Eine Kritik über Wagner’s Musik

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Titel: Eine Kritik über Wagner’s Musik
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 592
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[592] Eine Kritik über Wagner’s Musik. Da unser Bayreuther Referent ausdrücklich auf eine Beurtheilung der musikalischen Seite der Wagner’schen Festspiele verzichtet, so glauben wir der Vollständigkeit unserer Mittheilungen halber nach dieser Richtung hin eine andere Feder citiren zu sollen. Es dürfte Keiner berufener und befähigter sein, in dieser Angelegenheit ein vollgültiges Urtheil abzugeben als der anerkannt erste deutsche Musikkritiker unserer Tage, der bekannte E. Hanslick in Wien. In Nr. 4305 der „Neuen Freien Presse“ spricht er sich über die Bayreuther Aufführungen unter Anderem folgendermaßen aus:

Bayreuth, 18. August.     

Gestern hatten wir die „Götterdämmerung“ als Schluß des ganzen Cyclus. Mit der nunmehr vollständigen Ausführung des Bayreuther Programms ist die Musik der Zukunft eine Macht der Gegenwart geworden. Aeußerlich wenigstens und für den Augenblick. Auf kunstgeschichtliche Weissagungen läßt der Kritiker sich ebenso ungern ein, als ernsthafte Astronomen auf das Wetterprophezeien; so viel jedoch hat uns jetzt die größte Wahrscheinlichkeit: daß der Stil von Wagner’s „Nibelungen nicht die Musik der Zukunft sein wird, sondern höchstens eine von vielen. Vielleicht auch nur ein Gährungsferment für neue, zum Alten wieder rückgreifende Entwicklungen. „Denn Wagner’s jüngste Reform besteht nicht in einer Bereicherung, Erweiterung, Erneuerung innerhalb der Musik, in dem Sinne, wie es die Kunst von Mozart, Beethoven, Weber, Schumann gewesen; sie ist im Gegentheil ein Umdrehen, Umzwängen der musikalischen Urgesetze, ein Stil gegen die Natur des menschlichen Hörens und Empfindens. Man könnte von dieser Tondichtung sagen. Sie hat Musik, aber sie ist keine. Um gleich Eines zur vorläufigen Orientirung des Lesers hervorzuheben: Wir hören durch vier Abende auf der Bühne singen, ohne selbstständige, ausgeprägte Melodie, ohne ein einziges Duett, Terzett, Ensemble, ohne Chöre oder Finales. Dies allein beweist schon, daß hier das Messer nicht an überlebte Formen, sondern an die lebendige Wurzel der dramatischen Musik gelegt ist. Opernfreunde, welche „Tristan“ und den „Nibelungenring“ nicht kennen, geben sich meistens dem Argwohne hin, die Gegner dieser Spätgeburten Wagner’s seien Gegner Wagner’s überhaupt. Sie denken dabei immer nur an den „Holländer“ oder „Tannhäuser“, welche doch von Wagner’s neuester Musik so fundamental verschieden sind, als zwei Dinge innerhalb derselben Kunst nur sein können. Man kann den „Tannhäuser“ für eine der schönsten Opern und trotzdem die „Nibelungen“ für das gerade Gegentheil halten, ja eigentlich muß man es dann. Denn was das Glück von Wagner’s früheren Opern machte und zu machen noch fortfährt, ist die stete Verbindung des schildernden, specifisch dramatischen Elements mit dem Reiz der faßlichen Melodie, die Abwechselung des Dialogs mit musikalisch gedachten und geformten Ensembles, Chören, Finalen. Alles, was an diese Vorzüge mahnt, hat Wagner in den „Nibelungen“ bis auf die Spur getilgt. Selbst die „Meistersinger“, in welchen die abgeschlossene Gesangsmelodie seltener, aber dafür in einigen Prachtexemplaren auftritt (Preislied, Quartett, Chöre im letzten Act), erscheinen daneben als ein musikalisch reizvolles und gemeinfaßliches Werk.

Wagner’s „Nibelungenring“ ist in der That etwas völlig Neues, von allem Früheren Grundverschiedenes, ein für sich allein dastehendes Unicum. Als ein solches, als ein geistreiches, für den Musiker unerschöpflich lehrreiches Experiment wird das Werk seine bleibende Bedeutung haben. Daß es jemals in’s Volk dringen werde, wie die Opern Mozart’s oder Weber’s, scheint mir aus der Natur desselben ganz unwahrscheinlich. Drei Hauptpunkte sind es, welche diese Musik von allen bisherigen Opern, auch von Wagner’schen, principiell unterscheiden. Erstens: das Fehlen der selbstständigen, abgeschlossenen Gesangsmelodien, an deren Stelle eine Art erhöhter Recitation tritt, mit der „unendlichen Melodie“ im Orchester als Basis. Zweitens: die Auflösung jeglicher Form, nicht blos der herkömmlichen Formen (Arie, Duett etc.). sondern der Symmetrie, der nach Gesetzen sich entwickelnden musikalischen Logik überhaupt. Endlich drittens: die Ausschließung der mehrstimmigen Gesangsstücke, der Duette, Terzette, Chöre, Finales, bis auf einige verschwindend kleine Ansätze.

Hören wir des Meisters eigene Worte über seine neue musikalische Methode in den „Nibelungen“. „Er habe,“ sagt Wagner (IX. Bd., S. 366), „den dramatischen Dialog selbst zum Hauptstoff auch der musikalischen Aufführung erhoben, während in der eigentlichen ‚Oper‘ die der Handlung um dieses Zweckes willen eingefügten Momente lyrischen Verweilens zu der bisher einzig für möglich erachteten musikalischen Ausführung tauglich gehalten wurden. Die Musik ist es, was uns, indem sie unabhängig die Motive der Handlung in ihrem verzweigtesten Zusammenhange uns zur Mitempfindung bringt, zugleich ermächtigt, eben diese Handlung in drastischer Bestimmtheit vorzuführen; da die Handelnden über ihre Beweggründe im Sinne des reflectirenden Bewußtseins sich uns nicht auszusprechen haben, gewinnt hier der Dialog jene naive Präcision, welche das Leben des Dramas ausmacht.“ Das liest sich sehr schön, aber in der Ausführung ist Wagner’s Absicht keineswegs erreicht und die totale Verschmelzung von Oper und Drama nach wie vor ein Wahn. Wagner unterbindet durch diese angebliche Gleichberechtigung von Wort und Ton gleichmäßig die Wirkung des einen wie des andern. Der Ton will sich ausbreiten, das Wort weiterdrängen, darum gehört naturgemäß der fortlaufende Dialog dem Drama, die singende Melodie der Oper. Diese Scheidung ist nicht das Widernatürliche, im Gegentheile ist Wagner’s Methode, beide Kunstgattungen in Eine aufzuheben, widernatürlich. Das unnatürliche Singsprechen oder Sprechsingen der Wagner’schen „Nibelungen“ ersetzt uns weder das gesprochene Wort des Dramas, noch das gesungene der Oper. Ersteres schon darum nicht, weil man bei den meisten Sängern den Text gar nicht versteht, und selbst bei den besten nur stellenweise. Da aber der scenischen Wirkung wegen der Zuschauerraum des „Festspielhauses“ gänzlich verfinstert wird, so entfällt jede Möglichkeit, im Textbuche während der Vorstellung nachzusehen. Wir sitzen daher rathlos und gelangweilt diesen unendlich langen Dialogen der Sänger gegenüber, gleichzeitig dürstend nach der deutlichen Rede, wie nach der allzeit verständlichen Melodie. Und was für ein Dialog! Niemals haben Menschen so mit einander gesprochen (wahrscheinlich auch Götter nicht). Hin- und herspringend in entlegenen Intervallen, immer langsam, pathetisch, übertrieben, und im Grunde Einer genau wie der Andere. – – – – – –

Unsere (vorwagnerischen) Meister gaben uns in der „Oper“ Musik, die durch die Einheit verständlich, durch ihre Schönheit erfreuend und dabei durch ihre innigste Uebereinstimmung mit der Handlung dramatisch war. Sie haben hundertfach gezeigt, daß die von Wagner verpönte „absolute Melodie“ zugleich eminent dramatisch sein und in mehrstimmigen Sätzen, namentlich in den Finales, die fortschreitende Handlung energisch zusammenfassen und abschließen kann. Den mehrstimmigen Gesang, Duette, Terzette, Chöre, als angeblich „undramatisch“ aus der Oper entfernen, heißt die werthvollste Errungenschaft der Tonkunst ignoriren und um zwei Jahrhunderte zurück wieder in die Kinderschuhe treten. Es ist der schönste Besitz, der eigenthümlichste Zauber der Musik, ihr größter Vortheil vor dem Drama, daß sie zwei und mehrere Personen, ganze Volksmengen kann zugleich sich aussprechen lassen. Diesen Schatz, um den der Dichter den Musiker beneiden muß, wie dies Schiller bei der Dichtung seiner „Braut von Messina“ so tief empfand, hat Wagner als überflüssig zum Fenster hinausgeworfen. Es mögen im „Nibelungenring“ zwei, drei oder sechs Personen auf der Bühne nebeneinander stehen, niemals singen (von verschwindend kleinen Ausnahmen abgesehen) zwei zugleich; immer nur, wie bei einer Gerichtsverhandlung, Einer nach dem Andern. Welche Qual es ist, diesen gesungenen Gänsemarsch den ganzen Abend zu verfolgen, weiß nur, wer es selber erlebt hat. Indem aber Wagner durch vier Abende hinter einander die Tyrannei dieses monodischen Styls fortsetzt, zwingt er uns mit fast selbstmörderischer Deutlichkeit, den Widersinn seiner Methode zu begreifen und nach der vielgeschmähten alten „Oper“ uns zurückzusehnen. Dazu kommt noch der Uebelstand der unerhört langen Ausdehnung der einzelnen Scenen und Gespräche.

Wir verkennen nicht den neuen Zug von Größe und Erhabenheit, den Wagner seinem Werke dadurch verleiht, daß jeder Act nur zwei bis drei Scenen enthält, die sich in ruhigster Breite entfalten, ja häufig als plastische Bilder still zu stehen scheinen. Von dem unruhigen Scenenwechsel und der Ueberfülle an Handlung in unserer „großen Oper“ unterscheidet sich der „Nibelungenring“ am vortheilhaftesten gerade durch diese Einfachheit. Allein eine geradezu epische Breite darf das Drama nicht dergestalt auseinanderzerren. Es ist schwer zu begreifen, wie ein so theaterkundiger, dramatischer Componist plötzlich allen Sinn für Maßverhältnisse verlieren kann und nicht empfindet, daß Gespräche, wie die des „Wotan“ mit „Fricke“, mit „Brunhilde“, mit „Mime“ etc., die Geduld des Hörers auf’s Aeußerste foltern, ihn durch ihre unersättliche Redseligkeit nachgerade gänzlich abstumpfen müssen. Für die unerhörte Länge der Wallhalla-Scenen im „Rheingold“, aller Gespräche im zweiten Acte der „Walküre“, der „sechs Fragen“ im „Siegfried“ etc. sucht man vergebens nach einem dramatischen oder musikalischen Grunde. – – – – –

Beim Anhören des „Nibelungenring“ gewannen wir die Ueberzeugung, daß jede Scene die ausgiebigsten Striche ohne den mindesten Nachtheil vertrüge, daß sie jedoch andererseits in diesem Stile auch noch beliebig länger ausgesponnen werden könnte. Die neue Methode des „dialogischen Musikdramas“ weist nämlich jedes musikalische Maß von sich; sie ist das formlos Unendliche. Wagner protestirt freilich dagegen, daß man seine „Bühnenspiele“ vom Standpunkte der Musik beurtheile. Aber warum macht er dann Musik, und sehr viel Musik, ganze vier Abende lang Musik? An vielen Stellen tauchen allerdings musikalische Schönheiten von hinreißender Wirkung auf, Starkes wie Zartes – es ist, als ob sich da der neue Wagner an den alten erinnerte. Wir werden die glänzendsten dieser Einzelheiten noch aufzuzählen Gelegenheit haben und erinnern vorläufig nur an die Rheintöchter im ersten und vierten, an das Lenzlied Siegmund’s und den Feuerzauber im zweiten, an das Waldweben und den Anfang des Liebesduetts im dritten Stück. In der Bayreuther Vorstellung konnte man beobachten, wie jede solche Knospe einer aufblühenden Melodie von den Zuschauern mit sichtlichem Entzücken wahrgenommen und förmlich an’s Herz gedrückt wird. Erscheint gar nach zweistündiger monodischer Steppe ein Stückchen mehrstimmigen Gesangs – die Schlußaccorde der drei Rheintöchter, das Zusammensingen der Walküren die paar Terzen am Schlusse des Liebesduetts im „Siegfried“ –, da geht es wie ein freudiger Erlösungsschauer nach langer Gefangenschaft über die Mienen der Hörer. Das sind sehr beachtenswerthe Symptome. Sie geben lautes Zeugniß, daß die musikalische Natur im Menschen sich auf die Länge nicht verleugnen, nicht knebeln läßt, daß die neue Methode Wagner’s nicht eine Reform überlebter Traditionen, sondern ein Angriff auf die uns eingeborene und durch jahrhundertelange Erziehung ausgebildete musikalische Empfindung ist. Und mag dieser Angriff auch mit den glänzendsten Waffen des Geistes unternommen sein – die Natur widersteht ihm und wirft den Belagerer gelegentlich mit einigen Rosen und Veilchen zurück.