„Eine Mutter sucht ihr Kind“

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Titel: „Eine Mutter sucht ihr Kind“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 472–474
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Mutter und Kind (Die Gartenlaube 1876)
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„Eine Mutter sucht ihr Kind“.

So überschrieben wir im April 1872 eine Nachfrage nach dem Aufenthaltsorte des Töchterchens einer jungen Mutter, der das Kind widerrechtlich entrissen und seitdem vorenthalten sei.

Wir verschwiegen damals, daß diese Mutter von dem Vater des Kindes durch gerichtliche Ehescheidung getrennt, und daß Letzterer, als der schuldige Theil, nicht nur mit Gefängniß und dem Verbote der Wiederverehelichung bestraft, sondern auch verurtheilt worden war, der Mutter das Kind und ihr eingebrachtes Vermögen auszuliefern und jährlich eine bestimmte Alimentationssumme an sie auszuzahlen. Denn obwohl die Redaction der „Gartenlaube“ sich durch Einblick in die betreffenden Actenstücke des Obergerichts in Lüneburg und des Appellationsgerichts in Celle, sowie in Zuschriften und amtliche Zeugnisse der Irrenanstaltsdirection in Werneck und zahlreiche Briefe von der Wahrheit der Angaben der Frau von Estorff überzeugt hatte, so trat uns aus allen jenen Papieren doch ein so abschreckendes Familienbild entgegen, daß wir eine weitere Aufdeckung des Schleiers von demselben um so mehr vermieden, als für unseren Wunsch, der verlassenen Dame zum Wiederfinden ihres Kindes und dadurch, zu der Möglichkeit einer gerichtlichen Verfolgung ihres Rechts zu helfen, die einfache Anfrage genügen konnte.

Allerdings wurde dieser nächste Zweck auch erreicht. Es kamen so viele Nachrichten aus den verschiedenen Aufenthaltsorten des Kindes, daß der kurze und doch schon vielbewegte Lebenslauf desselben klar vorlag. Da Herr von Estorff von den deutschen Gerichten steckbrieflich verfolgt wird, weil er die ihm zuerkannte Gefängnißstrafe noch nicht vollständig verbüßt hat, so reiste er meist unter anderem Namen, und ebenso mußte auch das Kind seinen Namen in den einer „Julie Schack“ verwandeln lassen. Als Agnes von Estorff fand man es auf Schloß Ruckenstein in Krain wieder, dessen Besitzerin Herrn von Estorff geheirathet hatte. Von hier kam das Kind zu dem mit allen früheren Verhältnissen desselben bis dahin unbekannt gewesenen evangelischen Geistlichen in Laibach in Pension und Erziehung.

Nachdem auf diese Weise Frau von Estorff den Aufenthaltsort ihres Kindes und des Herrn von Estorff entdeckt hatte, gab sie durch ihren Rechtsanwalt in D., der bei den ehemals hannoverschen, jetzt preußischen Gerichten ihren Ehescheidungsproceß und die übrigen mit diesem in Verbindung stehenden Rechtsstreite vollständig gewonnen und die Verurtheilung des Verklagten wegen des von ihm begangenen Ehebruchs zu einer dreimonatlichen Gefängnißstrafe erwirkt hatten der Kronanwaltschaft in Lüneburg Nachricht davon und ersuchte diese, behufs Vollstreckung der mehrfachen gegen den Verklagten ergangenen condemnatorischen Urtheile das betreffende österreichische Gericht zu requiriren. Dieses Requisitionsgesuch wurde von dem Landesgerichte Laibach an das k. k. Kreisgericht in Rudolphswerth abgegeben, weil dorthin Ruckenstein, das Besitzthum der zweiten Frau des Herrn von Estorff, gehöre. Die nächste Folge desselben war eine Verfügung des k. k. Gerichts an den evangelischen Geistlichen in Laibach, das Kind in seiner Obhut zu behalten bis zum Ausgange des Processes.

Wir durften nun hoffen, von da an in kurzer Zeit unseren Lesern das erfreuliche Resultat unserer Nachfrage nach dem Kinde mittheilen zu können, ohne in die Familiengeschichte näher eingehen zu müssen. Da erschien im Inseratentheile von „Ueber Land und Meer“ eine „Mehrere Mitglieder der Estorff’schen Familie“ unterzeichnete „Erwiderung“ auf unsere Nachfrage nach dem vermißten Kinde. Dasselbe Schriftstück war vorher der Redaction der Gartenlaube, und zwar von der Hand des Herrn von Estorff selbst geschrieben, wie sich aus der Vergleichung mit anderen Briefen desselben sofort ergab, zur Veröffentlichung mitgetheilt worden. Wir hielten es deshalb für unsere Pflicht, das Original dieser „Erwiderung“ dem k. k. Landgerichte in Rudolphswerth einzusenden. Was darin der Welt preisgegeben war, ist das Aeußerste, was ein Mann einem Weibe gegenüber begehen kann. Herr von Estorff stellt sich hier als das unschuldige, beklagenswerthe Opfer absichtlichster Bosheit hin, jede, auch die geringste Schuld und Fehle von sich abwälzend. Und so listig war die Einsendung des Inserats geschehen, daß Herr Eduard Hallberger eine Gegenerklärung der Frau den Estorff zurückwies, weil die Einsendung jener „Erwiderung“ nicht vom Herrn von Estorff, sondern von einem ihm als durchaus ehrenhaft und zuverlässig charakterisirten Manne geschehen sei. Als wir aber als Resultat unserer Nachforschungen Herrn Ed. Hallberger berichten konnten, daß jener Mann „kein ehrenwerter Charakter, sondern soeben zu anderthalbjährigem Gefängnisse wegen Unterschlagung verurtheilt und als Anwalt abgesetzt sei“, und dem auch unsere Erkundigungen über Herrn und Frau von Estorff beifügten, schrieb Herr Hallberger sofort, daß er nunmehr es für seine Schuldigkeit halte und sich freue, durch kostenfreie Ueberlassung des erforderlichen Raumes für die „Erklärung“ der Frau von Estorff beitragen zu können, dem seiner Zeitung auf eine geschickte Art zugespielten „boshaften“ Angriffe auf die unglückliche Dame zu begegnen.

Diese Erklärung war die folgende:

„Die unwahren Anschuldigungen und Verleumdungen, welche angeblich von ‚Mehreren Mitgliedern der Estorff’schen Familie‘ in Nr. 51 dieses Blattes gegen mich veröffentlicht sind, rühren nicht von diesem sondern von dem von mir gerichtlich geschiedenen niederländischen Kammerherrn a. D., Freiherrn Georg Otto Karl von Estorff, her, von dessen eigener Hand geschrieben das Original, wie es der Redaction der ‚Gartenlaube‘ eingesandt war, bei den Acten der k. k. Staatsanwaltschaft zu Rudolphswerth bei Laibach niedergelegt ist. Durch welche Mittel derselbe mich in die Irrenanstalt zu Werneck in Baiern gebracht, übergehe ich hier, nicht verschweigen darf ich aber, daß er den Direktor der Anstalt, Professor Dr. Gudden, zu überzeugen suchte, mich beherrsche die Wahnidee, daß er mit einem Fräulein von Bünau aus Baiern, die er mir als Gesellschafterin aufgezwungen hatte, in einem sträflichen Verhältnisse lebe. Diese angebliche Wahnidee war aber so volle Wahrheit, daß von Estorff auf meine Anklage vom Obergerichte in Lüneburg und vom Appellationsgerichte in Celle des Ehebruchs überführt und zu drei Monaten Gefängniß, Herausgabe meiner Tochter und meines Vermögens verurtheilt wurde und ihm als schuldigem Theile die Wiederverehelichung untersagt ward. Diesem gerichtlichen Urtheile entgegen nahm von Estorff meine Tochter mit sich in die Schweiz und nach Oesterreich und brachte dieselbe als ‚Julie Schack‘ u. A. längere Zeit in einer Pension zu Wilhelmsdorf in Württemberg unter. Er selbst reiste ebenfalls unter den Namen Herr Schack oder Baron Schack. Zwölf Jahre hat er mir mein Kind und jeden Genuß von meinem Vermögen entzogen; zwölf Jahre lang lebe ich hier in der allergrößten Einschränkung, indem ich es ehrenvoller finde, lieber die härtesten Entbehrungen zu ertragen, als die Hülfe meiner Verwandten mehr, als wie dringend nöthig ist, in Anspruch zu nehmen. Meine Rechtfertigung steht wohl sonnenklar in den Acten der obengenannten Gerichte und der Kronanwaltschaft in Lüneburg. Da diese jedoch nicht an die Oeffentlichkeit gezogen werden können, so wird die durch die ‚Erwiderung‘ in 51 dieses Blattes selbst mit angegriffene Redaction der ‚Gartenlaube‘ meine weitere Vertheidigung gegen die auf mich gehäuften Anschuldigungen auf Grund derselben übermittelten Dokumente, Actenstücke und Briefe in die Hand nehmen.

      Mergentheim, den 16. November 1873.

Freifrau von Estorff.“

Was den Angriff auf die Gartenlaube betrifft, so nennt in seiner „Erwiderung“ Herr von Estorff unsere Anfrage nach dem Kinde „ein fälschliches Inserat“, und es liegt uns nun schon deshalb die Pflicht ob, der Oeffentlichkeit gegenüber den Beweis zu liefern, daß unsere Angaben „nicht fälschlich“ waren. Wenn wir nun damals, trotz dieser doppelten Veranlassung, nicht sofort mit der zugesagten „Vertheidigung“ und unserer „Rechtfertigung“ hervortraten, so geschah dies wiederum, weil wir von Woche zu Woche auf die Entscheidung des Gerichts hofften, weil wir einen günstigen Ausgang erwarteten und darum glaubten, daß der versöhnende Erfolg auch unsere übrigen Mittheilungen mildern könne.

Leider hatten wir uns in Allem getäuscht. Ihres Vermögens durch Herrn von Estorff völlig beraubt und schon in’s dreizehnte Jahr in äußerster Dürftigkeit lebend, hatte Frau [473] von Estorff nicht die Mittel, um die Ansprüche des ihr vom Gericht gestellten Armen-Anwalts zu befriedigen. Der Proceß zog sich durch die Jahre 1873 und 1874 hin und wurde endlich von den österreichischen Unter- und Obergerichten gegen die Klägerin und gegen das Urtheil der deutschen Gerichte entschieden.

Arm, recht- und trostlos steht die beklagenswerthe Mutter da; das Einzige, was wir ihr noch erwirken konnten, war die Erlaubniß, zur Confirmation ihres Kindes zum ersten Male an dasselbe schreiben, ihm brieflich ihren Segen zurufen zu dürfen und dafür den ersten Brief der Tochter zu empfangen.

Wir können es uns nicht versagen, wenigstens Einiges aus dem letzteren mitzutheilen:

„Laibach, den 30. März 1875.

Meine liebe Mutter! Mit welchem Gefühle schreibe ich diese Worte! Wenn ich andere Kinder bei ihren Eltern sehe, dann bin ich entsetzlich niedergedrückt durch die Entzweiung meiner Eltern, und ich fühle mich recht unglücklich darüber, daß ich nicht beiden angehören kann. Ich war viel bei fremden Leuten und habe früh das höchste Glück entbehren müssen, welches ein Kind auf Erden haben kann. – – Ich möchte so gern Dich kennen lernen, aber ich liebe ebenso meinen Vater und kann ihn nicht verlassen. Ich kann und darf ja auch nicht richten in dem unglücklichen Streite, der das Glück meiner Kindheit ebenso wie Euer Glück zerstört hat. Wie glücklich wäre ich, wenn Ihr Euch beide wieder näher treten und um meinetwillen Euch versöhnen könntet!

– – Jetzt naht meine Confirmation heran, und da drängt mich mein Herz, Dir, meiner Mutter, nahe zu treten und Dir zu sagen, wie Dein unglückliches Schicksal mir Kummer bereitet, und ich will zu dem lieben Gott bitten, er möge Alles zum Guten wenden. Deine Lehren werde ich gewiß erfüllen, und für Deine Segenswünsche sage ich Dir meinen herzlichen Dank. Sie haben mich tief gerührt, und nun kann ich doch auch mit dem Segen einer Mutter vor den Altar treten. Die Confirmation soll am elften April stattfinden, und der Gottesdienst beginnt Vormittags um zehn Uhr. Denke in dieser Stunde an mich, wie ich auch an Dich denken werde.

– – Für die Sachen, die Du für mich aufbewahrt hast, danke ich Dir herzlich, doch wie gerne wollte ich auf Alles verzichten, wenn ich meine lieben Eltern in Frieden sähe! –

Bei diesem Lebensabschnitt denke ich zurück an meine Kindheit, und ich will Dir einiges davon erzählen.

(Agnes war, nach dieser Erzählung, erst in der Schweiz, dann in Wilhelmsdorf, Ruckenstein, Graz und zuletzt in Laibach gewesen und auf Reisen nach Hamburg und Wien mitgenommen worden. Von Laibach schreibt sie:) Hier bin ich jetzt schon über zwei Jahre. In früheren Zeiten wurde meine Ausbildung öfters durch die Verhältnisse unterbrochen, aber in den letzten zwei Jahren habe ich tüchtig gearbeitet. Ich habe hier (bei dem evangelischen Geistlichen) ein ruhiges und friedliches Leben gehabt; wenn nicht der Druck meines Schicksals so schwer auf mir gelastet hätte, wäre ich ganz glücklich gewesen.

– Ich hoffe, daß mein Vater es erlauben wird, wenigstens brieflich mit Dir zu verkehren, auch wenn ich von hier fort sein werde. – Wenn mein Vater mein Schreiben nicht gestatten will, so möge Gott mir helfen, den rechten Weg zu finden. Für mein Gemüth wäre es eine schwere Prüfung.

Ich will das Beste hoffen, und somit schließe ich denn heute, von diesem meinem Schreiben zu sehr aufgeregt, um noch so Manches zu beantworten, was ich gerne schreiben möchte. Sei herzlich umarmt und geküßt von Deiner Dich treu und innig liebenden Tochter Agnes.“

Das ist der erste Brief des Kindes an die Mutter. Man sieht, das fünfzehnjährige Mädchen ist durch ihr Schicksal um einige Jahre reifer im Leben, als ihre harmloseren Altersgenossinnen. Ihr geistlicher Erzieher in Laibach schreibt über Agnes: „Die ungünstigen Verhältnisse haben auf ihre Gemüthsentwickelung ohne Zweifel einen schädlichen Einfluß geübt. Eine große Melancholie liegt über ihrem ganzen Wesen und giebt ihrem zarten Körper ein eigenartiges Gepräge. Ihre Gesundheit ist übrigens, wenn auch zart, eine constante, ihre Geistesausbildung, wenn auch im Einzelnen noch manches früher Versäumte nachzuholen bleibt, im Ganzen recht gut. Ihr Benehmen ist wohlerzogen und sehr anständig, ihr Charakter ernst und gut. Ich habe das Mädchen gern im Hause, und ich glaube, auch sie ist zufrieden, so weit sie es unter dem Drucke ihrer Lage sein kann.“

So steht das beklagenswerthe Kind da, von Dankbarkeit, Liebe, und Sehnsucht erfüllt und gequält, zwischen den getrennten feindseligen Eltern.

Und nun sollen wir, um die Mutter vor der Oeffentlichkeit zu vertheidigen, durch Enthüllung eines wahrhaft abscheulichen Familienbildes den Vater des Kindes an den Pranger stellen? – Nein! Es geht nicht! Wir sehen im Geiste das flehende Auge des Kindes, – wir sehen, wie es auch den zürnenden Blick der unglücklichen Mutter sänftigt: es geschieht dem Kinde zu Liebe, seiner Zukunft, der Ehre seines Namens, wenn wir heute und hier nur Andeutungen geben, welche zur öffentlichen Rechtfertigung der Frau von Estorff gegen die Beschuldigungen ihres geschiedenen Gemahls zeugen werden. – Daraus ergiebt sich von selbst, wie leider so vergebens; so unerfüllbar der rührende Wunsch des Kindes ist, daß die Eltern um seinetwillen sich versöhnen möchten.

Nach allen Urtheilen und Zeugnissen, die uns von Männern, die zur Wahrheit amtlich verpflichtet sind, über Herrn von Estorff zugingen, gehört er zu jenen Gestalten moderner Cultur, deren Verstandesbildung auf Kosten des Herzens geschehen ist. Von einnehmendem Aeußern und selbst mit wissenschaftlichen, namentlich archäologischen Kenntnissen ausgerüstet, entbehrt er der edlen Gesinnung; sogar der milde evangelische Geistliche, der letzte Erzieher seiner Tochter, welcher durch den Gang der Verhandlungen gewiß einen klaren Einblick in das fürchterliche Familiendrama gewinnen mußte, äußert sich über Herrn von Estorff in absprechender Weise. – Noch entschiedener, ja in Ausdrücken, die wir nicht mittheilen würden, selbst wenn wir die Berechtigung dazu hätten, urtheilt über ihn der ehemalige Irrenhausdirector von Werneck. Die Glaubwürdigkeit eines Mannes kann nicht in stärkere Zweifel gezogen werden. Aehnliches spricht ein amtliches Schriftstück aus, ein „Aerztliches Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt Werneck“, dasselbe, welches auch Herr von Estorff, aber nur so weit es ihm taugte, citirt hat. Dort heißt es: „Einigermaßen erschwert wird der Entwurf einer Krankheitsskizze der Frau von Estorff durch die Unsicherheit, welche in alle Angaben des Herrn von Estorff dadurch hereinkommt, daß er Aussagen seiner Frau für wahnsinnige ausgab, die doch auf allem Anscheine nach bewiesene Thatsachen (Untreue des Mannes) sich bezogen. Hierdurch wird es unstatthaft, die von dem Manne beigebrachte Anamnese ohne Weiteres als eine richtige anzuerkennen, insbesondere bei einem Gutachten auf die von ihm herrührenden Angaben sich zu stützen etc.“

Daß Herr von Estorff, nachdem er sich in den Besitz des Vermögens seiner Gattin gesetzt, sie mit ihrer Familie entzweit und dadurch völlig schutzlos gemacht und die geheime Liaison mit Fräulein von Bünau angesponnen hatte, nur noch darauf ausgegangen sei, sich auf die sicherste Weise von seiner Gattin zu befreien, daß er deshalb ihre Reizbarkeit benutzt habe, um durch geistige und körperliche Mißhandlungen sie in einen Zustand zu versetzen, der ihm das augenscheinliche Recht gäbe, sie für immer der Freiheit, und zwar in einem Irrenhause, zu berauben, – das ist die Annahme der Frau von Estorff, die wir natürlich nicht vertreten können und deren Begründung eben das erfordern würde, was wir vermeiden wollen: die vollständige Enthüllung des Familienbildes. – Bleiben wir beim Actenmäßigen, so spricht das „Aerztliche Gutachten“ namentlich von der „besonderen Form der Seelenstörung, die, ohne eigentliche Verwirrung der Gedanken einhergehend und auf den ersten Anschein nur das Gemüthswesen alterirend, sowohl in Folge der schonenden und rücksichtsvollen Behandlung in der hiesigen Anstalt, in der alle Reizungen möglichst fern gehalten wurden, als auch des Bestrebens der Frau von Estorff, uns Allen gegenüber als gesund zu erscheinen, in entschieden gemilderter Weise zur Beobachtung kam.“ – Daraus läßt sich wenigstens schließen, wie furchtbar jene „Gemüthsalteration“ gewesen sein muß, daß sie die Form der „iracundia morbosa“ (krankhafte Zornmüthigkeit) annehmen, ja daß der Anstaltsdirector sogar deren Heilbarkeit bezweifeln konnte. Später schrieb uns derselbe, daß jetzt, nachdem Frau von Estorff in ihrer Vereinsamung die [474] bittersten Entbehrungen und Seelenleiden mit solcher Standhaftigkeit ertragen, er jedenfalls anders urtheilen würde. Uebrigens sagte er in seinem „Gutachten“ ausdrücklich: „Als eigentlich ‚wahnsinnig‘ ist Frau von Estorff hier in Werneck nie angesehen und behandelt worden.“ – Actenmäßig ist’s ferner, daß Herr von Estorff in die von den Aerzten angeordnete Entlassung seiner Gattin aus Werneck durchaus nicht einwilligen, sondern sie sofort in eine andere Anstalt bringen wollte, und daß nur das entschiedene Entgegentreten des Wernecker Anstaltsdirectors dies verhinderte.

Mögen diese Mittheilungen genügen, um für Mutter und Kind um die öffentliche Theilnahme zu werben und namentlich Frau von Estorff von den Verdächtigungen zu reinigen, welche sie zu moralischem Tode verurtheilen sollten. Die von einem harten Schicksale so lange verfolgte Frau bedarf des öffentlichen Vertrauens, damit die Bitten, die wir nun für sie – und das Kind aussprechen wollen, thatkräftige Berücksichtigung finden.

Da Frau von Estorff in Folge der österreichischen Gerichtsurtheilssprüche nicht nur ihr Kind, sondern auch das ihr von Herrn von Estorff entrissene und widerrechtlich vorenthaltene Vermögen verloren hat, so tritt nunmehr die Nothwendigkeit an sie heran, aus der Einsamkeit in die Gesellschaft zurückzukehren, um ihre Kenntnisse und Fertigkeiten für sich und die unsichere Zukunft ihres Kindes zu verwerthen. Die passendste Stellung würde für sie die einer Gesellschafterin sein, da sie in derselben durch ihre von Jugend auf in höheren Kreisen (auch am königlichen Hof in Stuttgart) gewonnenen Umgangsformen und ihre Gewandtheit in der französischen Sprache sich ohne Zweifel am nützlichsten machen würde. Die Redaction der „Gartenlaube“ vermittelt gern Anträge dieser Art an Freifrau von Estorff, falls man es nicht vorzieht, sich direct an dieselbe nach Mergentheim in Württemberg zu wenden.

Mit einer andern Bitte wenden wir uns für das Kind vorzugsweise an den deutschen Adel. – Wenn wir auch mit dem Herrn Geistlichen in Laibach glauben möchten, daß der jetzt alternde Herr von Estorff seiner heranwachsenden Tochter noch eine gute weitere Ausbildung geben lassen werde, so sagt uns doch der mitgetheilte Brief, wie schwer das arme Kind, trotz der Liebe zum Vater, die Trennung von der Mutter empfindet, wie das Unglück der Mutter ihm am Herzen nagt. Wie lange kann ein so zartes und schon so tieffühlendes Wesen eine solche Marter ertragen? – Und ist denn wirklich so schwer zu helfen? – Wahrlich nicht, wenn heute noch das Wort gilt: Noblesse oblige! – Im deutschen Adel findet sich gewiß eine Familie, welche dem Kinde eine Heimath bietet, und ein ritterlicher Mann, welcher persönlich die Verhandlungen mit den Eltern in die Hand nimmt. Eine Versöhnung der Eltern ist unmöglich; aber ebenso unmöglich ist die fernere Trennung des Kindes von einem der Eltern: es muß beiden jeden Augenblick zugänglich sein, wenn das Herz die Befriedigung des Wiedersehens verlangt.

Möchte diese Bitte für das Kind die rechten Herzen bald finden! Die Gefahr für dasselbe ist um so größer, als Herr von Estorff sich leicht wieder genöthigt sehen kann, unter fremdem Namen zu leben und dem Kinde jeden Verkehr mit der Mutter abzuschneiden. Schon seit dem letzten April ist Agnes nicht mehr bei dem Herrn Geistlichen in Laibach; ihr Vater nahm sie mit sich nach Oberitalien: Mutter und Kind sind getrennter, als je. Man lasse nicht erst Schmerz und Verzweiflung in dem nun genug gefolterten Herzen dieser Mutter so weit kommen, daß sie selbst das Bild ihres Schicksals, wie es bereits mit erschütternden und empörenden Zügen gezeichnet vorliegt, in die Welt schleudert. Es würde mehr als eine Familie darüber mehr als erröthen müssen und der ganze Stand unter den Schatten desselben fallen. Das muß vermieden werden – und wäre es nur um des Kindes willen, gewiß des unschuldigsten Opfers, das jemals die Schuld der Eltern zu büßen hatte.