Textdaten
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Autor: Wilhelm Jordan
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Titel: Epische Briefe/VIII
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 474–476
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[474]
Epische Briefe.
Von Wilhelm Jordan.
VIII. Epochen des germanischen Epos. Island und die Edda.

Die drei vorigen Briefe haben Ihnen die Geschichte des Epos bei unseren drei epischen Geschwistervölkern, den Indiern, Persern und Griechen, wie mit einfachen Holzschnittlinien zu zeichnen versucht.

Unser germanisches Epos werden wir eine Art von Dreieinigkeit dieser drei so verschiedenen Schicksale durchleiden und ersiegen sehen, wenn auch nicht in derselben Zeitfolge. Wenn es erlaubt ist, seine Epochen nach ihrer Aehnlichkeit kurzweg zu benennen, dürften wie ihm eine griechische, eine indische, eine persische und zu guterletzt eine gemischt persisch-griechische zuschreiben.

Vom Epos auf der Liederstufe werden wir die Reste bei den Germanen zahlreicher und unvermischter bewahrt finden, als bei jenen Geschwistervölkern. Denn von den Liedern, welche dem Kunstepos vorangegangen waren und ihm zur Grundlage gedient hatten, ist bei den Indiern in der umgefälschten Kunstgestalt für uns jede Spur verwischt. Bei den Griechen sind sie theils eben nur zu spüren als Vorlagen Homer’s, theils nur ihrem Titel und Hauptinhalte nach als einst vorhanden zu erkennen aus den Anführungen der Odyssee, theils allerdings mit ziemlicher Sicherheit, namentlich in der Ilias, zu unterscheiden als nachträglich wieder eingeschaltete ältere Stücke, welche der Dichter von seinem Kunstwerke aus guten Gründen ausgeschlossen hatte. Das persische Epos endlich ist zwar, wie wir gesehen haben, die gesammte Liederchronik selbst, von Firdusi zur Kunstgestalt erhoben, eben deswegen aber von ihm auch so gleichmäßig eingeschmolzen, daß wir von der Abgrenzung und ursprünglichen Form der Lieder keine Vorstellung mehr gewinnen können, obwohl wir überzeugt sein dürfen, in seinem Werke wenigstens den Sageninhalt auch jener Gesänge erhalten zu sehen, welche nach Xenophon’s Zeugniß einen Hauptgegenstand des Unterrichts der altpersischen Jugend bildeten.

In allen drei Fällen hat eben das Kunstepos die Lieder der Vorstufe aufgesogen. Die Ursache ihrer Erhaltung bei den Germanen, in nicht unbeträchtlicher Zahl, wenn auch in mehr oder minder fragmentarischer Gestalt, ist schon daraus ersichtlich. Sie sind bei uns nicht aufgesogen worden, weil unser Epos nicht das Glück hatte, wie das indische und griechische, die Stufe der Kunstgestalt schon zu ersteigen, während der unverminderten Fülle des Liederschatzes noch die lebendige Wechselwirkung zwischen vortragenden Sängern und lauschenden Hörern zu gute kam, weil wir mit dieser Leistung hinter den Indiern um achtundzwanzig, hinter den Griechen um sechsundzwanzig und hinter den Persern um neun Jahrhunderte zurückbleiben sollten. Wir verdanken also den kleinen Vortheil dieses Besitzes einer weit größeren Einbuße: dem Unglücke, daß das germanische Epos durch fremde Gewalt in seinen innersten Lebensnerven gelähmt und wieder zerrissen wurde, als es eben im Begriffe stand, zur Kunstgestalt zu erwachsen.

Daß es wirklich schon einer homerischen Blüthenzeit entgegenknospete, daß seine Lieder schon den Krystallisationskern zur künstlerischen Einheit in einer nationalen Hauptsage und der Gestalt ihres Haupthelden gewonnen hatten, ja, daß es sich bereits einen Poeten von vollendeter Sprachkunst und homerischem Genie erzogen hatte, und zwar einen deutschen: davon hoffe ich Sie überzeugen zu können. Dies ist die Epoche, welche ich als die griechische unseres Epos bezeichne.

Ihr folgt die indische. Denselben geistigen Giftmord, den die indische Priesterkaste mit ihrer lebensfeindlichen Bußeromantik am eigenen Volke wirklich vollbracht hatte; unternahm eine fremdländische Hierarchie auch an den Germanen zu verüben. Mit schlauer Berechnung, gewissenloser Verruchtheit in der Wahl ihrer Mittel, unermüdlicher Ausdauer und unbeirrter Consequenz, ist sie dem Siege wenigstens über den deutschen Stamm der Germanen und dieser Stamm dem nationalen Tode sehr nahe gekommen. Auch würde sie wahrscheinlich triumphirt haben, wenn ihr die ernstlich erstrebte Verdrängung auch unserer Sprache durch ein lateinisches Idiom gelungen wäre. Aber an der unverwüstlichen [475] Zähigkeit des Widerstandes dieser Sprache und an ihrer Verjüngung durch Luther ist jener schnöde Plan zu Schanden geworden. Doch auch der Mithülfe nordischer Germanen schulden wir Dank dafür. Von ihnen kam uns im dreißigjährigen Kriege die Rettung aus der äußersten Noth und von ihnen ist uns ein Hauptstück des heiligen Erbschatzes erhalten worden, den unsere Erbfeindin in Deutschland bis auf dürftige Ueberbleibsel vertilgt hatte, und ohne diese Rettung unseres Zendavesta würden unsere großen Dioskuren Wilhelm und Jakob Grimm und ihr Jünger Uhland unser Bewußtsein von der Größe und Hoheit der germanischen Vergangenheit nimmer so siegreich haben herstellen können, als es geschehen ist. In wie weit Rom die eifrigst geplante Ausrottung und Umfälschung auch der germanischen Helden- und Göttersage durchzusetzen vermocht hat, das werden wir sehen am Epos unseres Mittelalters.

In der Zeit nicht abgrenzbar von dieser indischen und theilweise schon zugleich mit ihr verläuft die Epoche, welche ich nach der Analogie der Erlebnisse als die persische unseres Epos bezeichne. Denn im Untergange sowohl, als in der Wiedergeburt haben die Schicksale des persischen und die des germanischen Epos die auffälligste Aehnlichkeit. Wie das persische zuerst durch die griechische Eroberung unter Alexander, dann durch die Araber und den Islam, so ist das germanische zuerst durch die römische Cultur und Hierarchie unter verrätherischer Hülfe des fränkischen Sachsenschlächters Karl, des sogenannten Großen, verfolgt, seiner gebildeten Gönner und Pfleger beraubt und dadurch zum Bänkelsang heruntergewürdigt, dann aber ebenfalls durch einen Ausfluß des Islam im Innersten verwandelt und verfälscht worden. Denn wir werden sehen, wie der Islam, wenn er auch die germanischen Völker nicht mit dem Schwerte zu besiegen vermochte, sie gleichwohl mit einer von ihm geweckten neuen Empfindungsweise und Lebensauffassung, der sogenannten Romantik, angesteckt und geistig unterjocht hat.

Wie ferner die zweite Erneuerung des persischen Reiches mit der Erneuerung des persischen Epos durch Firdusi gleichzeitig und gegenseitig fördernd eingetreten ist, so ward auch die Wiedergeburt unseres Epos, wenn auch der Zeit nach ein wenig voraufschreitend, erst möglich, als dem Scharfblickenden die baldige Auferstehung des deutschen Reiches unzweifelhaft geworden war und der Epiker selbst die zwei Jahrzehnte vor ihrem Eintritte mit aller Bestimmtheit vorhersagen konnte.

Wie endlich Firdusi’s Dichtung zwar durchweg beruht auf der Weltanschauung und den sittlichen Ideen der edeln Parsenreligion Zoroaster’s, darum aber die Religion Muhamed’s keineswegs verwirft noch es versäumt, die Darstellung auch zu durchleuchten mit dem Zuwachse an reineren Vorstellungen vom Göttlichen und Edelmenschlichen, den unbestreitbar auch der Islam gefruchtet hatte: gerade so durfte und mußte auch die Erneuerung unserer großen Nationalsage von den Wölfungen und Nibelungen einerseits zwar die der persischen verwandte, nicht minder tiefsinnige und zuchtgewaltige alte Naturreligion der Germanen erheben zur symbolischen Trägerin der neuen, jetzt in unserem Volke lebendigen Religion; denn mit ihrem Glauben an eine göttliche Bestimmung des Menschen und mit ihren sittlichen Forderungen ist diese neue ganz und gar wieder die alte, mit dem einzigen Unterschiede, daß sie ausgeht von erkannten Naturgesetzen wo sich die alte noch mit phantastisch und bildlich ausgedrückten, aber vielfach doch schon richtigen Ahnungen dieser Gesetze begnügen mußte. Andererseits aber durfte dabei das erneuerte Epos ebenso wenig, als das des Firdusi, den Erziehungsgewinn wegwerfen oder auch nur verleugnend bemänteln, den auch wir inzwischen einer Religion von semitischer Herkunft schuldig geworden waren.

Diese letzte Epoche, von welcher ich zum Schlusse meiner Darstellung insoweit handeln werde, als es sich bei meiner Betheiligung an ihr für mich geziemt, bezeichne ich als die persisch-griechische, weil ihre Leistung, spät und unter ähnlichen Bedingungen wie die des Firdusi zu Stande gekommen, doch nicht sein Werk zum Vorbilde nehmen durfte. Denn sie war erst möglich geworden durch die von der Arbeit mehrerer Generationen vorbereitete Wiederentdeckung des homerischen Kunstgesetzes, und sie durfte nach unserer Wiedererziehung durch die griechische Literatur und den deutschen Hellenen Goethe, auch keinem anderen Muster nachstreben, als eben dem homerischen.

Das sind die Hauptstationen unserer nun zu unternehmenden Wanderung durch das Gebiet des germanischen Epos. Treten wir sie an mit der Betrachtung seiner ältesten Reste aus der Zeit unseres Heidenthums.

Tacitus sagt von unsern Vorfahren: „In uralten Liedern, welche zugleich allein ihre Ueberlieferungen und Jahrbücher bilden, feiern sie den Gott Thuisko, den Erdentsprossenen, und dessen Sohn Mannus als Stammväter und Stifter der Nation.“ Damit ist eine in Gesängen mündlich überlieferte Sagengeschichte mit mythischem Anfange deutlich bezeugt. Daß diese Gesänge mit ihrem Inhalte hinreichten bis in die Nähe der Lebenszeit des römischen Geschichtsschreibers, das beweist die fernere Angabe, daß die Germanen damals noch von Arminius gesungen.

Auch die angelsächsischen Geschlechtstafeln, mit Odin anhebend und fortgesetzt bis zu den geschichtlich bekannten Königen, beweisen das einstige Vorhandensein einer solchen Liederchronik. Bei den Franken waren noch im neunten Jahrhundert die vulgaria carmina, Volkslieder, bekannt, welche die Vorfahren Karl’s des Großen verherrlichten. Karl selbst ließ diese carmina poëtica gentilia, das ist heidnische „Liederdichtungen“, sammeln. Vielleicht gehörte zu denselben das Lied von Hildebrant und Hadubrant, von dem uns ein Bruchstück erhalten ist. Daß ein großer Theil der Eddalieder Nachbildungen, ja zum Theil wohl Uebersetzungen aus dieser Sammlung einschließt, ist kaum noch zu bezweifeln. Noch der Sohn Karl’s, Ludwig der Fromme, hatte diese Lieder in seiner Jugend auswendig gelernt. Als er aber im Alter unter dem Einflusse der Geistlichen stand, mochte er sie weder lesen noch hören. Die gothische Geschichte des Jordanes (in Folge des Schreibfehlers in einer Handschrift ist er mehr bekannt unter dem Namen Jornandes) ist großentheils nur Auszug aus dem mündlich überlieferten gothischen Epos. Ebenso ist die dänische Geschichte des Saxo Grammaticus zum Theil eingestandene Uebersetzung einer poetischen Mythologie und Sagengeschichte und beweist also, daß eine solche noch um das Jahr 1150 vorhanden gewesen ist.

Die christliche Kirche vermochte die angestammte Religion nicht zu besiegen, ohne zuvor das Epos aus dem Wege geräumt zu haben. Die Gedächtnißinhaber der mythischen und historischen Gesänge verdankten den Einfluß und die Ehre ihres Standes wesentlich auch dem gleichzeitigen Besitze der alten Opferhymnen, Gebete, Heil- und Zaubersprüche. Diese wurden von den Bischöfen und Geistlichen auf’s Strengste verpönt. Bald wurde die Verfolgung auf den ganzen Sängerstand ausgedehnt. Man trachtete den gesammten Erbschatz als die Wurzel des Heidenthums auszurotten. Ja, man ging, wie schon oben bemerkt, eine Zeitlang ernstlich damit um, dem Volke die lateinische Sprache aufzudrängen; denn man erkannte mit großen Scharfblicke, daß die germanischen Sprachen der neuen Religion ein fast unüberwindliches Hinderniß in den Weg legten, weil sie bis in ihr feinstes Gefäser von heidnischen Vorstellungen durchdrungen waren, wie das namentlich unsere deutsche Sprache bis auf den heutigen Tag fast unvermindert geblieben ist. Hierin aber mußte die Kirche nachgeben. Ja, sie sah sich genöthigt, einen großen Theil des Heidenthums selbst in kirchlicher Vermummung zu erhalten, um dadurch über die Gemüther einige Macht zu gewinnen. Ihre Feste zur Sitte durchzusetzen fand sie kein anderes Mittel als die Wahl der altheidnischen Festtage und die Uebertragung der Götter- und Heldensagen auf ihre Heiligen. So ist z. B. die Legende vom heiligen Georg, dem Erleger des Lintwurms, die verchristlichte Sigfridsage, und wer im Gesetze dieser Verwandlung den Schlüssel besitzt, dem thun sich viele der katholischen Heiligengeschichten auf als reiche Fundkammern für unsere Sage und Mythologie.

Zwar kein Verbot, keine Drohung vermochte die alten Gesänge ganz zu beseitigen, wie denn ihr Inhalt noch heutigen Tages in unseren Märchen fortlebt. Aber ihre Inhaber geriethen in Mißachtung. Von den Fürstenhöfen und aus den Kreisen des Adels verdrängt zu den niederen Ständen, mußte die alte epische Kunst selbst desto mehr herunterkommen, je niedriger die Bildungsstufe der Hörer war, bei denen sie noch Zutritt zu hoffen hatte. Der edle Styl des alten Heldengesanges artete aus in den rohen Ton der Bänkelsängerei. Vieles wurde vergessen, vieles entstellt durch trübe Beimischung, durch den Wunsch, die Gruselsucht der Menge mit den tollsten Unmöglichkeiten und haarsträubenden Schauergeschichten zu befriedigen. Die heidnischen [476] Motive der alten Lieder wurden unverständlich. Man ließ fort, was nur ihnen gedient hatte, und was übrig blieb, waren die zerschnittenen Glieder eines Leibes, welchem die Seele entflohen.

Dennoch sind uns Theile des altgermanischen Epos in verhältnißmäßig unversehrter Form erhalten geblieben. Die Rettung der bedeutsamsten Stücke verdanken wir einer wundersamen Fügung, welche dem Geiste des germanischen Heidentums, als es der siegreichen Kirche bereits sterbend zu Füßen lag, eine Stätte der Zuflucht eröffnete, wo er seine letzten Lebenstage verwenden durfte, in stiller Sammlung seine Denkwürdigkeiten zu schreiben und uns einen Rest seines reichen Schatzes aufzubewahren als ein heiliges Vermächtniß für die Zeit unserer Auferstehung.

Im skandinavischen Norden hatte sich der altgermanische Volkszustand, eine Art ziemlich loser und nicht selten durch innere Kriege der Clanschaften zerrissener Föderation aristokratischer Republiken mit erblichen Stammkönigen, aber entscheidend über diesem stehenden Allthing der freien Männer, und mit dieser Verfassung auch die alte Religion, am längsten erhalten. Die Poesie stand in üppiger und verbreiteter Blüthe, und manches aus jener Zeit gerettete Skaldenlied von bewunderungswürdiger Kunstvollendung zeigt uns das vielgeschmähte „Heidenthum“ mit seiner grandiosen und tiefsinnigen Weltanschauung so fein vergeistigt und auf so hoher Bildungsstufe angelangt, daß dagegen diejenige des Mittelalters als finstere Barbarei erscheint. Aber auch dort wurde dem Christenthum gewaltsam der Boden bereitet, indem sich die zelotischen Missionäre und Geistlichen zur Unterjochung des Volkes verbanden mit den mächtigsten, nach Alleinherrschaft lüsternen Stammkönigen. Als nun ziemlich gleichzeitig, im letzten Drittel des neunten Jahrhunderts, in Dänemark Gorm der Alte, in Schweden Eirik Eymundarson, in Norwegen Harald Harfagr (das ist Schönhaar) die altgermanische Stammverfassung brachen und die Monarchie mit ausgebildetem Lehnswesen begründeten, wie es Karl der Große in Deutschland und Frankreich gethan hatte, da mochten sich, nachdem diese Könige nach langen Kämpfen ihre Staatsstreiche mit Hülfe der Kirche siegreich durchgesetzt hatten, die edelsten Geschlechter des Landes weder dem Scepter der Gewaltherren noch dem Krummstabe der Bischöfe beugen. Sie wanderten aus und fanden eine Freistatt für ihre alte Verfassung, ihren alten Glauben am nördlichen Polarkreise, auf der Insel Island, der ultima Thule der Alten.

Im Norden und Osten umdrängt von den Eismassen des Polarmeeres, wird diese Insel einigermaßen bewohnbar nur durch den letzten Rest von Wärme, den ein Arm des Golfstroms aus dem Heizkessel für Europa, dem mexicanischen Meerbusen, emporführt bis zu ihren westlichen und südlichen Küsten. Gebirgsmassen, hoch emporragend aus Nebel und Wolken, bedeckt mit ewigem Schnee und Gletschern, schimmern dem Seefahrer schon aus der Ferne entgegen. Erloschene Vulcane erheben sich wie Riesen der Vorwelt in Eispanzern, die jedem Sonnenstrahle widerstehen. Erstarrte Lavaströme thürmen ihre Schollen über einander in phantastischen Gestalten und unabsehbarer Ausdehnung. Weithin vernehmlich donnert noch jetzt der Hekla und sprüht hochaufwirbelnde Aschenwolken und die unerloschene Gluth des Erdinnern hinaus in eine Wüste von Schnee und Eis. Mächtige Kochbrunnen, Geisir genannt, schießen gigantische Schaumgarben siedend heißen Wassers in die Luft. Bis zu zehn Fuß dick erhebt sich der flüssige Stamm jetzt zu Thurmeshöhe, gekrönt mit einem Wipfel von ungeheuern Dampfwolken. Im nächsten Augenblick, auf einen dumpfen Schlag in der Tiefe, stürzt die Schaumsäule zusammen in sich selbst und ist wie auf ein Zauberwort verschwunden, wie eine wundersame Traumgestalt beim ersten Strahle des Morgens.

Wenn das Treibeis von Spitzbergen, wie es zuweilen geschieht, die nördliche Küste bis in den Juli, ja, bis in den August umlagert hält, dann hat die Insel, oder wenigstens ihr nördlicher Theil, gar keinen Sommer und nach kurzer Unterbrechung des Frostes durch stürmisches Thauwetter und Regen geht ein Winter über in den andern. Sonst folgt dem langen Winter ein kurzer Sommer, der aber auch kaum etwas anderes ist als ein süddeutscher März oder norddeutscher April; denn fortwährend wechselt der Sonnenschein mit Regen- und selbst Schneeschauern. Dazwischen toben Stürme von verheerender Gewalt, die den Reiter vom Pferde werfen, die Oberfläche des Meeres in eine Staubwolke zerpeitschen und sie als einen Sprühregen von Salzwasser emportreiben bis auf zweitausend Fuß hohe Berge.

Auf der Höhe des Jahres steht eine dunkelroth glühende Sonne selbst um Mitternacht am nördlichen Horizont. Aber nur in günstigen Jahren besitzt dieser lange Tag die Kraft, ein kümmerliches Gerstenfeld so weit zu reifen, daß man die Körner mahlbar machen kann, indem man die geschnittenen Aehrenbündel auf südwärts gerichteten Trockengestellen an der Mittagssonne nachdörrt. Ende Septembers beginnt wieder der Winter mit undurchdringlichem Schneegestöber, um für sieben bis acht Monate die ganze Insel von den Gebirgen bis zum Strande so hoch zuzudecken daß nur hin und wieder eine schwarze Lavaklippe, überzogen mit grauem Moose, nirgend aber ein Strauch, ein Halm daraus hervorragt und daß die Menschen oft ungehindert wegschreiten hoch über den Dächern ihrer eingeschneiten Häuser. Nur noch das Ren findet dann seinen Weg durch die Winterwüste und weiß sich das karge Moos zu seiner Nahrung aus dem Schnee hervorzuscharren. Während der kurzen Mittagsdämmerung, die dann den Tag bedeutet, umschwärmen Schaaren von Seevögeln die eisklirrende Küste, laut schreiend und gegen den Sturm ankämpfend. Alles andere Leben schweigt. In der Nacht aber beginnt am sternenhellen Firmament das Nordlicht seinen zauberhaften Flammentanz. In wechselnden Farben zucken seine Strahlen zitternd auf und nieder vom braunen Grundbogen im Horizont bis zum Zenith und zeigen die starren Eisgefilde in geisterhaft unbestimmter Beleuchtung.

Dürftig, doch erhaben, mahnte diese Natur mit ihren gewaltigen Contrasten, mit ihrem Urfeuer und ihrem Eise, an die Geheimnisse der Schöpfung, an den Ursprung und das Ende der Dinge. Düster und grau sind ihre Farben; schroff kolossal, scharf beprägt mit dem Siegel der Zerstörung ihre Formen; nebelhaft und sturmzerrissen der stimmunggebende Himmel. Kein Fleck der Erde konnte im Menschengemüth eine mehr zutreffende Tonart anschlagen für die Geschichte verbannter Götter, für die Erinnerung an ihre vergangene Herrlichkeit, nachdem ihr Oberherr, vergleichbar den Titanen unseres Zeitalters, hier sein Sanct Helena gefunden hatte. Hier zerstreute die Phantasie kein Sinnenreiz; die öde Gegenwart ließ sie mit verdoppeltem Heimweh immer nur rückwärts blicken. Zu achtmonatlicher Wintermuße in verschneiter Hütte an die Lampe gebannt, wuchsen ihr bis in’s Riesige die Schwingen der Erinnerung zum Rückflug über Jahrtausende und von dieser letzten Rast im froststarrenden Eismeer bis zur sonnenglühenden Urheimath der Asen an den Abhängen des Himalaya und unter den Palmen an den Ufern der heiligen Ganga.

So ward Island ein Patmos des germanischen Heidenthums. Die Apokalypse seiner Vergangenheit hat es dort aufgezeichnet in den Büchern der Edda.

Ich habe versucht, die ernste Gedankentiefe, die düstere Erhabenheit der Poesie der Edda zunächst mittelbar anzudeuten durch ein landschaftliches Stimmungsbild des Bodens, auf den sie verpflanzt worden war aus Deutschland und Skandinavien, um sich hier noch einmal zu entfalten zur träumerischen Wunderpracht einer Nacht- und Nordlichtsblume des menschlichen Geistes. In den folgenden Briefen will ich Sie bekannt machen mit ihrem Hauptinhalt und denjenigen ihrer Gesänge, welche theils den Entstehungsgang des germanischen Epos offenbaren, theils selbst schon zum Nibelungen-Epos auf der Liederstufe gehören.