohnt sind, von einem Zorne wider das Wort Gottes zu hören oder zu reden. Und doch ist es eine wunderliche Sache, daß wir daran nicht gewöhnt sind, da sich dieser Zorn so oft erweist, da jeder Prediger der Wahrheit von diesem Zorne der Menschen und des Teufels gegen das Wort Gottes tägliche Erfahrung macht, und da die Welt und ihr Fürst das Wort, das vom Himmel stammt, nie anders als im Zorne aufgenommen hat, und alle Lande, wie der Ehre Gottes so des Zornes wider Gottes Wort voll sind. Prüft euch nur etwas genauer, erwägt es nur etwas länger und es wird euch allmählich ganz offenbar werden, daß sich die letzten drei Verse unseres Textes ganz und gar mit der Aufnahme des göttlichen Wortes befaßen und mit nichts anderem, mit der falschen Aufnahme und mit der rechten, und daß die letztere als die rechte große Haupttugend eines wiedergeborenen Menschen hingestellt wird. Keinen Zorn, keine Unsauberkeit, keinerlei Ueberschwang der Bosheit solltest du in dein andauerndes, lebenslängliches Hören des göttlichen Wortes sich einmischen laßen, sondern schweigsam, mit aller sanften Weichheit und Empfänglichkeit, behend und eifrig auf das Wort hören, das lehren und dich zur Vollkommenheit bereiten kann. Wer das kann, bei dem ist immerdar Pfingsten, bei dem sproßt und treibt ein immer neuer Frühling, der kennt keinen Stillstand, der erfährt das reine Gegentheil von dem, der unter den Versuchungen seines alten Adams dahin geht, er wird mit vielen heiligen Gottesgaben überschüttet und sein Leben trägt eine reiche herrliche Ernte.

 Ich meine, geliebte theure Brüder, wenn wir nach alle dem unseren Text übersehen, könne er uns eben so pfingstmäßig als lieblich erscheinen; ich achte, wir haben so die heilige Epistel selbst als eine gute vollkommene Gabe Gottes kennen lernen; ich freue mich des Wortes, das er in sich hält, und erlaube mir nur noch zum Schluße auf die letzten Worte des Textes aufmerksam zu machen, die für den Text und für uns und unser Bedürfnis vortrefflich paßen. Am Schluß der epistolischen Rede steht von dem Worte Gottes dreierlei:

Das Wort ist in euch gepflanzt;
Das in euch gepflanzte Wort sollt ihr mit Sanftmuth aufnehmen;
Das so eingepflanzte und aufgenommene Wort kann eure Seelen selig machen.

 Es kann also das Wort Gottes in einen Menschen gepflanzt sein, ohne daß er es mit Sanftmuth aufnimmt und dadurch selig wird. Gepflanzt wird das Wort durch die Hand des Predigers und Lehrers: Nimmt es die Seele auf, wie der Erdboden die Pflanze in ein sanftes, weiches, williges Bette, so wächst die Pflanze und wird ein Baum der Gerechtigkeit und des Lebens. Läßt man aber neben der himmlischen Pflanze Zorn, Unsauberkeit und Bosheit wie das Unkraut wuchern, so wird die Pflanze übermocht, über eine Weile nimmt sie eine Hand unvermerkt weg, und die Seele, die da hätte können selig werden, geht verloren in dem Ueberschwang ihrer Bosheit. Das kann auch dem geschehen, der durch das Wort schon wiedergeboren ist. Der Wiedergeborene muß das Gotteswort als eine Pflanze in sich tragen, hegen und pflegen, oder aber es stirbt mit der Pflanze das neue Leben der Wiedergeburt selbst hin; alles neue Leben bleibt, gedeiht und wächst nur, wenn Gottes Same und Pflanze, Sein Wort in uns bleiben und wuchern kann. Habt ihr diese Sätze vernommen? Sie sind ein ernster Schluß des Ganzen, textgetreu, ganz aus dem Text gefloßen. Ist euch der Gedanke lieb, daß wir durchs Wort wiedergeboren sind, so laßt euch den andern gleich lieb werden: das Wort Gottes eine Pflanze, die man aufnehmen kann und soll, die man auch vernachläßigen kann und sterben laßen zum eignen Tode. Der HErr aber mache euch zu Wächtern Seiner Pflanze und zu einem gesegneten, fruchtbaren Boden, in welchem sie sein und bleiben und wachsen kann. Amen.




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