Die weißen Flecken unserer Landkarten

Textdaten
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Autor: Franz Keller-Leuzinger
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Titel: Die weißen Flecken unserer Landkarten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 476–479
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[476]
Die weißen Flecken unserer Landkarten.


Wir leben in einer Epoche, wo der Wunsch, die Oberfläche unseres Planeten, der Heimath und des Gefängnisses für Alles, was da lebt und webt, kreucht und fleucht, vollständig kennen zu lernen und so die „weißen Flecken“ unserer geographischen unserer Karten mehr und mehr zu tilgen, mit jedem Tage dringender wird. –

Regierungen, Gesellschaften, Privatpersonen wetteifern unter einander, Expeditionen nach den entferntesten Gegenden auszurüsten,

[477]

Vorbereitungen zu astronomischen Beobachtungen in Brasilien.
Originalzeichnung von F. Keller-Leuzinger.

[478] nicht wie in früheren Jahrhunderten in der Hoffnung, durch die Entdeckung fabelhafter Schätze an Gold und edlem Gesteine einen tausendfachen Gewinn zu erzielen, sondern um höheren, idealen Zwecken zu dienen.

Kein Land ist zu fern oder zu schwierig zu erreichen: zahlreiche, muthige Forscher durchziehen das Innere Afrikas, wo schon so mancher brave Kämpe ohne Sang und Klang, fern von der Heimath, eingebettet wurde; das altehrwürdige Indien, das neu-, beinahe allzu schnell erschlossene Japan, das blumige Reich der Mitte (wie sehr es sich auch sträuben mag), selbst Australiens wasserarme Einöden werden durchzogen; ja, bis in die Eisregionen der Polarmeere, die noch nie der Kiel eines Fahrzeugs durchfurcht, treibt der Wissensdurst kühne Männer, und wäre es auch nur, um selbst für jene unwirthlichen Breiten die Bestätigung derselben ewig wahren Naturgesetze verzeichnen zu können, deren stufenweise Entdeckung – das Werk von Jahrtausenden – den Stolz unseres Geschlechts bildet. Im Gefolge russischer Heere, die dem schändlichen Treiben asiatischer Despotenzwerge ein rasches Ende bereiten, dringen die Sendboten der Wissenschaft in jene bis vor Kurzem nur mit höchster Gefahr zu erreichenden mittelasiatischen Binnenländer, als Vorläufer einer rückwärtsgehenden Culturwelle, die jenen östlichen Reichen für’s Erste wenigstens wieder die Segnungen geregelter Zustände bringen soll; kurz, nach Ost und West, zu Wasser und zu Lande ist ein kräftiges Vordringen, eine vermehrte Thätigkeit gerade auf diesen Gebieten menschlichen Wissens bemerkbar.

Nur ein Land, in dem mit verhältnißmäßiger Leichtigkeit manch interessantes Problem noch zu lösen wäre, wo die letzten Reste einer aussterbenden Urbevölkerung für den Ethnographen, eine überaus reich ausgestattete Tropenvegetation für den Botaniker ein dankbares Feld der Thätigkeit bieten – ich meine das tropische Südamerika und speciell Brasilien – ist seit Humboldt’s und Martius’ Zeiten, wenn auch nicht gerade verwaist (denn eine lange Reihe bis in die Neuzeit reichender verdienstvoller Namen wie Pöppig, Natterer, St. Hilaire, Prinz von Neuwied, D’Orbigny, Schomburgk, Prinz Adalbert von Preußen, Burmeister, Wallace, Bates und Agassiz würde uns Lügen strafen), so doch bezüglich der Theilnahme des größeren Publicums allzu sehr in den Hintergrund getreten.

Seien wir offen und nennen wir das Kind beim richtigen Namen: es herrscht, so sonderbar es klingen mag, auch in solchen Dingen einigermaßen die Mode, und heutzutage ist Afrika und der Pol an der Tagesordnung, und zwar, besonders was den letzteren anbelangt, in einer Weise, wobei die aufgewandten Mittel, geistige wie materielle, mit den zu erhoffenden Resultaten einigermaßen außer Verhältniß zu stehen scheinen. Die Schätze, welche die unermeßlichen Wälder an den Ufern jener Riesenströme des Amazonas, Orinoco und Parana heute noch bergen, und wodurch unserer Industrie ganz neue Materialien an prächtigen Hölzern, textilen Fasern, Farbstoffen, Harzen, Oelen, unserer Heilkunde neue Arzneimittel an die Hand gegeben werden könnten, die Aufschlüsse, welche den Naturwissenschaften aus einem eingehenderen Studium wenig bekannter Thierformen erwachsen würden, dürften ihre Parallele allerdings in dem noch unerschlossenen Innerafrika, keineswegs aber an Spitzbergens oder Grönlands eisigen Gestaden haben.

Agassiz, der bei aller seiner Befangenheit in veralteten Ansichten ein bedeutender Fachmann war, entdeckte während einer verhältnißmäßig kurzen Explorationsreise auf dem Amazonas mehrere hundert den Ichthyologen bis dahin vollständig unbekannte Fischarten, und hatte außerdem Gelegenheit, viele für die Entwickelungsgeschichte der organischen Welt, speciell für das Studium der Embryologie, höchst wichtige Beobachtungen zu sammeln, die, beiläufig bemerkt, dadurch, daß sie von einem Gegner Darwin’s aufgezeichnet wurden, wohl nicht an Bedeutung verlieren.

Aber, wie schon bemerkt, auch im Interesse der Völkerkunde, jener heutzutage so hochwichtigen Wissenschaft, lohnte es sich, die erlöschende Race der rothhäutigen Ureinwohner, die, an die verschiedenen Punkte des weiten Reiches vertheilt, im Ganzen noch etwa eine halbe Million betragen mögen, gerade jetzt noch in der zwölften Stunde aufmerksam zu beobachten und durch Schrift und Bild für die kommenden Geschlechter zu erhalten.

Bald, in drei, höchstens vier Menschenaltern werden ja auch diese schwachen Reste noch in einer Weise zusammengeschmolzen, physisch und moralisch heruntergekommen sein, daß sie keineswegs mehr die nöthige Spannkraft zur Aufrechthaltung irgend welcher nationaler Eigenthümlichkeiten besitzen und aus diesem Grunde weder weitere Aufschlüsse über das Räthsel ihrer Herkunft, noch überhaupt einen interessanten oder würdigen Gegenstand ethnographischen Studiums werden abgeben können.

Der Laie staunt, wenn er erfährt, daß wir trotz der nach Darwin’schen Grundsätzen unabweisbaren Nothwendigkeit einer Annahme asiatischer Einwanderung, trotz Zuhülfenahme der spärlichen von den Conquistadoren aufgezeichneten Sagen und Ueberlieferungen der Rothhäute in Mexico und Peru, trotz der Arbeiten geübter Forscher auf sprachlichem Gebiete, über die Besiedelung des amerikanischen Continents, über die früheren Züge und Wanderungen seiner Bewohner, die kurze Zeit unmittelbar vor der Conquista ausgenommen, so viel wie Nichts wissen.

Allerdings fallen dem Beobachter unter den Indianern Südamerikas zwei scharf unterschiedene Typen auf, der eine mehr dem mongolischen, der andere mehr dem Adlerprofile der Rothhäute Nordamerikas sich nähernd, auch lassen sich parallel zu diesen Racenmerkmalen tiefgehende Unterschiede in Sprache, Sitte und Lebensweise verzeichnen, aber viel weiter sind wir bis jetzt nicht gekommen, und noch sind die vorhistorischen Zustände der amerikanischen Urvölker ein Buch mit sieben Siegeln, wenngleich die Periode, um die es sich zunächst handelt, keineswegs mit den sagenhaften Zeiten der Aegypter und Assyrer zusammenfällt, sondern, wie schon bemerkt, in verhältnißmäßig ganz neuer Epoche, im fünfzehnten Jahrhundert nach Christus, beginnt.

Lassen wir jedoch den Fachgelehrten die Lösung einer so schwierigen Aufgabe, in einem solchen Chaos den richtigen Faden zu finden; uns interessiren hier vor Allem die geographischen Räthsel, das heißt jene ungeheueren Landstrecken zwischen den Zuflüssen des Amazonas, bis hinauf zu den Quellgebieten des Paraguay und Paraná, und an den Ufern des Letzteren herunter bis dahin, wo er die Region der Wälder verläßt, um in die der grasigen Steppen des Südens einzutreten. Selten nur dringt eine wissenschaftliche Expedition, sei es zur Bestimmung der Grenze mit dem Nachbarlande, sei es zur Vermessung einer Eisenbahnlinie oder zur Wegräumung von Schifffahrtshindernissen, in jene entlegenen Thäler vor, und noch hätten eigentlich unsere Kartenzeichner an vielen Orten dort nichts Anderes zu verzeichnen als ein paar dürftige, vor langen Jahren durch die Portugiesen ausgeführte Längen- und Breitenbestimmungen.

Und wirklich, einige oft ganz aus der Luft gegriffene Namen nie dagewesener Ortschaften ausgenommen, die wir, sowie ein in raupenartigen Ausläufern sich weit in die Ebene erstreckendes hypothetisches Gebirge, mehr als eine Art von sinnbildlichem Schmucke, denn als eine genaue Darstellung der Wirklichkeit zu nehmen haben, finden sich auf unseren Karten gewöhnlichen Schlages oft Länderstrecken, halb so groß wie Deutschland, mit der Aufschrift: „gänzlich unbekannt“, „wilde Indianerstämme“, oder Derartigem bezeichnet.

Die brasilianische Regierung, die Dank ihrer constitutionell-monarchischen Form einer größeren Ruhe genießt, als die von endlosen Revolutionen heimgesuchten Nachbarrepubliken spanischen Ursprungs, und für derartige Zwecke um so eher geneigt ist größere Summen zu verwenden, als der Kaiser Dom Pedro der Zweite, ein außerordentlich vielseitig gebildeter Fürst, gerade an solchen Fragen ein besonderes Interesse nimmt, hat zwar in den letzten Jahrzehnten zahlreiche wohlausgerüstete Expeditionen nach den verschiedensten Punkten des großen Reiches gesandt, und Manches ist auch durch die zu rein praktischen Zwecken unternommenen Eisenbahnvermessungen klar geworden, aber noch bleibt Vieles zu thun, und es wäre sehr wünschenswerth, daß sich eine unserer geographischen Gesellschaften entschlösse, einige ihrer Mitglieder hinüberzusenden, um so mehr, als mit Sicherheit auf eine kräftige Unterstützung von Seiten der brasilianischen Regierung durch Ueberlassen von Transportmitteln, Mannschaften etc. gerechnet werden könnte.

Nichts ist übrigens herrlicher, als eine Fahrt auf jenen breiten Strömen an den bis in die Fluth hineinragenden, mit üppigen Schmarotzerpflanzen dicht bedeckten, lianenverschlungenen Riesenbäumen des tropischen Urwaldes vorüber. Hier ist es, wo die Natur, unberührt von der Hand des Menschen, ihren vollen Zauber zu entfalten im Stande ist; hier ist es, wo sich [479] eine neue, wunderbare Welt von kaum geahntem Formenreichthum vor unseren Blicken enthüllt.

Schöner und angenehmer kann es der Forscher, wie unsere Illustration ihn darstellt, mit dem Sextanten oder vielmehr dem Reflexionskreise in der Hand und im Begriffe, eine Sonnenhöhe zu messen, wohl nicht treffen. Unter den gewaltigen Wedeln einer Uauassú-Palme (Attalea) wird da der leichte Tisch aufgeschlagen, der die sorgsam gehüteten Chronometer trägt. Weithin schweift der Blick vom hohen Ufer über den breiten Strom und seine palmengekrönten Inseln.[1]

Aber nicht Vielen ist es vergönnt, Theil zu nehmen an derartigen Expeditionen in’s wenig bekannte Innere, und für den Naturfreund wäre daher bei alledem wenig zu hoffen, wenn sich nicht ganz in der Nähe der Küste und hart bei großen, volkreichen Städten ein Theil wenigstens jener Schönheiten noch fände, die jene fremde Welt uns so reizvoll erscheinen lassen, und den Besuch solcher Punkte, zu denen gerade Rio de Janeiro und seine Umgebung gehört, glaube ich, selbst auf die Gefahr hin, der Reclame für die Gesellschaftsreisen des Herrn Burmeister beschuldigt zu werden, unserem reiselustigen Publicum, und besonders jenem Theile desselben, der den Orient schon gesehen und nach Neuem dürstet, angelegentlichst empfehlen zu müssen.

F. Keller-Leuzinger.


  1. Wir glauben im Interesse unserer Leser ausdrücklich hervorheben zu müssen, daß der durch sein reich illustrirtes Reisewerk: „Vom Amazonas und Madeira“ wohl bekannte Autor, der lange Jahre hindurch die Urwälder Brasiliens durchstreift, Straßen und Eisenbahnen entworfen und gebaut hat, sich selbst auf dem vorliegenden, ganz aus der Wirklichkeit gegriffenen Bilde darstellte, und zwar in der Figur Desjenigen, der das Meßinstrument in der Hand hält.
    D. Red.