« 10. Stunde Hermann von Bezzel
Einsegnungsunterricht 1892
12. Stunde »
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Elfte Stunde. Samstag früh.

 Treuer HErr und Vater im Himmel, der Du aus Gnaden und Barmherzigkeit um Deines lieben Sohnes willen alle vergangene Zeit der Unwissenheit und Schuld übersehen hast und uns jetzt gebietest, daß wir im Aufblick zu Dir in täglicher Reue und Buße uns verneuen, schenke uns die rechte heilsame Einkehr in uns selbst, und gieb, daß, wenn wir über unsere Sünden erschrecken und zagen über unsere Schwachheit, das Verdienst Deines lieben Sohnes uns tröste und stärke und erhalte im rechten Glauben um desselben Deines lieben Sohnes JEsu Christi, unsers HErrn willen. Amen.

 Die Herrlichkeit, welche der HErr Christus im hohepriesterlichen Gebet Sich erfleht hat, will Er auch uns, den Seinen geben, ja hat sie uns schon gegeben. „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende,“ das entspricht dem „Du hast mich geliebet vor Grundlegung der Welt.“ Wie es unser höchster Trost ist, daß der Erlösungsratschluß gefaßt wurde, ehe der Welt Grund gelegt war, daß wir so wert geachtet sind vor Seinen Augen, daß Er um unsertwillen den Gedanken der Liebe gefaßt, daß das Wort Mensch werden sollte, so ist es Sein höchster Trost, Seine höchste und seligste Gewißheit: „Du hast Mich geliebet vor Grundlegung der Welt.“ „Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die Du Mir gegeben hast, damit sie eins seien, gleichwie wir eins sind.“ Die Leidensteilung („wisset, daß eben dieselben Leiden über eure Brüder in der Welt gehen,“) ist ein Band der Gemeinschaft; aber auch die Teilung der Herrlichkeit ist eine Kette der Gemeinschaft. Eins in der Gemeinschaft des Leidens, Eins in der Gemeinschaft der Herrlichkeit – beides sind feste und unlösbare Bande. Die Gemeinschaft der Leiden müssen Sie immer mehr lernen auch an den Krankenbetten. Das Weh, das Ihr Herz durchzieht, durchzieht genau das der anderen auch, „Wann werde ich dahin kommen, daß ich GOttes Angesicht schaue?“ „Und ich| muß mich stets im Schatten so ermatten, weil Du mir so ferne bist!“ „Zur Reis ist mir mein Herz sehr matt.“ Das gemeinsame Leiden in vertragender, vergebender Fürbitte muß uns mürbe machen auch in den kleinen Mißverständnissen des Lebens. Bei der Welt führen Mißverständnisse und Mißhelligkeiten zu endlosem Zwist. Christen müssen Mißverständnisse verstehen und aus ihnen herausgehen. Lassen Sie sich sehr treulich anempfohlen sein: Hüten Sie sich vor verstarrenden Mißverständnissen, deren Folgen Sie nicht mehr in der Hand haben. Glauben Sie gewiß, jeder Christ, der Ihnen wehe thut, der hat sich selbst zuvor am meisten weh gethan. Haben Sie Barmherzigkeit mit jeden, der Ihnen wehe thut, dann haben Sie die Fülle der Nachsicht, die nicht schwächlich ist, mit der Sie alles verzeihen können, aber auch alles. Unser HErr Christus hat die Mißverständnisse alle getragen. Im Evangelium vom Sonntag Estomihi erzählt Er den Seinen von Seinem ganzen Lebensgeheimnis, aber sie vernahmen der keines und war ihnen verborgen und wußten nicht, was da gesagt war.“ Die ganze Armut Seiner Jünger liegt hier, und wir hören kein einziges Wort des Tadels. Wie hat der Auferstandene die Schwachen und Thorheiten Seiner Jünger noch getragen auf dem Wege nach Emmaus! Wollen Sie die Mißverständnisse Ihrer Genossenschaft tragen, aber auch zur rechten Zeit aussprechen, ehe sie Ihnen zu schwer werden. Auch die allerderbste und ungeformteste Wahrheit ist besser als ein verheimlichtes Mißverständnis. Mißverständnis ist der erste Schritt zu Mißtrauen. Wir wollen andernteils auch, wenn wir Sie mißverstehen, Ihnen dienen mit ungeschminkter Wahrheit, die Sie vielleicht zuerst verletzt, aber nie anders als in der Liebe gemeint ist.
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 Einheit im Leiden, Einheit in der Herrlichkeit. Lassen Sie uns großartigere Menschen werden, denn klein sind wir von Natur gerade genug. Wovon wollen wir denn eigentlich leben? Was soll den Inhalt unsers armen Lebens bilden? „Gelobet sei GOtt und der Vater unsers HErrn JEsu Christi, der uns nach Seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung.“ Lebendige Hoffnung, weil täglich neue Herrlichkeit| vermittelnd. Hebet eure Häupter in die Höhe! Gerade in der letzten Stunde gilt es, das Haupt aufrichten; denn nun naht endlich die Erlösung. Daß der HErr Ihnen diese Herrlichkeitsgemeinschaft gebe, das bitten Sie. ER hat sie gegeben, nehmen Sie alle Worte real. Wir sind viel zu sehr in dem elenden Bann der Phrase befangen auch unserm HErrn gegegenüber. Wir entkleiden die Worte ihres tiefsten Gehalts, daher kommt auch das Mißtrauen unserm HErrn Christo gegenüber. Je mehr wir mit unserer ganzen Person für die Worte einstehen, die wir reden, desto mehr vertrauen haben wir auch zu Seinem Wort. Es ist genug mit diesen Aus- und Umdeutungen, die nichts anderes sind als eine Schmach des Kreuzes. Er hat gehandelt am Kreuze. Wir wollen nie eines Seiner Worte als ein mindergiltiges ansehen. Das ist unsere Schuld vom Paradiese her, daß wir die Worte des wahrhaftigen GOttes nicht so real nehmen. „Sollte GOtt gesagt haben?“ Unsere ganze Theologie krankt an diesem Fehler. Wir sind von diesem elenden Phrasenzwang mehr gebannt, als wir ahnen. Höher noch als alle Bekenntnisschriften steht mir das einfache Bibelwort, wiewohl ich sehr treu zu den Bekenntnissen meiner Kirche stehen möchte. Lassen Sie uns immer wieder zur Quelle zurückkehren, reines Wasser schöpfen. Sehet, welche Liebe hat der Vater in dies unscheinbare Wort gelegt; Er hat es gethan. Warum lassen wir es ruhen, sterben und verderben? Wollen wir den Schatz vergraben? Das thun wir, wenn wir es umdeuten, abdeuten, verdrehen, figürlich nehmen und wie dergleichen Schwindel des Abgrunds heißen mag. Vor aller Allegorisiererei möchte ich ernstlich warnen. Da wollen wir Seine Gedanken mit unsern Gedanken sublimieren, weil sie uns zu dürftig sind. Predigten der Art legen Sie beiseite. Das ist ein schwächlicher Versuch, die dürftigen Gedanken GOttes mit unsern Gedanken zu adeln und zu bereichern. Predigtbücher, die strotzen von „Blüten und Blütenduft,“ die so poetisch einherschreiten, werfen Sie dahin, wohin sie gehören. Sie haben Gescheiteres zu thun. Das ist für Salonmenschen, aber nicht für ordinäre Christen, und Sie sollen ordinäre Christen sein und bleiben. So sehr ich| dagegen bin, daß man an Predigten mäkele, so möchte ich doch mahnen, die Augen offen zu halten, daß man nicht die Schale statt des Kerns nehme. Die Predigtbücher von Hofacker, Harleß, Löhe, Caspari (Seybold viel zu wenig bekannt) genügen vollkommen. Nicht vielerlei, sondern viel! Unser Leben fähret schnell dahin und enteilt, und wir haben nur ein einziges Mittel, es festzustellen, das ist Sein Wort. Senken Sie Sein Wort in die flüchtigen Tage Ihres Erdenlebens ein. Lassen Sie dieses Sein Wort, den Augenblick beherrschen, und Sie fesseln den Augenblick. Eins ist not, das eine aber ist, in Ihm leben und Seine Herrlichkeit lieben.
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 „Ich in ihnen und Du in Mir, daß sie vollkommen seien in eins.“ Das sind die unauflöslichen Bande, nicht unter ihnen, in ihnen und zwar in jedem einzelnen in wunderbarer, gesonderter Weise. Er hat Sich nicht geweigert, unser Bruder zu heißen. Er will Sich nicht scheuen, die Herrlichkeit, in der Er Sich eins weiß mit Seinem himmlischen Vater, zum Einigungspunkt auch mit uns zu machen. Er hat Sich als das Mittelglied zwischen GOtt und der Menschheit bezeichnet. Alle Gottesfülle und Gottesgedanken gehen durch Seine Vermittelung, durch Seines Wesens Mittlerschaft auf uns über. „HErr, was ist der Mensch, daß Du sein gedenkest und des Menschenkind, daß Du Dich sein annimmst,“ daß Du den durch seine Schuld entthronten König, den seiner Krone beraubten Menschen durch Deines Sohnes Verdienst zum Herrn gesetzt hast über alles? Wir sollen uns nicht in Ihm verlieren, wir sollen bleiben, die wir sind, aber so, wie jeder einzelne Sonnenstrahl wieder zurückeilt zur Sonne, von der er seinen Lichtglanz und Wert empfängt. Wir sollen Strahlen sein auf dieser armen Erde, die hinweisen auf die große Sonne, das große Licht der Zeiten, unsern HErrn. Ja. wir sollen als Strahlen der Sonne leuchten in einer umnachteten Welt, auf daß die Leute unsere leuchtende Gestalt sehen und unsern Vater im Himmel preisen. Wir sollen leuchten, und die Welt weiß, diese Strahlen stehen nicht für sich, sie weisen alle hin auf den Herd und Hort, auf den Vater des Lichts. In uns liegen jetzt schon alle Lebenskeime,| alle Lichtstrahlen, wir sind schon eins der Kraft (dynamis) nach, wir sollen es noch werden faktisch in der Erfüllung. „Daß sie vollkommen seien in eins.“ Wenn alle Hindernisse geschwunden sein werden, dann erst werden wir verstehen, was es heißt „auf daß sie vollkommen seien in eins“ (V. 23). Jetzt erzeugt immer die Sünde eine Zwiespältigkeit. Anfang unseres Christenlebens ist: eins mit unserem himmlischen Vater durch JEsum Christum. Ende unsers Christenlebens ist: eins mit unserem himmlischen Vater, ohne daß der HErr Christus als Mittler noch dazwischen ist. Er wird Sich neben uns stellen: das wird Seine größte Ehre sein, daß Er einst nicht mehr vermittelt, sondern daß alles dem Vater unterthan sein wird. Wenn das Ziel der Vermittlung erreicht ist, dann tritt der Vermittler zurück. Er wird sich dann mit uns zusammenschließen zu dem Lobpreis Seines himmlischen Vaters, der uns Ihn geschenket hat und mit Ihm alles. Er aber will, wenn Seine Stunde gekommen ist, Sich Selber unterordnen, Sein Werk ist vollbracht, Er hat Seine Gemeinde auf hohepriesterlichem Herzen getragen, durch hohepriesterliches Opfer Seinem Vater entgegengebracht, und nun kommt das andere „Es ist vollbracht.“ Nun tritt der Sohn zurück, nicht als ob Er zurücktrete für unsere Liebe; aber Er tritt neben uns als der Erstgeborne unter vielen Brüdern, damit „die Welt erkenne, daß Du Mich gesandt hast und Du sie geliebet hast, wie Du Mich liebest.“ So soll die Welt sehen, auch die zum Gericht verurteilte, daß Er uns arme Menschen geliebet hat wie Christum. Das ist das Geheimnis unserer Vollendung, dem wir entgegeneilen, entgegenreifen: Christus stellt Sich Seinem Vater gegenüber, Er eröffnet den Reigen der anbetenden Gemeine: „Ich und Meine Brüder.“
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 „Damit die Welt sieht, Du liebtest sie, wie Mich.“ Hier sind die Augenblicke gekommen, wo es heißt: Unsere Sprache versiegt, hier hören die Worte auf, hier können wir nur stammeln. „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in JEsu offenbart; ich geb mich hin dem freien Triebe, mit dem ich Wurm geliebet ward. Ich will, anstatt an mich zu denken, ins Meer der Liebe mich versenken,“|

„Liebe, Dir ergeb ich mich,
Dein zu bleiben ewiglich.“ Amen.

 O HErr und Heiland, JEsu Christe, der Du Dich herabgelassen hast aus der Fülle Deines Reichtums in unsere Armut, Schuld und Sünde: wir flehen Dich an um Deines jederzeit teuren Verdienstes willen, Du wollest das Werk, das Du begonnen, gnädig hinausführen und uns also vollenden, daß wir Deine Herrlichkeit leibhaftig schauen, Dich anbeten, und in Deinem Preise ewige Seligkeit finden mögen. Amen.

 „Das ist ein köstlich Ding, dem HErrn danken und lobsingen Deinem Namen, Du Höchster.“

 „Darinnen stehet die Liebe, nicht, daß wir GOtt geliebet haben, sondern daß Er uns geliebet hat und gesandt Seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“



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