Mutter und Kind (Die Gartenlaube 1876)
[376] Mutter und Kind – Frau von Estorff und ihre Tochter Agnes (vergl. Gartenl. 1875. S 472.) haben sich endlich, nach vierzehn Jahren, wiedergesehen. An dem Tage, an welchem die junge Mutter die Feier des ersten Geburtsfestes ihres Kindes stillselig vorbereitete, wurde es ihr und sie ihm entrissen, und als der Reife entgegenblühende Jungfrau lag dieses Kind beim Wiedersehen in ihren Armen. Der Aufenthalt des Herrn von Estorff mit seiner Tochter war längst durch die „Gartenlaube“ erforscht, dem edlen Eifer unseres kaiserlich deutschen Gesandten in der Schweiz, des Herrn Generallieutenants von Roeder, gelang es aber erst mit Anwendung der ihn auszeichnenden Energie, der Mutter den Weg zur Tochter zu öffnen. Es läßt sich denken von welcher Sehnsucht vor dieser Aussicht die so lange unglückliche und noch immer nicht glückliche Mutter von Mergentheim nach Basel und von Basel nach Vevey am Genfer See getrieben wurde, wo Herr von Estorff krank darnieder liegt.
„Das Wiedersehen selbst,“ so schreibt uns Frau von Estorff, „dieses Wiedersehen zwischen mir und Agnes war selbstverständlich besonders für mich so erschütternd, wie es sich nur empfinden, nie beschreiben läßt.“ Es war durch die Cantonsbehörde in die Macht des Herrn Gesandten gelegt, der Mutter die Tochter ohne Weiteres zu übergeben, da man aber das Kind, auf dessen Bitte, bei dem kranken Vater vor der Hand noch lassen wollte, um für die Zukunft allen bitteren Gefühlen, die der Zwang verursachen könnte, bei der Tochter vorzubeugen, so wurde durch die deutsche Gesandtschaft ein Vertrag zwischen den geschiedenen Eltern des Kindes festgesetzt, kraft dessen der Vater sich verpflichtete, der Tochter in keiner Weise hinderlich zu sein, den Verhältnissen nach mit der Mutter in steter Verbindung zu bleiben und ihr allmonatlich von ihrem Aufenthalte und Ergehen Kenntniß zu geben; ebenso verpflichtete Herr von Estorff sich, der Tochter eine standesgemäße Erziehung auf seine Kosten geben zu lassen. Frau von Estorff verpflichtete sich dagegen, dem Vater die Tochter, so lange er ihrer Hülfe bedürfe, zu lassen und sie ihm nicht zu entfremden.
Wir dürfen nicht verschweigen, daß der deutsche Gesandte zu den amtlichen Schritten gegen Herrn von E. mehr durch einen Gefälligkeitsbeweis der Cantons-Regierung von Waadtland, als durch einen Rechtsact autorisirt wurde, weil die deutschen Behörden keine Abschrift von den angeblich in Oesterreich verloren gegangenen Original-Urtheilen der deutschen Gerichte gegen Herrn von E. erlangen konnten; ebendeshalb sah sich die kaiserl. Gesandtschaft auf Das beschränkt, was sie diplomatisch zu erreichen vermochte. Am schwersten empfindet Frau von E. den Verlust der Originale der entscheidenden richterlichen Urtheile gegen Herrn von E. in Bezug auf ihr von Herrn von E. ihr vorenthaltenes Vermögen; gerichtlicher Zwang ist aber unter solchen Umständen gegen ihn ausgeschlossen. Der Verlauf dieses Processes vor den österreichischen Gerichten verdient eine strenge Prüfung, welcher wohl ein deutscher Jurist ihn unterzieht; hier haben wir nur bekannt zu machen, daß die österreichischen Gerichte die ihnen von 1862 bis 1869 eingesandten Original-Urtheile, Dokumente, Briefe, Photographien u. dgl. an die deutschen Behörden bis jetzt noch nicht wieder haben zurückgehen lassen.
Der dadurch unwiederbringlich gewordene Vermögensverlust zwingt Frau von Estorff, noch immer die Hoffnung auf eine ihrem sprachlichen und gesellschaftlichen Wissen und Können entsprechende Stellung zu hegen; als Gesellschaftsdame würde sie ihre feine Bildung in höheren Kreisen am besten verwerthen können.