Pariser Bilder und Geschichten/Die Armen und Elenden

Textdaten
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Autor: Ernst Eckstein
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Titel: Die Armen und Elenden
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 677-679
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Pariser Bilder und Geschichten.
Die Armen und Elenden.

Es war im August dieses Jahres. Wir saßen vor einem der großen Kaffeehäuser des „Boulevard des Italiens“ und ließen die bunte wogende Menge Revue passiren. Mein Freund war zum ersten Male in Paris. Die Ruinen der Weltstadt hatten einen so unwiderstehlichen Reiz auf seine Einbildungskraft ausgeübt, daß er nicht umhin konnte, sich durch den Augenschein von der Glaubwürdigkeit der Zeichner und Berichterstatter seiner vaterländischen Blätter zu überzeugen. Wir waren den ganzen Tag rastlos herumgelaufen und erfreuten uns nun unserer „halben Tasse“, im Bewußtsein, die Labung redlich verdient zu haben.

Es schlug Neun. Immer farbenreicher gestaltete sich das kaleidoskopische Treiben auf den Asphaltplatten. … Jetzt trat ein alter zitternder Mann an unsern Tisch heran. Sein ganzer Körper schlotterte wie von einem heftigen Nervenschütteln. Er bat um ein Almosen; mein Freund reichte ihm ein Zweisousstück. Eine halbe Minute später legte uns ein junger Bursche einen Zettel neben die Tasse. Der Wisch war mit einigen Anekdoten etc. bedruckt und trug auf der Rückseite die Aufschrift: „Meine Herren und Damen! Kaufen Sie gefälligst dieses Werk Ihrem ergebenen Diener ab, der taubstumm ist. Es kostet nur zwanzig Centimes.“ Mein Freund kaufte. Unmittelbar darauf erschien eine zerlumpte Frau, die ein Kind auf dem Arme trug und ein zweites, älteres an der Hand führte. „Eine arme Wittwe!“ murmelte sie in kläglichem Tone. … „Erbarmen, meine Herren! … Meine Kinder hungern seit zwei Tagen.“ … Dabei warf sie Blicke gen Himmel, die einer christlichen Märtyrerin keine Unehre gemacht haben würden. Mein Freund reichte auch ihr eine Kleinigkeit und schüttelte dann, wie nachdenklich, das lockenumwallte Haupt.

„Es muß doch in dieser Riesenstadt ein entsetzliches Elend herrschen!“ seufzte er nach einer Weile. „Die Pariahs der Gesellschaft ziehen ja hier zu Hunderten an uns vorüber …“

„So scheint es – aber der Schein trügt!“

„Wie so?“

„Nun, die wahren Armen und Elenden darfst Du nicht hier im Lichte der funkelnden Candelaber suchen.“

„Aber ich bitte Dich!“

„Lieber Freund, ich kenne dieses Paris wie meine Rocktasche. Verlaß Dich darauf, Deine Mildthätigkeit von vorhin war durchaus nicht am Platze.“

„Der arme zitternde Greis …“

„Geht des Tags über so stramm und kräftig umher, wie ein Grenadier. Er begegnet mir oft, wenn ich meinen Morgenspaziergang mache. Seine Virtuosität im Schlottern bringt ihm eine jährliche Rente von fünf bis sechstausend Francs ein.“

„Unmöglich! Aber der Taubstumme …“

„Spielt seine Rolle meisterhaft, ist aber nichtsdestoweniger ein Schwindler. Er gehört zu den bekanntesten Figuren der Boulevards.“

„Und die unglückliche Wittwe …“

„Ist so wenig Wittwe als Du und ich. Die beiden Kinder hat sie sich gemiethet. Sie ‚verdient‘ so viel, daß sie den Eltern der beiden armen Würmer täglich vier Franken Pachtzins bezahlen kann. Nein, mein Bester, das wahre Elend verbirgt sich, scheu und furchtsam, als ob Armuth ein Verbrechen wäre.“

„Und wo sind diese wahren Dulder zu finden? Sind es die Arbeiter der Faubourgs, die Soldaten der Commune, die Männer des socialen Umsturzes?“

„Die Lage der Ouvriers, der Arbeiter, läßt viel zu wünschen übrig – aber unter zehn Fällen vermag Einer doch neun Mal sich und die Seinen ehrlich durchzuschlagen. Gesunde fleißige Hände verdienen selbst unter den ungünstigsten Verhältnissen so viel, daß von einer eigentlichen Noth nicht die Rede sein kann. Der Pariser Arbeiter würde sich sogar vortrefflich stehen, wenn er beispielsweise nicht mehr Bedürfnisse hätte, als der deutsche. Aber das ist eben der Fluch einer luxuriösen Stadt; die überfeinerten Lebensformen wirken allenthalben ansteckend, und so kommt es, daß sich allmählich zwischen Wollen und Können ein unversöhnlicher Zwiespalt ausbildet. Der französische Ouvrier beansprucht bei jeder Mahlzeit sein Dessert, so gut wie der Petit-Crevé des Boulevards; er gefällt sich in kostspieligen Liebschaften, ganz nach der Manier der großen Herren. Unter solchen Umständen muß er seine Löhnung natürlich knapp finden. Der fleißige sparsame Familienvater wird dagegen sein redliches Auskommen erzielen; als Arbeiter braucht er in keiner Beziehung zu ‚repräsentiren‘; seine tägliche Tracht ist die überaus billige Blouse; er wohnt ohne Rücksicht auf irgend welche gesellschaftliche Aeußerlichkeit, wo und wie er Lust hat; seine Frau, seine Kinder helfen mit verdienen, denn auch sie können thun und lassen, was ihnen behagt; kurz, der Ouvrier gehört, trotz aller Mangelhaftigkeit unserer socialen Zustände und unbeschadet seiner berechtigten Ansprüche auf Verbesserung, noch keineswegs zu den eigentlichen ‚Misérables‘. Nein, ich will Dir die eigentlichen Pariahs des modernen Paris nennen: es sind die unverheiratheten Arbeiterinnen und die Subalternbeamten! Von dem Elende, das diese beiden Kategorien von Unglücklichen zerwühlt und zermartert, macht sich unsre leichtfertige Welt, die nur nach dem Scheine urtheilt, keinen Begriff.“

Mein Freund drückte mir den Wunsch aus, etwas über die Lebensweise dieser modernen Sclaven zu erfahren, und so erzählte ich ihm denn, was ich wußte. Vielleicht ist es dem geneigten Leser nicht uninteressant, wenn ich das flüchtige Bild, das ich damals entwarf, an dieser Stelle nachzeichne – wo nicht, so hat er das souveraine Recht, die folgenden ohnehin düsteren Skizzen zu überschlagen.

Es mag wohl zwei Jahre her sein, da fuhr ich eines schönen Morgens auf der Omnibus-Impériale von Batignolles-Clichy nach den Weinhallen. Mein Nachbar zur Rechten war ein anständig gekleideter intelligent aussehender Mann in der Mitte der Dreißiger.

Sein blasses Gesicht war von einem wohlgepflegten dunkeln Vollbart umrahmt, der die fahle Nuance der Wangen noch auffälliger machte. Es lag Etwas wie ein unsagbarer geistiger Druck über der ganzen Erscheinung; ein Hauch von freudloser Seelenverfinsterung, vermischt mit einer unerquicklichen Resignation.

Der Mann interessirte mich. Nach wenigen Minuten hatte ich ein Gespräch mit ihm angeknüpft. Er war mittheilsamer, als ich erwartet hatte. Ich erfuhr, daß er Employé (Beamter) im Hôtel de Ville sei; daß er erst vor einem halben Jahre seinen Geburtsort – er nannte ein kleines Städtchen der Normandie – verlassen habe, um nach Paris überzusiedeln. Seine Stimme frappirte mich [678] fast noch mehr als sein Aeußeres. In ihrem seltsam zitternden Klange lag so viel geheimes Weh, so viel ungesprochene Sorge, daß ich alsbald mit dem ernsten, blassen Menschen ein aufrichtiges Mitleid empfand, ohne mir völlig darüber klar zu sein, inwiefern er eigentlich zu diesen Gefühlen berechtige.

Nach einer Fahrt von etwa zwanzig Minuten grüßte er mich auf’s Artigste und verschwand in der Nähe des St. Jacques-Thurmes. Ungefähr vier Wochen später begegnete ich ihm in dem Hausflur meiner Wohnung. Ich erkannte ihn augenblicklich wieder.

„Sieh da, Monsieur,“ sagte ich, „wie geht’s?“

„Ach, Sie sind es, Monsieur,“ erwiderte er lebhaft. „Ich glaube, wir sind jetzt Nachbarn.“

„Wohnen Sie hier im Hause?“

„Hinten im Hofbau, fünf Treppen hoch.“

„O dieses Paris! In einer biedern deutschen Stadt würde man sich längst einen Besuch abgestattet haben!“

Er erröthete.

„Meine Verhältnisse erlauben mir nicht, Jemanden bei mir zu sehen,“ stammelte er in augenscheinlicher Verlegenheit, „sonst würde ich …“

„I,“ versetzte ich lachend, „ich kann mir wohl denken, daß Sie da droben unter Ihrem Dache keine Metternich’schen Salons etablirt haben. … Was thut’s? Bei mir finden Sie auch keinen überschwenglichen Luxus.“

„Ich bin verheirathet,“ fuhr er fort, „und habe fünf Kinder. … Die Wohnung ist sehr, sehr beschränkt, – ich kann wirklich nur meinen allernächsten Freunden zumuthen …“

„Nun, so seien Sie außer Sorgen, ich will Sie nicht eher besuchen, als bis Sie mich direct dazu auffordern. Aber Sie können mir doch wenigstens die Ehre schenken. Wir haben damals auf der Omnibus-Imperiale so angenehm geplaudert, daß es mir ein ganz besonderes Vergnügen machen würde, Sie bei mir zu sehen. Die Visite engagirt Sie in keiner Richtung. Wenn es Ihnen in meinen vier Wänden nicht behagt, so sind Sie unbedingt ermächtigt …“

„O, Sie sind zu gütig. … Schön also! Demnächst werde ich an Ihre Thür pochen.“

Höflich grüßend eilte er an mir vorüber, ich aber sann den Tag hin und her, wie es da oben, fünf Treppen hoch, wohl aussehen möchte. … Ich sollte es früh genug erfahren.

Monsieur Edouard, so hieß der Employé, besuchte mich am folgenden Sonntag. Ich lud ihn ein, mit mir zu Abend zu essen, was er auf’s Entschiedenste ablehnte. Im Uebrigen schien er sich indessen sehr wohl bei mir zu fühlen. Die Sympathie, welche ich für ihn empfand, mochte meinem Benehmen gegen ihn etwas besonders Herzliches und Vertrauliches verleihen. Kurz, wir wurden bald gute Freunde, und ehe der zweite Monat verging, hatte Edouard sein anfangs so zurückhaltendes Wesen völlig verändert. Er machte mich mit seiner Familie bekannt; er enthüllte mir seine Verhältnisse mit der Offenheit eines Kindes, dem es eine Befriedigung gewährt, seinen Kummer ungehemmt ausschütten zu dürfen. Und Kummer war es im vollsten Sinne des Wortes, Kummer, Noth und Elend, was dieser unglücklichen Familie fast jede Secunde des Lebens verbitterte und schließlich ihren Untergang herbeiführte.

Edouard hatte zwölfhundert Franken Gehalt. Er wohnte so bescheiden als möglich; aber zweihundertundfünfzig Franken, das war doch das Wenigste, was er für Miethe in Abzug zu bringen hatte. Als Employé des Hôtel de Ville mußte er stets anständig gekleidet gehen; auch seine Frau durfte in dieser Beziehung nicht ganz und gar die Forderungen des Wohlstandes verletzen. Trotz aller Vorsicht, trotz aller Berechnung war es unmöglich, diesen wichtigen Posten unter die Höhe von hundertundachtzig Franken herabzudrücken. Machte mit der Wohnung in Summa vierhundertdreißig Franken. Setzen wir nun nach einem ungefähren Ueberschlag für Wäsche sechszig Franken an, für Feuerung achtzig, für Licht zwanzig, für die Kleidung und das Schuhwerk der Kinder achtzig, für Schulgeld vierzig, und für unvorhergesehene und nicht näher zu bezeichnende Ausgaben neunzig Franken, – Alles die fast unmöglichen Minima –, so blieben für den eigentlichen Lebensunterhalt von sieben Menschen vierhundert Franken übrig! Man sollte es für absolut unthunlich halten, daß eine Familie mit dieser armseligen Summe mehr bestreiten könnte, als die Nahrungskosten eines Quartals. Edouard und die Seinen mußten mit vierhundert Franken ein volles Jahr hindurch wirthschaften. „Aber fragt mich nur nicht wie!“ Das Herz blutet Einem bei diesem trostlosen, himmelschreienden Elend!

Ein Franken und zehn Centimes, – also noch nicht neun Silbergroschen täglich in einer Stadt wie Paris! Das war der langsame Hungertod in allerbester Form! In der That starb eines der unglücklichen Kinder noch in demselben Herbste – am Schleimfieber, wie die Mutter meinte, in Wahrheit aber aus Entkräftung.

Ich muß es Madame Edouard nachsagen, sie wußte das Verhungern der Ihrigen meisterhaft zu verzögern. Sie verstand es, die knurrenden Mägen doch wenigstens zweimal in der Woche zu befriedigen. Aber freilich, es waren seltsame Diners, die sie auftischte. Bald kochte sie zwei Pfund Weizenmehl mit Salz und Wasser zu einem zähen Brei, – eine Delicatesse, die bereits drei Viertel ihres täglichen Budgets erschöpfte. Das wurde dann Abends zur Hauptmahlzeit servirt, nachdem ein Theil zum Frühstück für den folgenden Tag bei Seite gestellt worden war. Dazu gab es mikroskopische Brodportionen, aber nicht einen Tropfen Wein, so unentbehrlich dieser billige Trank selbst den bescheidensten Ansprüchen erscheinen mag. Bald kaufte sie in den Markthallen verdorbene Fische und suchte die scheußliche Waare durch eine beizende Zwiebelbrühe weniger ungenießbar zu machen. Bald warf sie etwas Kohl in einen großen Kessel und bereitete eine „Suppe“, das heißt, sie sättigte ihre Familie mit Wasser, in welchem einige Blätter herumschwammen. Kurz es war im besten Falle ein sinnreiches Belügen der gebieterisch fordernden Natur, und heute noch ist es mir räthselhaft, wie es den Unglücklichen gelingen konnte, so lange den verheerenden Wirkungen der Entbehrung Widerstand zu leisten. Zwei der kleineren Kinder sind offenbar von Zeit zu Zeit wider Wissen der Eltern – betteln gegangen. … Paris ist groß und der Hunger thut weh. … Alle mütterlichen Moralpredigten, alle Grundsätze des Stolzes schmelzen vor dem quälenden Gefühl der Leere, das der junge Organismus, der da wachsen will, doppelt schmerzlich empfindet!

In Deutschland hätte Madame Edouard über ein kostbares Hülfsmittel verfügt, das ihr den grenzenlosen Jammer wenigstens um Einiges erleichtert hätte, – über die Kartoffeln. In Paris spielt dieses Hauptnahrungsmittel des deutschen Proletariats eine untergeordnete Rolle, weil es zu theuer ist. Auch das Brod hat nicht die gleiche Bedeutung wie in Deutschland. Mit Einem Worte, die Armen und Elenden von Paris sind die elendesten unter der Sonne!

Die Wohnung der Edouard’schen Familie bestand aus zwei Räumen: einem Zimmer und einer Küche, die indeß fast einem Verschlage glich. In diesem Zimmer befand sich ein Ameublement der dürftigsten Art: drei Betten, ein Tisch, sechs Stühle und ein Schrank aus Eichenholz; das war Alles! Hier waltete von früh bis spät Madame Edouard und nähte, strickte, flickte, bügelte und bürstete sich schier den Bast von den Fingern. Nur so war es möglich, die Garderobe der Familie mit den oben angedeuteten Auslagen zu bestreiten. Unter diesen Umständen konnte von einem Nebenverdienste der Frau natürlich nicht die Rede sein.

Aber – wird man fragen – hätte nicht vielleicht Monsieur Edouard in seinen Mußestunden …? Vollende nicht, grausamer Leser! Monsieur Edouard war von Morgens sechs bis Mittags Zwölf und von Nachmittags Eins bis Abends Sechs beschäftigt, um nach eingenommener Mahlzeit abermals in’s Joch gespannt zu werden. Manchmal kam er erst um halb Elf, Elf vom Bureau zurück. Nur Sonntag Nachmittags war er frei, aber so abgespannt, daß er diese Frist unbedingt seiner Erholung widmen mußte, wenn er nicht krank werden wollte!

Eines Tags kam Edouard zu mir auf’s Zimmer und bat mich mit zitternder Stimme um ein kleines Darlehn. … Seine Frau war seit drei Tagen bettlägerig. … Sie bedurfte der Pflege, der Medicamente, des ärztlichen Beistandes, … aber es waren keine hundert Sous mehr in der Haushaltungscasse vorräthig.

Nie hat mich eine ähnliche Bitte mehr erschüttert als diese. Es lag so viel Bescheidenheit, so viel Zartgefühl in der Art und Weise des unglücklichen Mannes, daß ich in diesem Augenblicke gewünscht hätte, über die Renten Rothschild’s zu verfügen, – nur um dem Aermsten ein paar Tausendpfundnoten zu Füßen legen zu können. Ich wußte wohl, daß Edouard, der seit Jahren mit dem Deficit rang, kaum jemals im Stande sein würde, ein [679] eventuelles Darlehn zurückzuzahlen; aber ich glaube, wenn ich Harpagon in Person gewesen wäre, ich hätte diesem bemitleidenswerthen Opfer unserer socialen Mißverhältnisse gegenüber nicht Nein gesagt. Eine beredtere Berufung an das menschliche Erbarmen, als Edouard’s trüben Blick, hätte selbst Thomas Hood, der Dichter des mark- und beinerschütternden „Song of the Shirt“, nicht erträumen können!

Dies ereignete sich im Juni 1870. Zwei Tage darauf trat ich eine Reise in die Schweiz an, wo ich von den gewaltigen politischen Begebnissen des Juli, unvorbereitet wie alle Welt, überrascht wurde. Ich sollte Edouard nicht wiedersehen. Bei meiner Rückkehr nach Paris fand ich seine Wittwe in den jammervollsten Verhältnissen. … Folgendes hatte sich inzwischen zugetragen:

Während der ersten Monate des Krieges ging das Leben der unglücklichen Familie seinen alten gewohnten traurigen Gang. Auch die Belagerung verschlimmerte ihre Lage nicht wesentlich. Die stillen Dulder waren ja von je an die härtesten Entbehrungen gewöhnt, und jetzt lieferte man ihnen die nothdürftigsten Lebensmittel, die sie aus eignem Vermögen nicht erschwingen konnten, gratis. Im März aber, als die Versailler Regierung vor einer anfangs leicht zu bewältigenden Emeute kopflos zurückwich und Paris dem Pöbel der Vorstädte preisgab, da stürzten so viele Verhältnisse über den Haufen, daß Edouard seinen Posten verlor und im buchstäblichen Sinne des Wortes brodlos wurde. Die Gutherzigkeit der Hausbewohner bewahrte ihn und die Seinen vor dem Aeußersten, und er nahm die freundlich gebotenen Unterstützungen dankbar entgegen, obgleich ihm das Bewußtsein, von der Gnade Anderer zu leben, wie Blei auf der ächzenden Seele lastete. …

Die Commune organisirte sich. Sie brauchte Beamten. Man gab es Monsieur Edouard an die Hand, sich zu melden. Er zögerte, aber der Hunger überwog. Mit hundertfünfzig Franken monatlicher Besoldung trat er in ein städtisches Bureau ein. Die Familie athmete auf. So glänzend war sie nie gestellt gewesen.

Aber der Traum war nur von kurzer Dauer. Die regulären Truppen schienen nach wochenlangem Geplänkel endlich Ernst machen zu sollen. Die Unhaltbarkeit der schon um ihrer Principien willen nicht lebensfähigen Commune ward von Tag zu Tag sichtbarer. Der grollende Donner der Versailler Geschütze schien den verblendeten Machthabern des Stadthauses ein nahes, unvermeidliches, furchtbares Ende zu weissagen. …

Die Maitage erfüllten diese Prophezeiung in ungeahnter Weise. Mord und Brand wütheten bestialisch durch die Straßen der riesigen Seinekönigin. Die Bataillone Mac Mahon’s, durch den zähen Widerstand der Föderirten erbittert, begingen himmelschreiende Grausamkeiten. Wehrlose Männer und Frauen wurden zu Tausenden ohne Urtheil und Recht füsilirt. Auch Edouard sollte seinen „Hochverrath“ mit dem Leben bezahlen. Irgend ein hämischer Schurke denuncirte ihn als Beamten und Helfer der Herren Pyat, Assy und Consorten. Eine Rotte betrunkener Musketiere drang in seine Wohnung, riß ihn aus den Armen seiner zitternden Familie und schleppte ihn an die nächste Hofmauer, wo er, von fünf Kugeln durchbohrt, seine Seele aushauchte. Sein Verbrechen bestand darin, daß er nicht gelernt hatte, zur größern Ehre des Herrn Thiers Hungers zu sterben. …

Wie viele ähnliche Opfer hat die Barbarei der Mac Mahon’schen Soldateska geschlachtet! Und wie viele Unglückliche vom Schlage Edouard’s gehen auch ohne das tödtliche Blei in Elend und Verzweiflung langsam zu Grunde! Wahrlich, die Arbeiter in einem Quecksilberbergwerke sind nicht mehr den nagenden Würmern der körperlichen und geistigen Vernichtung ausgesetzt, als die Pariser Subalternbeamten! Und Edouard gehörte noch zu denjenigen, die sich den Forderungen der äußeren Form mehr entziehen, als höheren Ortes eigentlich erwartet wird. Viele seiner Collegen halten darauf, wenigstens ein anständiges Empfangszimmer zu besitzen, und beschneiden auf diese Weise ihr Ernährungsbudget noch um sechszig oder siebenzig Franken!

Sollte man es für möglich halten, daß sich unter diesen Umständen gleichwohl bei einer neuerlichen Vacanz in einem der Municipalbureaux dreihundertneunundsiebenzig Bewerber, darunter neunundachtzig verheirathete, gemeldet haben? Das Gehalt der ausgeschriebenen Stelle betrug neunhundertfünfzig Franken jährlich – und dreihundertneunundsiebenzig Candidaten. O menschlicher Jammer!

Die Schilderung der Leiden einer „petite ouvrière“ – wie die Arbeitermädchen allgemein genannt werden – behalten wir uns für einen besondern Artikel vor.
Ernst Eckstein.