Eine geheimnißvolle Geschichte

Textdaten
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Autor: Corvin
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Titel: Eine geheimnißvolle Geschichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 679–680
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[679] Eine geheimnißvolle Geschichte. Die Leser der Gartenlaube werden sich noch des Artikels über das Schatzamt in Washington in Nr. 24 dieses Jahrgangs erinnern. In demselben wird der unter seltsamen Umständen stattgehabte Verlust einer Million Dollars erwähnt, die im Schiffbruch des Dampfers Golden Rule verloren gingen, während ohne Gefahr nicht abzusetzende Sieben-Dreißiger Bonds wunderbar erhalten blieben. Im gegenwärtigen Augenblick, wo man den Dieben am Staatsgut in New-York stark zu Leibe rückt, haben amerikanische Blätter auch das geheimnißvolle Verschwinden jener Million wieder angeregt und ein Freund der Gartenlaube setzt uns in den Stand, die interessanten Details des Schiffbruchs der Golden Rule mitzutheilen.

Im Frühjahr 1865 erhielten die beiden Schatzamtsclerks Rufus Leighton und Victor Smith den Auftrag, 1,162,150 Dollars nach St. Francisco zu bringen, wie das häufig geschah. Um Diebe nicht in Versuchung zu führen, wurden solche Sendungen gewöhnlich geheim gehalten und außer den begleitenden Clerks und dem Capitain des nach Aspinwall fahrenden Schiffes sollte eigentlich Niemand etwas davon wissen. Um nicht die Aufmerksamkeit der Schiffsleute zu erregen, wurde die eiserne Kiste, in welcher sich die Summe in Papier befand, in eine gewöhnliche hölzerne gethan und in dieser Verkleidung an Bord des Dampfers Golden Rule gebracht, welcher der „Central-American-Transportation-Company“ gehörte und am 22. Mai von New-York nach Aspinwall abfahren sollte.

Die Kiste wurde von Capitain E. P. Dennis in Empfang genommen und in den hintern Bagageraum gestellt. Mehrere Tage vor der Abfahrt hintereinander erschien im Büreau der „Transportation-Company“ ein Mann, der sich sehr angelegentlich danach erkundigte, ob Herr Victor Smith mit dem Schiffe segle. Der Zufall wollte, daß derselbe einst im Büreau anwesend war, und ein Beamter sagte zu dem Fremden: „Dort ist Herr Smith“. Der Fremde stellte sich demselben als Herr Montgomery Gibbs vor, behauptete, daß er im Auftrage des Schatzamtes in Frankreich gewesen und im Begriff sei, in derselben Angelegenheit nach Californien zu reisen. Er fragte Herrn Smith, ob er auch hinreise, und freute sich, Gesellschaft zu haben.

Herr Smith hatte indessen nicht die geringste Lust, den Fremden zu seinem Vertrauten zu machen, dessen Aussehen ihm wenig Zutrauen einflößte, trotzdem er, nach Aussage einer Dame, wie ein Geistlicher aussah. Er war von mittlerer Größe, hatte eine stark gewölbte Brust, ein glatt rasirtes Gesicht und trug sein schlichtes blondes Haar hinter die Ohren zurückgestrichen. Sein Blick hatte jedoch etwa Gespanntes, Lauerndes. Er sah aus, als ob er entweder etwas verbergen oder etwas auskundschaften wolle; ein Blick, den man übrigens nicht selten bei Leuten findet, welche Theologie studirt und übrigens sonst nicht Böses begangen oder im Sinne haben.

Am Bord der Golden Rule befanden sich sechshundertachtzig Menschen, unter denen hundertachtzig Frauen und Kinder waren. Alle konnten jedoch Herrn Gibbs wegen dieses pfäffischen Blickes nicht leiden, mit Ausnahme des Capitains und eines verdächtigen Individuums, welches sich unter dem falschen Namen Walker an Bord geschmuggelt hatte und welches wunderbarer Weise Kenntniß von der Anwesenheit der Geldkiste besaß, da es darüber mit Herrn Smith einen Streit hatte.

Die Golden Rule hatte gleich beim Auslaufen ein Unglück. Ein kleiner Dampfer rannte derart in ihren linken Räderkasten, daß das Schiff einige Tage liegen bleiben mußte, bis der Schaden ausgebessert war.

Capitain Dennis überließ die Sorge für das Schiff und Passagiere seinen Lieutenants Pendleton und Reed und trank und amüsirte sich mit Herrn Gibbs und Walker und einigen leichtfertigen Frauenzimmern, von denen eine große Menge an Bord waren.

Am 29. Mai war der Geburtstag des Capitains. Zu Ehren des Tages wurde ein prächtiges Diner aufgetragen und nach dem Thee auf dem Deck getanzt. Die Abendstunden vergingen mit Unterhaltungen aller Art, wie gewöhnlich an Bord eines Schiffes auf längerer Fahrt, und Alle gingen zu Bett, ohne zu ahnen, was bevorstand.

Die Nacht war finster und nebelig und um Mitternacht fing es an zu regnen. Um drei Uhr Morgens rief Pendleton den Capitain; dieser fragte, was es für Wetter sei.

Der Lieutenant sagte: „Dick, unklar und nebelig.“

Der Capitain erwiderte: „Seht aus nach Brandung auf der Starbordseite und ruft mich um fünf Uhr!“

In der That sah der Lieutenant bald die Brandung in einer Entfernung von einer englischen Meile. Er zog sogleich die Glocke, um das Zeichen zum Halten zu geben, und befahl dann zurückzugehen. Das war kaum geschehen, als das Schiff auf ein Riff lief, aber in Folge des Rückwärtsgehens geschah dies so leicht, daß man es, der Aussage Pendleton’s nach, kaum fühlte. Der Stoß muß doch nicht so ganz leicht gewesen sein, denn kaum hatte er stattgefunden, so erschienen auch – als hätten sie darauf gewartet – der Capitain in Hemd und Unterhosen und ebenso Herr Gibbs. [680] Beide verschwanden wieder zu gleicher Zeit und kehrten in etwa fünf Minuten angezogen zurück.

Sobald sich im Schiffe die Nachricht verbreitete, daß dasselbe aufgelaufen sei, entstand ein gräßlicher Lärm. Alles rannte schreiend, weinend, betend oder fluchend durcheinander, und der Schrecken wurde noch erhöht durch das Benehmen des Capitains, der gänzlich den Kopf verloren hatte. Er warf sich in die Arme des Obermaschinenmeisters Slote und heulte und schluchzte wie ein kleines Kind.

Der erste Lieutenant hielt es für möglich, das Schiff zurückzubringen, da es nur angestoßen hatte und nicht aufgelaufen war; allein auch er gab die Hoffnung auf, als gemeldet wurde, daß im untersten Raume ein Leck sei, so groß „wie der Leib eines Pferdes“. Das Schiff schwenkte übrigens herum und legte sich mit der Breitseite gegen das Riff, so daß Hoffnung war, es werde halten, bis ein Floß gebaut sei, wenn kein Sturm kam. Unter der Leitung der drei Officiere wurde sogleich mit dem Bau eines Floßes begonnen, wobei die ganze Mannschaft willig Hand anlegte.

Die Lage des Riffes Roncador war wohl bekannt und ebenso daß in diesem Theil eine Strömung nach Nordwesten stattfand, welche es durchaus nöthig machte, sechs bis acht Meilen vom Riff vorbeizusteuern; allein der Capitain blieb nur etwa drei Meilen ab und mußte demnach gerade auf das Riff getrieben werden.

Um neun Uhr Morgens fuhr Pendleton mit sechs Mann in einem kleinen Boote nach Providence-Island, welches etwa achtzig englische Meilen entfernt ist, um Hülfe zu holen, und als man später einige Meilen wirklich Land zu sehen glaubte, ging auch Reed um drei Uhr Nachmittags ab zu recognosciren. Er kehrte gegen Abend mit der freudigen Nachricht zurück, daß er Land gefunden, und ungeheurer Jubel unter den armen Leuten an Bord folgte der Verzweiflung.

Es war heller Mondschein, als das Floß gegen acht Uhr vollendet war und Anstalt gemacht wurde, die Passagiere nach der kleinen Insel hinüberzuschaffen, zuerst natürlich Frauen und Kinder. Die letzten derselben kamen um drei Uhr des nächsten Nachmittages an, die letzten Männer erst vierundzwanzig Stunden später.

Die Lage der armen Schiffbrüchigen war schrecklich. Es regnete, was es konnte, und auf der kleinen, etwa fünfundzwanzig Morgen haltenden Insel war kein Schutz. Die Frauen saßen trostlos im Sande und hatten ihre Kinder an sich gedrückt, die vor Angst, Nässe und Hunger weinten. Die Insel erhob sich nur wenige Fuß über die See und trug nichts als ein der Petersilie ähnliches Kraut; allein glücklicher Weise nistete hier eine große Menge Seevögel, welche Menschen nicht kannten und sich nicht fürchteten, sondern auf ihren Nestern sitzen blieben und sich von den Kindern streicheln ließen. Die Eier, die man roh aß, gewährten wenigstens einige Nahrung, allein das Fleisch der Vögel war fast ungenießbar.

Allmählich brachte man indessen Lebensmittel und Material zu Zelten von dem Wrack; allein der Capitain wollte Niemandem erlauben, nach der Bagage zu sehen. Er, Herr Gibbs und einige Personen, welche der Letztere bezeichnete, nahmen den Bagage-Raum – in welchem sich auch die Geldkiste befand – unter ihre specielle Aufsicht, und nicht einmal die beiden Schatzamt-Clerks erhielten Erlaubniß hineinzugehen, obwohl das noch sieben Tage lang möglich war. Endlich am achten Tage setzte es Smith durch, mit einigen Arbeitern die Rettung der Geldkiste versuchen zu dürfen, allein ehe sie noch das Geringste hatten thun können, befahl ihnen der Capitain barsch abzulassen. Am folgenden Tage blieb Smith mit den Arbeitern auf dem Floß, in der Hoffnung, vom Capitain Erlaubniß zu erhalten, ihre Arbeit fortzusetzen; allein in der Nacht peitschte ein starker Wind die See zur Wuth. Die ganze Seite der Golden Rule brach ein, und nun war alle Hoffnung verloren, das Geld und die Bagage zu retten. Man erbeutete indessen einige Koffer und fand, – daß alles Geld daraus verschwunden war. Auch den von Gibbs rettete man, und man fand in demselben das Silberzeug des Schiffes.

Endlich am 8. Juni kamen zwei Schooner von Musquito-Bay, wohin Pendleton in seinem offnen Boot verschlagen war. Alle Mannschaft und Passagiere wurden eingeschifft, aber Herr Smith blieb allein auf dem Riff und schrieb von dort den Brief an den Minister Mac Culloch, den ich früher erwähnte und im Namen desselben beantwortete. Der brave Beamte schickte seine Frau und Kinder, die er bei sich hatte, nach St. Francisco und blieb vierzehn Tage lang allein auf dem Riff, bis Hülfe von Aspinwall kam und er seine Versuche, die Geldkiste zu finden, fortsetzen konnte.

Das Erste, was man fand, waren siebenundzwanzig Pakete mit Bonds, die auf die Namen von Personen in Francisco, oder Firmen zahlbar gemacht waren, also nicht ohne deren Endossement verkauft werden konnten. Aus einem derselben fehlten zwei Fünfhundert-Dollarnoten, endlich fand man auch die Geldkiste; sie war offen und sämmtliche au porteur zahlbare Cassenanweisungen, zusammen eine Million, waren verschwunden! – Die zerbrochene Kiste wurde auf Befehl des Finanzministers nach Washington geschickt, – wohin sie nie gelangte. Sie war an D. W. Gray comp. in Baltimore adressirt und wurde auf dem Schooner „Virginia“ dorthin geschickt. Sie kam nicht nach Baltimore. Der Capitain des Schiffes sagte, er habe sie bei einem Sturm in der Chesapeak-Bay, um das Schiff zu erleichtern, über Bord werfen müssen.

Der brave Victor Smith verließ Fort Roncador erst am 8. Juli und kam so krank von all den Anstrengungen in St. Francisco an, daß er seinen Bericht nicht machen konnte, sondern denselben aufschob, bis er von einer Reise nach Oregon zurückgekehrt sein würde, wohin er in dem Schiffe „Brother Jonathan“ segelte, welches mit ihm zu Grunde ging.

Auf Veranlassung des Unter-Schatzmeisters Cheeseman in St. Francisco, der mit Smith eine Unterredung hatte in Bezug auf das Verschwinden der Million, wurde ein Beamter der Detectiv-Polizei dem Capitain Dennis auf die Fährte gesetzt; allein gar bald mußte man einen andern Beamten senden, welcher seinen Cameraden, Namens Girvan, und Dennis beobachtete. Dies führte zur Arrestation Girvan’s, allein es scheint, daß derselbe sich mit seinem alten Cameraden abfand. Geld hatte der früher ganz arme Mann, denn er erwarb im Namen seines Sohnes eine Farm für zwanzigtausend Dollars ganz in der Nähe einer andern, welche Capitain Dennis kaufte, nicht weit von Ellicot’s Mills in Maryland, er hatte sein Vermögen durch Speculationen erworben und Girvan hatte Geld durch Hopfenhandel verdient, – sagten sie.

Gibbs ging nach Paris, wo er herrlich und in Freuden lebte und von wo er, erzählt man, kostbare Geschenke an Beamte im Schatzamt sandte, deren Agent er in der ganzen Geschichte gewesen sein soll. Das würde es allerdings erklären, daß alle Versuche, die Diebe aufzufinden, fruchtlos blieben; der Controller des Schatzamts, Herr R. W. Taylor, behauptet jedoch, daß das Geld nicht gestohlen, sondern ehrlich und rechtschaffen ertrunken sei. Warum allein die Noten au porteur ertranken und die Sieben-Dreißiger Bonds nicht, – darüber bleibt er den Aufschluß schuldig. Auch sagt er, daß die offene Geldkiste im Schatzamt von Washington angekommen und von dem Ober-Maschinisten untersucht worden sei und daß derselbe erklärt habe, die Kiste sei durch keine Instrumente geöffnet worden, – wenigstens könne das nicht bewiesen werden. –

Ich war damals im Schatzamt und wundere mich nur, daß ich von der Ankunft der Kiste nichts hörte, obwohl das schon möglich ist. Jedenfalls ist in dieser Geschichte nicht alles klar und die öffentliche Meinung spricht sich dahin aus, daß Capitain Dennis, den Gibbs ganz beherrschte, das Schiff absichtlich auf das Riff laufen ließ, entweder um den Raub zu begehen, oder den bereits vorher vielleicht schon in New-York begangenen Raub zu verdecken.

Dennis lebt in menschenscheuer Abgeschiedenheit und verkehrt außerhalb seines Hauses mit Niemand. Hin und wieder erscheinen in der Gegend verdächtige Gestalten, die mit dem Capitain verhandeln, oder doch den Versuch machen es zu thun, was nicht oft gelingt, da er sich verleugnen läßt. Man meint, daß diese Personen Mitwissende sind, welche ihre Kenntniß dazu benutzen, ihn auszupressen.

Von einem Montgomery Gibbs wollte man nichts im Schatzamt wissen. – Da haben die Romanschriftsteller einen Stoff, wie sie ihn sich nicht besser wünschen können.
Corvin.