Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/285

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Weisen für Mühe gegeben, um die menschliche Natur zu veredeln, zu bilden, umzuändern, und welche Erfolge dieses Strebens und Mühens könnte man allerdings nachweisen. Weit und breit berühmt und anerkannt ist die Bildung der Römer und Griechen, der Egypter und Inder und anderer. Staunenswerthe Dinge kann man von diesen Völkern in den alten Schriften lesen und in den Denkmälern sehen, an denen sich der Nachhall längst vergangener Zeiten bis zu uns verloren hat. Auch sittliche Anstrengungen, große bewundernswerthe Beispiele der Selbstüberwindung und Aufopferung stehen in den Jahrbüchern der Heiden aufgeschrieben. Zeugnisse, wie groß und mächtig der menschliche Wille sich nicht bloß außer dem eignen Hause, in Bewältigung der Natur und ihrer Kräfte, sondern im eignen Hause, im eignen Innern erwiesen hat. Wenn du aber auch alles, was berichtet wird, von der glänzendsten Seite auffaßtest und mit Vergrößerungsgläsern lesen würdest, würdest du es wagen dürfen, die Erweisungen der Größe der menschlichen Seele als eine Aenderung, eine Umänderung der Natur, als eine Erneuerung zum uranfänglichen Bilde Gottes, als eine wahre Wiedergeburt zu faßen? Gewislich nicht! In aller jener alten heidnischen Bildung und Tugend dehnt und streckt sich der alte Mensch, zeigt sich die natürliche Kraft und die Bildungsfähigkeit des Menschen außer Christo. Im Heidentum, wie auch im Muhamedanismus gibt es allerdings Umwandelungen und Bekehrungen, aber nur des alten Menschen, eine Erneuerung und Wiedergeburt zum Ebenbilde Gottes suchst du vergebens. Auch wenn die Menschheit von einer mächtigen Sehnsucht nach der anfänglichen Herrlichkeit ergriffen würde und mit aller Gewalt zurückgriffe zu ihren Anfängen, sie würde doch nicht vermögen, was sie in diesem Falle wollte, und sie will es ja auch nicht einmal und kann es nicht wollen, weil ihr von Natur das Licht ihres Anfangs fehlt und sie gar nicht weiß, wovon sie gefallen ist. Eine neue Geburt, eine durchgreifende innere Veränderung, welche dieses Namens würdig wäre, liegt allein in den allmächtigen Händen, von welchen St. Jakobus redet: „Nachdem Er gewollt hat, heißt es da, hat Er uns gezeuget durch das Wort der Wahrheit, auf daß wir wären Erstlinge Seiner Creaturen.“ Herrlicher Ausdruck des heiligen Schriftstellers, „nachdem Er gewollt hat, hat Er uns gezeuget.“ Zuerst redet hier der Apostel von dem Willensentschluß Gottes, „nachdem Er gewollt hat.“ So wie aber in unsern Willen unser Verderben gelegt wird und unsere Sünde, so wird hier in den Willen des heiligen Gottes der Anfang unserer Erneuerung gelegt, und so wie die Sünde als ein armes, geringes Werk dadurch gezeigt wird, daß ihr Ursprung in den kreatürlichen Willen gelegt ist, so wird umgekehrt unsre Erneuerung mit dem Glanze eines göttlichen Werkes umgeben, das werth ist, neben unsrer Schöpfung zu stehen, indem sie aus dem Rathe und Willensentschluß des Allerhöchsten hervorgeht. Schon dadurch finden wir uns aufgefordert zur Anbetung des allerhöchsten Gottes und Seiner großen Güte. Dasselbe geschieht aber auch durch einen andern Ausdruck, den M. Luther übersetzt hat, „Er hat uns gezeuget“. Das griechische Wort stellt unsere Wiedergeburt gewissermaßen als ein mühseliges Werk vor, es deutet mehr auf die schwere mütterliche Arbeit des gebärenden Weibes, als des erzeugenden Vaters, auf die Noth und Schwierigkeit und Größe des Werkes, von dem die Rede ist. Unsere Wiedergeburt erscheint dadurch nicht wie eine mit Blitzesschnelle ins Leben tretende göttliche Handlung, sondern wie eine menschliche, die allmählich unter Hindernissen und Schwierigkeiten zu ihrem Ziele und zu ihrer Vollendung fortschreitet. Der Beisatz „durchs Wort der Wahrheit, Er hat uns ausgeboren durch das Wort der Wahrheit“ deutet zugleich auf das Mittel hin, deßen Sich Gott zu unserer Wiedergeburt bedient, und indem dies Mittel genannt wird, wächst uns die Meinung groß, daß in dem Verse unseres Textes von einer allmählichen, mühselig vorwärts schreitenden Erneuerung und Wiedergeburt der Seelen die Rede ist.

.

 Das Wort der Wahrheit will gelehrt, gelernt, gefaßt sein, damit es uns faße und durchleuchte, unsern Willen breche, einen neuen Willen schaffe, uns umwandele und erneue. Das alles aber erfordert Zeit, das geht nicht mit Einem Male; und wenn uns der Apostel sagt: Gott habe uns durchs Wort der Wahrheit ausgeboren, neu geboren, so erscheint uns eben die Wiedergeburt weniger nach ihrem ersten Anfang, wie in manch anderm Worte der Schrift, als in ihrem Fortgang, und wenn man so sagen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 277. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/285&oldid=- (Version vom 1.8.2018)