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Autor: unbekannt
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Titel: Ein deutsches Milizheer!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36, 37, S. 566-568, 583-586
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein deutsches Milizheer!

Die Gesammtkosten der deutschen stehenden Heere – Volkswirthschaftliche Nachtheile – Was der orientalische Krieg gekostet – 1663 Millionen jährlich für Soldaten! – Loskauf, Selbstverstümmelung und Auswanderung – Die Gesetzgebung der Hölle – Die drei Systeme der Landesvertheidigung – Das Milizsystem – Was Europa beim Milizsystem erspart – Die vier Artikel der Schweizer Bundesverfassung.


     „So lange zwischen Euren adeligen Officieren und den gemeinen Soldaten eine unübersteigliche Kluft besteht, werden jene auf diese keinen heilsamen Einfluß ausüben können, wird der Gamaschendienst und das Exercir-Reglement jede gesunde Luft paralysiren. Ihr werdet nur freie Männer zum Siege führen, oder Ihr werdet die Sieger nicht geführt haben.“

Prinz Friedrich Karl von Preußen, 
Commandirender des dritten Armee-Corps.

Jeder Gebildete kennt die tiefgewurzelten schweren Gebrechen, welche von den stehenden Heeren unzertrennlich sind. So lange sie bestehen, muß man täglich sie angreifen und auf das Bessere hinweisen. Auch die Gartenlaube darf sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Mit Zahlen und Thatsachen wollen wir die tausendfachen Mißstände und Mißbräuche nachweisen.

Schon vor 1854 war der Bestand der stehenden Heere Europa’s 3,705,000 Mann zu Lande, 219,500 Mann auf den Flotten. Von dieser Masse (jetzt etwa 4 Mill.) befindet sich jeweilen nur die kleinere Hälfte im Urlaub. Außerdem sind noch 1,762,000 Milizen und milizartige Truppen in Anschlag zu bringen. Der gesammte Staatsaufwand betrug damals in Europa ungefähr 1815 Mill. Thlr. preuß., sodaß bei einer Bevölkerung von 267 Mill. ungefähr 34 Thlr. auf die Familie kamen. Ziemlich ein Drittel aller Ausgaben, nämlich fast 587 Mill. Thlr., oder fast 11 Thlr. auf die Familie, wurde von den eigentlich militärischen Zwecken verschlungen. Gegenwärtig sind die Gesammtkosten der Land- und Seemacht schon auf 670 Mill. Thlr. angewachsen, wohlverstanden, für den Friedensfuß! Die Rechnung stellt sich aber noch ganz anders, wenn wir die unmittelbaren volkswirthschaftlichen Nachtheile der unproductiven ständigen Bewaffnung in’s Auge fassen. Der schwerste dieser Nachtheile ist das Arbeitsversäumniß der Mannschaft. Rechnet man als Arbeitslohn im kräftigsten Alter blos 10 Sgr. und 300 Arbeitstage, so beträgt (bei 2 Mill. unter dem Gewehr stehender Soldaten und bei 400,000 Pferden) der jährliche Verlust an 240 Mill. Thlr., wozu noch der Arbeitsverlust der Milizen mit ungefähr 6 Mill. Thlr. tritt. In zweiter Linie stehen noch andere Nachtheile, als Einquartierungslasten, Zulagen der Familien an ihre dienenden Angehörigen, Stellvertretungssummen, Selbstausgaben der Milizen, außerordentliche Mobilisirungen im Frieden etc. Die Kosten für alles dergleichen können auf 107 Mill. Thlr. veranschlagt werden. Demnach ergibt sich, mit jenen 670 Mill. zusammen, gegenwärtig ein jährlicher Gesamtaufwand Europa’s für den Krieg im Frieden bis zu der ungeheuren Summe von 1023 Mill. Thlr., oder 19 Thlr. auf die Familie.

Eine ganze Reihe mittelbarer volkswirthschaftlicher Nachtheile läßt sich gar nicht in Zahlen ausbringen, berührt aber gleichfalls die wichtigsten Interessen der Gesellschaft. Dahin gehören: Ungleichheit in der Vertheilung der Militär- und Abgabenlasten, Abdrängung der Industrie auf unnatürliche Bahnen, Verkümmerung des freien Verkehrs unter den Völkern („Freihandel und Militärherrschaft schließen einander gegenseitig aus“), Bedrückung der arbeitenden Classen, Beförderung der Verarmung. So ist denn aus dem Wehrstand ein böser Zehrstand geworden und eine wahre Landplage für den Nähr- und Lehrstand. Würde der Druck der Militärlasten beseitigt und andererseits die Freiheit der Arbeit und des Erwerbs anerkannt, so wäre damit die sociale Frage fast gelöst. Gegenüber den Militärstaaten sind die Schweiz und die Vereinigten Staaten die beredtesten Zeugen; bei stehenden Heeren hätten sie sicherlich nicht die jetzige Stufe ihres Wohlstandes erreicht. Ihnen zunächst steht England, wo wenigstens nur Geworbene dienen.

Blicken wir nun auf die den Truppen selbst erwachsenden Nachtheile, so fällt uns eine erschreckende Menschenverschwendung in die Augen. Die Conscription wirkt verheerender als Pest und Cholera. Ungesunde Lebensweise, Zusammenpfropfung in Casernen, körperliche Überanstrengung und Aufreibung führt häufige Erkrankung herbei und rafft viele Leute fort, besonders die der Einreihung nicht entgangenen Schwächlichen und Untauglichen.

Die Sterblichkeit unter den Soldaten ist sogar im Frieden um die Hälfte größer, oft doppelt so groß, als bei der übrigen Bevölkerung, obgleich sie den eigentlichen Nahrungssorgen entrückt sind und ursprünglich doch meist nur die Kräftigern zum Dienst genommen werden. Im Kriege vollends werden durch Krankheiten weit mehr Soldaten getödtet, als durch feindliche Waffen. Am günstigsten ist das Sterblichkeitsverhältniß noch in Preußen, wegen der kurzen Dienstzeit. Frankreich dagegen verliert im Frieden jährlich etwa zwei Soldaten auf einen Bürgerlichen, und Rußland gar begräbt jedes Jahr 40 bis 50,000 Opfer des bewaffneten Friedens. Nicht selten auch treibt die Verzweiflung den Soldaten zum Selbstmord.

Kann man sich noch wundern, daß allenthalben die Klagen über zunehmende physische Verschlechterung der Bevölkerung immer lauter werden? Auch hierin, wie in vielen andern Gebrechen, schreitet Frankreich „an der Spitze der Civilisation“. Das Militärmaß mußte wiederholt herabgesetzt werden. Die immer geringer werdende Zahl der Dienstfähigen beträgt in Frankreich kaum noch 50 Procent. Die Schweiz dagegen weist 75 Procent auf; sie hat 316,500 Dienstfähige von 20 bis 44 Jahren, und 450,000 von 18 bis 59 Jahren.

Bei den Ausgedienten ist die Arbeitsfähigkeit und Arbeitslust oft geschwächt oder verloren; sie wurden ja der besten und schönsten Jugendjahre beraubt, ohne irgend entsprechende Vergütung. Für die vollständige Unfreiheit und den stündlichen Zwang wird der „weiße Mann“ in zweierlei Tuch mit dürftiger Nahrung und kümmerlichem Sold abgefunden. Trotz aller Abschaffung der Frohnen legt ihm der Staat eine Steuer auf und übt fortdauernd Eigenthumsraub, indem er ihn für seine Leistungen durchaus nicht angemessen entschädigt. Die Kosten der Stellvertretung geben den Maßstab der Summen ab, welche die Regierungen jährlich ihren Heeren schuldig bleiben. Ein Stellvertreter in Friedenszeit kommt, sehr gering gerechnet, auf 55 Thlr. zu stehen. Es kommen demnach 3 Millionen stehender Soldaten jährlich um 165 Mill. Thlr. Im Kriege, der den Marktpreis der militärischen Dienste verdoppelt, wird jeder Soldat um etwa 110 Thlr. jährlich verkürzt.

Wenn die ständige Bewaffnung schon im Frieden ein Krebsschaden ist, so erreicht der Unverstand im Kriege seinen Gipfel. Alsdann ist die wirthschaftliche und sittliche Verwüstung bei Siegern und Besiegten schrankenlos. Ein frisches Beispiel, um sich von dem Kriegsschaden eine ungefähre Vorstellung zu machen, bietet der letzte orientalische Krieg. Er wüthete 28 Monate, um fast ohne irgend ein Ergebniß zu enden. In seiner Bilanz ist das Haben Null, das Soll folgendes. Es gingen zu Grunde: 1/2 Mill. Soldaten und 1/4 Mill. bürgerlicher Bevölkerung; dieser Verlust beträgt capitalisirt 427 Mill. Thlr. Zerstörungen und Opfer aller Art dürfen mindestens auf 266 Mill. Thlr. veranschlagt werden. [567] Die Kriegskosten selbst sind nachweislich bis zu der riesigen Summe von 1889 Mill. Thlr. angewachsen; darunter glänzt eine Vermehrung der Staatsschulden um 1399 Mill. Thlr., zu deren Verzinsung jährlich etwa 65 Mill. Thlr. ausgebracht werden müssen. Summa des unmittelbaren Kriegsschadens: 2582 Mill. Thlr. In zweiter Linie aber marschiren noch die mittelbaren Verluste auf, als: Verringerung der Production, Störung des Handels, Entwerthung der Papiere, Vertheuerung des Brodes und der wichtigsten Lebensmittel. Diese Vertheuerung, nur auf 4 bis 5 Pfennige für das Pfund veranschlagt, ergibt während zweier Jahre eine Mehrbelastung der europäischen Bevölkerung mit 2133 Mill. Thlr. Das Uebrige läßt sich nicht in Zahlen abschätzen. Doch schon aus den genannten Posten bildet sich als Hauptsumme des unmittelbar und mittelbar vom orientalischen Kriege angerichteten Schadens: 4715 Mill. Thlr. Legt man ihn als Kriegssteuer in ganz Europa um, so treffen auf jede Familie etwa 90 Thlr. Schade, daß Kaiser Nicolaus sich nicht entschloß, den Kaiser Napoleon „Bruder“ statt „Vetter“ zu betiteln! Der Kriegsmoloch begnügt sich nicht mit den Opfern, die ihm während des Kampfes hingeworfen werden. Er frißt immer fort, auch wenn er todt ist. Ohne von den empfindlichen Nachwehen der Gewerbe und des Handels zu reden, genießen wir in den Staatsschulden eine höchst fühlbare Fortwirkung der Kriegslasten im Frieden. Die größtentheils aus Kriegen entstandenen Staatsschulden Europa’s betragen gegenwärtig ungefähr 16,000 Mill. Thlr., die mit etwa 640 Mill. verzinst werden müssen.

Fassen wir den jährlichen Militäraufwand Europa’s (1023 Mill.) und die Verzinsung der Staatsschulden zusammen, so erblicken wir ein jährliches Budget von 1663 Mill. Thlrn., die fast ganz nutzlos vergeudet werden. Da das gesammte Einkommen der europäischen Staaten nicht viel über 1800 Mill. beträgt, so bleiben für alle andern Zwecke, für die wahren Bedürfnisse der Gesellschaft, etwa 150 bis 160 Mill. Thlr. übrig. Und das nennt man Blüthe der Civilisation! Indeß wollen wir an der Hoffnung festhalten, daß auch dieser Unsinn durch sein Uebermaß curirt werde. Die politischen und socialen Gefahren des stehenden Heerwesens werden immer drohender. Durch den unerträglichen Druck der Militärlasten wird die Unzufriedenheit der Massen fort und fort genährt. Die Zwangssoldaten selbst, statt immerfort „die Gesellschaft zu retten“, werden einmal sich selbst mitsammt der wirklichen Gesellschaft retten. Sogar ihre Kriegsherrn konnten sich nicht ganz der Wahrheit verschließen; 1814 und 1815, nachdem die Welt alle Genüsse des Militärluxus gründlich durchgekostet, versprachen fast alle Regierungen Abschaffung der Conscription. Dies Versprechen hatte freilich das Schicksal vieler anderer Versprechungen, und die Soldatenpresse dauert noch heute lustig fort, bis sie einmal ein Ende mit Schrecken nimmt. Die unzweideutigsten Beweise des Abscheus vor den Militärfrohnen haben noch keine Reform zu Wege gebracht. Gerade solche Regierungen, welche die bittere Erfahrung von Militärrevolutionen und Truppenabfällen gemacht haben, sind am eifrigsten erpicht, sich immer wieder auf Zwangsbajonnete zu setzen. Den in den meisten Armeen so häufigen Desertionen glaubt man durch verschärfte Strafen abhelfen zu können; trotz aller Erfolglosigkeit wird das System nicht gemildert. Eben so wenig Belehrung schöpfen die Machthaber aus den hartnäckigen und verzweifelten Anstrengungen und Kunstgriffen der vielen Tausende, welche sich dem verhaßten Zwangsdienste zu entziehen suchen und vor der Uniform bis an’s Ende der Welt fliehen. Der Loskauf wird bereits im großen Styl betrieben; dafür werden die schwersten Opfer nicht gescheut. Die Selbstverstümmelung ist so häufig geworden (Oesterreich hatte 1854 nicht weniger als 1414 Fälle), daß die Regierungen sie für wirkungslos erklären und die Unglücklichen brauchen, wozu sie noch gut sind. Besonders ausgedehnt ist seit geraumer Zeit die heimliche Auswanderung, durch welche ein Theil der kräftigen Jugend dem Militärjoch entrinnt, trotz der Vermögensbeschlagnahme und anderer strenger Strafen, trotz der starken Bande, welche den Menschen an die Heimath fesseln. So wanderte in der Pfalz während der beiden Jahre 1853 und 54 fast die Gesammtzahl der militärpflichtig Gewordenen, 9341 junge Männer, mit 11/2 Mill. Gulden heimlich aus.

Solche Zustände mahnen laut genug, nicht länger das Wesen in der Form, die Regierten in der Regierung auf- und untergehen zu lassen. Die allgemeine Unmündigkeit, welche zum Vortheil unserer Vormünder gewaltsam aufrecht gehalten wird, muß mit innerem oder äußerem Verfalle enden, wenn man nicht endlich einmal so viel Verstand und Herz auftreibt, um vom Staate alles wegzustreichen, was nur „zum Staate“ ist. Gibt es aber etwas Ueberflüssigeres und zugleich die Grundlagen der Gesellschaft ärger Untergrabendes, als den soldatischen Zwangsdienst? Mit vollem Recht nannte ihn Chateaubriand „die Gesetzgebung der Hölle“. Tiefste Beherzigung verdienen die Worte, mit denen Schulz-Bodmer seine „Militärpolitik“ schließt: „Von dem Augenblicke an, da die militärische Conscription aufgehört hat, sind – wie schon lange die Briten, Nordamerikaner und Schweizer – alle Völker Europa’s freie Völker geworden: die Franzosen und Deutschen, wie Italiener, Polen, Magyaren und Griechen. Von demselben Augenblicke an sind die Fesseln des Welthandels gebrochen, und der freie Handel breitet seinen wachsenden Segen über die Länder der Erde. Wird zur Unterhaltung zahlreicher stehender Heere nicht mehr das Gut der Völker in maßlosem Umfange verschwendet, so ist zugleich jede Bedrückung der Industrie und des Handels überflüssig und darum unmöglich geworden. Mit der Abschaffung des soldatischen Zwangsdienstes ist freilich auch der eitle Schimmer und das glänzende Elend des Militärdespotismus verschwunden. Aber die Periode der Freiheit und des Friedens, der Ordnung und des leiblichen, geistigen und sittlichen Gedeihens der Nationen hat begonnen. Um so größer ist der Ruhm derjenigen Regierung, die zuerst die entscheidenden Schritte thun wird für die Aufhebung der weißen Sclaverei in Europa, für die Erlösung der Völker und Heere aus den Banden der „Gesetzgebung der Hölle“.“

Was soll aber aus den Staaten ohne Heere werden? Wie soll ein Land sich ohne Soldaten vertheidigen? So fragt der militärische Schlendrian und das bürgerliche Philisterium. Wir sind vollkommen einverstanden, daß man sich gegen feindliche Angriffe vertheidigen muß. Wir verlangen aber, daß dies ernstlich und gründlich geschehe, daß man den Krieg nicht als Lotteriespiel betrachte, sondern mit der Gewißheit des Sieges in den Kampf gehe.

Es gibt drei Systeme der Landesvertheidigung. Das erste, einfachste und wohlfeilste System ist, gar nichts zu thun. Der Feind ist dann sofort unser Freund, und wir brauchen nur alle seine Wünsche zu erfüllen, um uns jede Vertheidigung zu ersparen. Wir machen Honig für jeden Bären, der Lust hat, ihn zu verspeisen. Diesem System der christlichen De- und Sanftmuth hat kürzlich Coemans in der belgischen Kammer einen classischen Ausdruck gegeben, indem er erklärte: „Wehrlosigkeit ist die beste Vertheidigung.“ Auf gleichem Standpunkt engelhafter Bescheidenheit befinden sich die schwärmerischen Friedensfreunde, die uns täglich ausführlich beweisen, daß der Friede viel besser und schöner als der Krieg sei. Nach Cobden, Bright und Comp. wird der Wolf bitter verleumdet: er will die Schafe nicht fressen, sondern nur umarmen. Diese Herren sollten übrigens nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Ihr Staat ist nichts als ein Staat von Privatmenschen, folglich ein Widerspruch. Bei der absoluten Friedenstheorie braucht man gar keinen Staat. Das erste System überlassen wir allen, die lieber Amboß als Hammer sind.

Das zweite System der Landesvertheidigung ist das der stehenden Heere. Es ist das kostspieligste und doch unwirksam, weil es das System der halben Wehrhaftigkeit ist. Manche Staatsmänner und Militärs, wenn sie auch die Conscription als das Grundübel Europa’s erkennen, entschuldigen sie doch mit der Nothwendigkeit, gegen das Ausland gerüstet sein zu müssen. Dies ist schon deshalb grundfalsch, weil es den kleinern Staat der Gnade des größern preisgibt. Achtzehn Millionen müssen im technisch-militärischen Duell gegen sechsunddreißig den Kürzern ziehen. Aber auch bei gleichen Kräften ist oft der Kampf ungleich, wenn Geschicklichkeit und Uebung auf der einen Seite überwiegt. Der orientalische und der italienische Krieg haben wieder die alte Erfahrung glänzend bestätigt, daß die geschultesten Heere geschlagen werden können.

Unüberwindlichkeit gewährt einzig und allein das dritte System, dasjenige der vollen Wehrkraft, das Milizsystem. Die größtmögliche Steigerung der Vertheidigungskraft gegen freche Angriffe und Eroberungsgelüste besteht in der allgemeinen Bewaffnung und Wehrhastigkeit. Wo sie durchgeführt ist, da kann auch ein kleines Volk mit Glück der Uebermacht Widerstand leisten.

Staatsmänner und Militärs, welche sich über die alltäglichen Vorurtheile des Handwerks zu erheben verstanden, haben selbst das [568] Uebergewicht der Milizheere über stehende Heere anerkannt. Der bewährte Kriegsmeister Radetzky erklärte: „Die zuverlässigste Stärke des Staats beruht auf zweckmäßig gebildeten Landwehren, und nur dadurch kann sich ein Volk unüberwindlich machen.“ Was der große Scharnhorst und seine edlen Genossen auf diesem Gebiete gedacht und geschaffen haben, bedarf keiner weitern Ausführung; ihrer volkstümlichen Wehrverfassung verdankte Preußen und Deutschland seine Befreiung aus schmachvollem Joche. Die ausgezeichnetsten Militärschriftsteller, wie Clausewitz, Valentini, Rüstow, haben auf’s Eindringlichste dem Milizsystem das Wort geredet.

Die Grundzüge des Milizsystems sind einfach, wie die Wahrheit immer ist. Die beste Vorstufe der allgemeinen Wehrhaftigkeit bildet die militärische Jugenderziehung in Verbindung mit dem Turnwesen; die militärische Ausbildung geht am leichtesten, raschesten und wohlfeilsten von Statten, wenn sie schon in der Jugendzeit beginnt. Die Einübung sämmtlicher Waffenfähigen mit jährlichen zeitweisen Uebungen liefert den unerschöpflichen Stoff des größtmöglichen Landesheeres. Zum Behuf dieser Einübung, sowie der Ausbildung guter Officiere und der Pflege der Kriegswissenschaft müssen oder können kleine ständige Kerne und Rahmen von freiwilligen Soldaten nebst Officieren unterhalten werden. Sobald ein Aufgebot erforderlich wird, werden die Rahmen von der bereits eingetheilten eingeübten Mannschaft ausgefüllt. Da aber bei einer volksthümlichen Wehrverfassung jeder Krieg sofort ein Volkskrieg wird, so muß auch der Landsturm zur Unterstützung des activen Operationsheeres in geeigneter Weise verwendet werden. Als sonstige Hauptbedingungen für glückliche Erfolge eines Milizheeres, seiner eigenthümlichen Natur entsprechend, betrachtet Schulz-Bodmer: im Anfange des Krieges vorsichtige Beschränkung auf die reine Vertheidigung; zeitige Befestigung der natürlichen Vertheidigungslinien des Landes; eine beschränkte Theilnahme des Volksheers an der Wiederbesetzung der im Kriege erledigten Führerstellen aus der Zahl der ihm als befähigt bezeichneten Candidaten, aber nur soweit das unmittelbare Interesse der Mannschaft reicht, also nicht über die Grenzen der Compagnie hinaus; möglichste Verstärkung des activen Volksheeres gleich im Anfang; volle und zweckmäßige Belohnung der Wehrmänner.

Soll die Raserei der Angriffskriege vermindert und beseitigt, der Krieg selbst ausgerottet werden, so kann dies einzig und allein bei allgemeiner Wehrhaftigkeit gelingen. Ein Schwert hält das andere in der Scheide, und wenn erst die Völker durchweg bewaffnet sind, werden sie sich nicht angreifen. Der letzte Krieg gegen den Krieg, bisher eine schöne Hoffnung, kann einmal lebensvolle Wirklichkeit werden.

Eben so aber, wie das Milizsystem das wirksamste Mittel zur Sicherung des äußeren Friedens ist, verbürgt es auch den innern Frieden. Das stehende Heerwesen oder das Systems mit der bewaffneten Minderheit die waffenlose Mehrheit im Zaum zu halten, ist eine ständige Beraubung des Volkes, eine Pflanzschule der Unzufriedenheit und Anarchie. Dagegen sorgt das eigene Interesse des bewaffneten Bürgers dafür, daß durch Milizen die innere Ordnung und Sicherheit weit besser aufrecht erhalten wird, als durch eine besondere Soldatenkaste. Die Freiheit ist eben die Voraussetzung und rechte Heimath des Milizsystems; wo die Bürger ihren vollen Willen auf gesetzlichem Wege zur Geltung bringen können, da wird die Ruhe nicht gestört, braucht also auch nicht wiederhergestellt zu werden. Das beweist die Schweiz mit ihrer republikanischen Bundesverfassung am anschaulichsten.

Würde in Europa das Milizsystem, wenn auch mit stehenden Rahmen, angenommen, so ließen sich die jährlichen Militärkosten von 670 Mill. Thlr. auf 162 Mill. vermindern. Dies betrüge statt 2,460,000 Thlr. auf jede Million Bevölkerung kaum 600,000 (immerhin noch 120,000 mehr als in der Schweiz, wo die Mannschaft nur zeitweise beisammen ist). Auf solchem Fuße hätte Europa in den letzten 45 Jahren (den jährlichen Durchschnitt der Militärkosten auf 500 Mill. Thlr. angenommen) eine Ersparniß von 17,100 Mill. Thlr. machen und jede Familie ihr Vermögen um 340 Thlr. vermehren können. Auf solchem Fuße würde jeder Staat mit dem vierten Theil der Kosten eine dreimal größere Wehrkraft zur Vertheidigung besitzen und könnte sich zugleich mit Durchführung der angemessenen wohlverdienten Belohnung der Truppen eine der kräftigsten Bürgschaften des Sieges verschaffen. Betrachten wir jetzt das Milizsystem in dem Lande, wo es bis jetzt am vollständigsten durchgeführt ist.

In vier Artikeln der Bundesverfassung sind die Grundlagen des schweizerischen Wehrwesens enthalten; auf ihnen ruht der Ausbau durch spätere Gesetze, hauptsächlich durch das vom 8. Mai 1850 über die Militärorganisation. Das monarchische Europa wird nicht eher zur Ruhe und Ordnung gelangen, bis es sich auf den Granitgrund der Freiheit stellt, wie ihn Artikel 13 der schweizerischen Bundesverfassung ausspricht: „Der Bund ist nicht berechtigt, stehende Truppen zu halten. Ohne Bewilligung der Bundesbehörde darf kein Canton oder in getheilten Cantonen kein Landestheil mehr als 300 Mann stehende Truppen halten, die Landjägercorps nicht inbegriffen.“

Die andern drei Artikel lauten:

„Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflichtig.

Art. 19. Das Bundesheer, welches aus den Contingenten der Cantone gebildet wird, besteht:

a) aus dem Bundesauszug, wozu jeder Canton auf 100 Seelen schweizerischer Bevölkerung drei Mann zu stellen hat;
b) aus der Reserve, deren Bestand die Hälfte des Bundesauszuges beträgt.

In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr) eines jeden Cantons verfügen. Die Mannschaftsscala, welche nach dem bezeichneten Maßstabe das Contingent für jeden Canton festsetzt, ist alle zwanzig Jahre einer Revision zu unterwerfen.

Art. 20. Um in dem Bundesheere die erforderliche Gleichmäßigkeit und Dienstfähigkeit zu erzielen, werden folgende Grundsätze festgesetzt:

1) Ein Bundesgesetz bestimmt die allgemeine Organisation des Bundesheeres.

2) Der Bund übernimmt:

a) den Unterricht der Genietruppen, der Artillerie und Cavallerie, wobei jedoch den Cantonen, welche diese Waffengattungen zu stellen haben, die Lieferung der Pferde obliegt;
b) die Bildung der Instructoren für die übrigen Waffengattungen;
c) für alle Waffengattungen den höhern Militärunterricht, wozu er namentlich Militärschulen errichtet und Zusammenzüge von Truppen anordnet;
d) die Lieferung eines Theiles des Kriegsmaterials.

Die Centralisation des Militärunterrichts kann nöthigenfalls durch die Bundesgesetzgebung weiter entwickelt werden.

3) Der Bund überwacht den Militärunterricht der Infanterie und der Scharfschützen, sowie die Anschaffung, den Bau und Unterhalt des Kriegszeugs, welches die Cantone zum Bundesheer zu liefern haben.

4) Die Militärverordnungen der Cantone dürfen nichts enthalten, was der eidgenössischen Militärorganisation und den den Cantonen obliegenden bundesmäßigen Verpflichtungen entgegen ist, und müssen zu diesfälliger Prüfung dem Bundesrathe vorgelegt werden.

5) Alle Truppenabtheilungen im eidgenössischen Dienste führen ausschließlich die eidgenössische Fahne.“

Demnach hat weder die Schweiz, noch ein einzelner Canton ein stehendes Heer; auch Baselstadt hat vor vier Jahren seine Standestruppe aufgelöst. Soldaten und Officiere werden im Frieden jährlich auf kurze Zeit zu Uebungen einberufen. Ständig besoldet ist blos eine kleine Anzahl von Verwaltungsbeamten und Instructoren. Dennoch geht jede Mobilmachung rasch vor sich, rascher sogar als in den meisten Monarchien. In Wahrheit hat also auch die Schweiz ihr stehendes Heer; nur wird es nicht unnütz beschäftigt und bezahlt, solange keine Arbeit vorliegt. Während in den Staaten mit stehenden Heeren die Operationsarmee höchstens 11/2 Procent der Bevölkerung erreicht, beträgt sie in der Schweiz das Drei- und Vierfache. Alle Dienstfähigen werden militärisch ausgebildet; Stellvertretung ist nicht gestattet, und die Ausnahmen von der Wehrpflicht sind auf die dringendsten Fälle beschränkt. Das gesetzliche Minimum für Auszug und Reserve wird in vielen Cantonen überschritten, so daß eine ziemliche Menge Ueberzähliger vorhanden ist. Alle Wehrkräftigen, die nicht in jenen beiden Abtheilungen und in der Landwehr dienen, bilden den Landsturm.

[583] Die Dauer der Wehrpflicht in der Schweiz ist 24 Jahre, also viel länger als anderswo. Das Gesetz bestimmt das Alter von 20 bis 34 Jahren für den Auszug, die folgenden Stufen bis zu 40 Jahren für die Reserve, bis zu 44 Jahren für die Landwehr. Thatsächlich aber dienen, wie ein Gesetz von 1853 es gestattet hat, die Altersclassen von 20 bis 28 im Auszug, die folgenden bis 34 in der Reserve. Kein Heer zählt so viel Mitglieder in vollster Manneskraft, wie das schweizerische. – Die Uebungszeit ist nach den Waffengattungen verschieden, überall aber auf das mindeste Maß beschränkt. Der Rekrutenunterricht, auf den die Einreihung in den Bundesauszug folgt, dauert bei der Infanterie 28 Tage. Der Wiederholungscurs nimmt nur wenige Tage in Anspruch. Die Landwehr wird jährlich blos einen Tag zur Uebung und Besichtigung versammelt. Durchschnittlich während seiner ganzen Dienstzeit hat der schweizerische Milize jährlich nur 5 Tage Arbeit dem Staate zu opfern; die schweizerische Präsenzzeit ist also 7 bis 8 Mal kürzer als anderswo. Wenn die Anhänger des stehenden Heerwesens diese schweizerische Präsenzzeit „lächerlich“ kurz finden, so übersehen sie gänzlich, daß ihre gedrillten Soldaten das eigentliche Handwerk schon in den ersten Wochen lernen. Angeblich hält man sie deshalb jahrelang unter den Fahnen, damit sie sich an Gehorsam und Mannszucht gewöhnen. Aber in dieser Beziehung stehen die schweizerischen Wehrmänner wahrlich nicht hinter den monarchischen Soldaten zurück; dafür spricht schon der Umstand, daß man in der Schweiz fast gar keine Ausreißer kennt. Ferner ist zu erwägen, daß die Schweizer von Kind auf am Militärwesen, an Waffen- und Schießübungen besonderes Gefallen finden, und daß dadurch im Volke eine größere militärische Durchschnittsbildung entsteht, als da, wo lediglich Zwang die Soldaten zurecht drechselt. Deutsche Officiere haben wiederholt das Geständniß abgelegt, daß schweizerische Rekruten viel rascher als andere eingeübt werden. Hierzu trägt theilweise der militärische Jugendunterricht wesentlich bei. [1]

Wo das Volk nicht durch ein stehendes Heer im Frieden ausgesogen wird, da ist seine wirthschaftliche Kraft für den Krieg unendlich größer. Die Bundes-Militärkosten betrugen früher durchschnittlich 375,000 Thlr., im Jahre 1858 516,820 Thlr. Davon kamen auf den Unterricht (Rekruten- und Wiederholungscurse, Truppenzusammenzüge, Thuner Centralschule, Instructionspersonal) [584] 409,370 Thlr., auf Magazine, Kriegsgeräth etc. 94,392 Thlr. (darunter 60,064 Thlr. auf Anschaffung von Jägergewehren). Rechnet man hinzu, was die Cantone und die Wehrmänner für theilweise Selbstausrüstung jährlich ausgeben, so kommt man auf die Gesammtsumme von 1,200,000 Thlr. (für jede Familie im Lande 2 Thlr. 12 Sgr.), also ungefähr den fünften Theil sämmtlicher Staatsausgaben des Bundes und der Cantone (5,900,000 Thlr. oder für die Familie 11 Thlr. 22 Sgr., d. i. kaum mehr, als in andern Ländern für Militärzwecke allein aufzubringen ist). Alles, was Bund, Cantone und Einzelne jährlich auf das Heerwesen verwenden, beträgt nur den dritten oder vierten Theil dessen, was monarchische Staaten ausgeben, oder vielmehr nur den zehnten Theil, in Anbetracht, daß die Schweiz ein drei- bis viermal stärkeres Heer zur Verfügung hat.

Seit 1830, als die Schweiz mit Einschluß der Landwehr erst 100,000 Mann zählte, haben sich ihre Streitkräfte nahezu verdoppelt. Im Sonderbundskriege 1847 betrug die Gesammtmasse der aufgebotenen Milizen etwa 190,000 Mann, nämlich: aus den Mehrheitscantonen 147,600, aus den Sonderbundscantonen 39,750, aus den neutralen Cantonen Neuenburg und Appenzell I. Rh. 3000 Mann. Von jener Gesammtzahl erschienen im Felde ungefähr 140,000 Mann; ein Theil der aufgebotenen Landwehren war nur zu örtlichen Landsturmdiensten geeignet. Der unblutige Preußenfeldzug im Winter 1856–1857 bekundete sowohl rasche Mobilmachung als opferbereite Kraftanstrengung. Graubünden z. B. war bereit, außer seinem Contingent 2500 Scharfschützen zu stellen. Genf rüstete 14 Procent seiner 48,000 schweizerischen Einwohner aus, nämlich 6720 Mann aller Waffen mit 22 Geschützen. Waadt bot statt 9 Bataillone deren 25 an, ungerechnet die Specialwaffen.

Die gegenwärtige Stärke des eidgenössischen Heeres ist nach dem Geschäftsbericht[WS 1]des Militärdepartements für 1859 folgende. Der Auszug zählt 79,087 Mann (9418 mehr als vorgeschrieben), die Reserve 43,227 (darunter 8442 Ueberzählige), die organisirte Landwehr 57,416. Bei letzterer bleiben jedoch noch einige Lücken und Mängel zu beseitigen. Demnach besteht das feldtüchtige Heer aus etwa 180,000 Mann, welche vollkommen ausgerüstet und für den Beginn eines Feldzugs genügend eingeübt sind; Waffen und Geschütze sind als Reserve in hinreichender Zahl vorhanden.

Ueberblicken wir nun die Bestandtheile des eigentlichen Operationsheeres (Auszug und Reserve) nach ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Stärke, ohne die etwa 18,000 Ueberzähligen zu rechnen.

Die Infanterie (ohne Scharfschützen) besteht aus ungefähr 82.000 Mann in 105 ganzen, 20 halben Bataillonen und 24 einzelnen Compagnien. Sie hat das Bataillon (680 Mann) zur taktischen Einheit und theilt es ein in 6 Compagnien von 106 bis 117 Mann; vier derselben sind Füsiliere, zwei Jäger. Der Rekrutenunterricht für die Füsiliere muß wenigstens 28 Tage, für die Jäger 35 Tage dauern. Daran knüpft sich im Auszug ein jährlicher Wiederholungscurs von je 6 und 3 Tagen für die Cadres und die Masse, in der Reserve von je 2 und 1 Tag. Außerdem sind Uebungen im Zielschießen vorgeschrieben.

Wenn schon in den Bataillonen die Schußtüchtigkeit sehr verbreitet ist, so nimmt die Schweiz durch die Waffe der Scharfschützen unbedingt den ersten Rang unter allen Ländern ein, sowohl der Zahl als der Fertigkeit nach. In Auszug und Reserve stehen etwas über 7000 Scharfschützen, in 71 Compagnien von 100 Mann vertheilt. Außerdem können Landwehr und Landsturm noch eine große Zahl geübter Schützen liefern, besonders in den kleinen Cantonen. Der Rekrutenuntericht der Scharfschützen ist auf mindestens 28 Tage, der Wiederholungsunterricht für Cadres und Mannschaft auf je 6 und 4 Tage festgesetzt; bei der Reserve dauert die Wiederholung je 3 und 2 Tage. Die zahlreichen eidgenössischen, cantonalen und örtlichen Schützenfeste ergänzen den Unterricht in befriedigendster Weise. Entgegen dem Volksvorurtheil für das Standschützenwesen hat die Verwendbarkeit der Scharfschützen als leichter Infanterie beträchtlich zugenommen und kommt das Feldschützenwesen entschieden mehr in Aufnahme. Schon haben sich zahlreiche Vereine gebildet, um freiwillige Uebungen mit dem trefflichen neuen Jägergewehr vorzunehmen.

Die Artillerie ist etwa 11,000 Mann stark, mit Einschluß von 1500 Mann der Parkcompagnien und des Parktrains. Auszug und Reserve haben 79 Compagnien für 50 Batterien mit 274 bespannten Feldgeschützen, nämlich: 3 aus vierundzwanzigpfündigen langen Haubitzen bestehende Batterien, 6 Batterien von Zwölfpfünderkanonen, 29 aus Acht- oder Sechspfündern (4 Kanonen und 2 Haubitzen) bestehende Batterien, 4 Gebirgsbatterien und 8 Raketenbatterien. Außerdem sind für 12 Positionscompagnien mit 1000 Mann 202 Geschütze bereit. Rechnet man die in den schweizerischen Zeughäusern verfügbaren Geschütze hinzu, so kommt man auf eine Gesammtzahl von etwa 600 Stücken. Die Artilleriecompagnie beträgt zur Bedienung der schweren Batterien 138 Mann, der leichten 175 Mann; die Positionscompagnie zählt 80, die Parkcompagnie 60 Mann. Die Mannschaft sitzt bei Manövern auf Protzen und Caissons auf; die kostspielige reitende Artillerie kennt man nicht. Der Unterricht für die Rekruten der Artillerie erfordert 42 Tage, für die des Parktrains 35. Jeder Artillerist muß während eines Curses an der Kriegsschule zu Thun neben den praktischen Uebungen den Vorlesungen beiwohnen und sich über das Gehörte prüfen lassen. Der Wiederholungsunterricht findet alle zwei Jahre während durchschnittlich 12 Tagen statt. Zum Erstaunen mancher auswärtiger Fachleute ist trotz der kurzen Uebungszeit die schon im bürgerlichen Leben durch die schwierigen Bodenverhältnisse entwickelte Manövrirfähigkeit, sowie die Schußfertigkeit und Treffsicherheit der schweizerischen Artillerie derjenigen des Auslandes vollkommen ebenbürtig. In alle Specialwaffen werden auch nur solche Auszugspflichtige aufgenommen, welche sich wegen besonderer Neigung und Fähigkeit dazu melden. Aus diesem Grunde gelangt bekanntlich in allen Volkskriegen die Artillerie sehr rasch zu einem ausgezeichneten Grad der Tüchtigkeit.

Die Genietruppen, 1530 Mann, sind in 12 Sappeurcompagnien mit 1020 Mann und 6 Pontonniercompagnien mit 510 Mann eingetheilt. Ihre Uebungszeit ist wie bei der Artillerie. Die Cavallerie ist wegen des durchschnittenen Geländes und ihrer Kostspieligkeit unverhältnißmäßig gering, kann daher fast nur den Sicherheitsdienst besorgen und die Verbindungen zwischen den Heerestheilen unterhalten. Sie zählt ungefähr 3000 Mann, nämlich 2600 Dragoner, in Compagnien von 77 Mann eingetheilt, und 400 Guiden, in Züge von 32 Mann eingetheilt. Zwei Dragonercompagnien bilden eine Schwadron. Der Rekrutenunterricht dauert 42, der jährliche Wiederholungsunterricht 4 bis 7 Tage; die Remonte wird 10 Tage lang vor dem Wiederholungscurs eingeübt. Endlich sind noch etwa 300 Mann für den Gesundheitsdienst, Büchsenschmiede u. a. zu erwähnen.

In der Bekleidung hat das schweizerische Volksheer bisher leider gar zu sehr den stehenden Armeen nachgeahmt; die letzte Bundesversammlung hat auf Antrag des Bundesraths eine vollständige Umwälzung in Bekleidung und Ausrüstung beschlossen. Blauer Waffenrock, leichtes Tuchkäppi, leichtes Halstuch, bequeme graue Schlitzhosen, Schuhe, statt des weißen schwarzes Lederzeug als Leibgurt entsprechen den Anforderungen der Zweckmäßigkeit, Sparsamkeit und Kleidsamkeit, auch die albernen Epauletten werden abgeschafft.

Die Bewaffnung ist gleichfalls auf dem Wege, alles zu leisten, was die neuesten militärischen Erfindungen verlangen. Fast zu lange hat man gezögert, die gesammte Infanterie mit gezogenen Handfeuerwaffen zu versehen. Gegenwärtig ist man damit beschäftigt. Die nach dem System Prélaz-Burnaud unternommene Umänderung der Rollgewehre in gezogene ist nur ein Uebergangsbehelf; dieselben sollen später der Landwehr zu Gute kommen. Das neue schweizerische Jägergewehr, mit dem bis jetzt eine Jägercompagnie jedes Bataillons ausgerüstet ist, erfreut sich allgemeinen Beifalls, auch außerhalb der Schweiz. Es wiegt mit Bajonnet nur 9 Pfund und gibt noch auf 800 Schritte sehr guten Erfolg. Gleichfalls eine herrliche Waffe ist der neue Ordonnanzstutzen der Scharfschützen. Er ist mit Bajonnet nicht schwerer als 10 Pfund, und noch auf 1000 Schritte schlägt das leichte Spitzgeschoß (32 aufs Pfund) durch drei zolldicke Breter; in der Scharfschützenschule zu Luzern 1853 hatte man damit auf 700 Schritte über 95 Procent Treffer.

Im Geschützwesen ist die Schweiz nie hinter andern Ländern zurückgeblieben; auch die Einführung gezogener Kanonen ist bereits auf die Bahn gebracht. Die schweizerischen Kriegsraketen leisten ungemein Befriedigendes, ebenso der Minenzündapparat, der elektrische Militärtelegraph u. a. Das Brückenmaterial ist größtentheils schon nach dem System Birago eingerichtet.

Die Verpflegung eidgenössischer Truppen, wenn sie auch in großer Masse aufgeboten werden, findet bei der sehr entwickelten [585] Culturstufe und Volksdichtigkeit keine Schwierigkeit. An Transportmitteln, todten und lebenden, gebricht es nicht; die gesetzliche Zahl der Trainpferde für Auszug und Reserve ist 6106. Dem Transportwesen stehen bereits über 200 Stunden Eisenbahn zu Gebote; für rasche Mittheilung sorgen 553 Stunden Telegraphenlinien. Die Schweiz ist demnach vollkommen im Stande, ein beträchtliches Operationsheer aufzustellen und zu unterhalten.

Die ausgezeichneten militärischen Fähigkeiten der Schweizer sind weltkundig. Ihr Leben in rauher Gebirgswelt, ihr steter Kampf mit Naturhindernissen stählt Leib und Seele. Geschickte Benutzung der Bodenverhältnisse wird von früh auf praktisch erlernt. Körperliche Kraft und Gewandtheit, Marschfertigkeit, Leichtigkeit, grosse Lasten zu tragen, solche Eigenschaften sind allgemeiner verbreitet, als in andern Ländern. Sogar die Fabrikarbeit hat bei weitem nicht so viel körperliche Abschwächung erzeugt, als z. B. in England, weil der schweizerische Fabrikarbeiter in der Regel auch etwas Landbau treibt. Der physische Muth des Schweizers wird von keinem Volke übertroffen, und schwerlich auch der moralische; denn der Schweizer ist sein eigener Herr und kämpft für Freiheit und Vaterland. Da das Volksschulwesen in Breite und Tiefe den ersten Rang der Welt einnimmt, da deshalb die durchschnittliche Massenbildung größer ist als irgendwo, da überdies die republikanische Verfassung geistige Selbstständigkeit erzeugt, so kommt diese doppelte Erziehung durch Schule und Leben auch dem Krieger in vorzüglichem Grade zu Statten.

In der Schweiz kann jeder Wehrmann sich als Aspirant zum Unterofficier oder Officier melden, und wird nach Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften ernannt und befördert. An Candidaten ist kein Mangel. Die Unterofficiere werden in der Regel von den Compagniechefs ernannt, die Officiere durch die Militärdirection der Cantonalregierung. Die Officiere der Specialwaffen müssen jedoch in der eidgenössischen Militärschule den vorgängigen Unterricht erhalten haben. Der eidgenössische Stab, in welchem die Führerschaft gipfelt, zählt gegenwärtig 532 Mitglieder, nämlich 250 Officiere und 282 Nichtcombattanten. Zu den Ersteren gehören 87 Obersten und Oberstlieutenants, und unter den übrigen Graden auch eine beträchtliche Anzahl Subalternofficiere, aus denen sich die eidgenössischen Obersten ihre Adjutanten wählen. An der Spitze des Generalstabs stehen 40, des Geniestabs 2, des Artilleriestabs 4 Obersten. Der Justizstab besteht aus 43, der Commissariatsstab aus 80, der Gesundheitsstab (mit einer Abtheilung für Veterinärwesen), aus 112 Personen; außerdem gibt es 47 Stabssecretaire.

Die eidgenössischen Stabsofficiere werden vom Bundesrath (Militärdepartement) bis zum Hauptmann nach dem Dienstalter ernannt, die höheren nach freier Wahl aus denen, die wenigstens zwei Jahre im nächstunteren Grade gedient haben. Ausnahmen hiervon sind bei vorzüglicher Befähigung oder für ausgezeichnete Dienste gestattet. Die Cantonsregierungen, der Oberbefehlshaber, die Inspectoren der verschiedenen Waffen und die Stabsabtheilungschefs sind berechtigt, für alle Grade Vorschläge zu machen. Bei Aufstellung eines Bundesheeres werden der Oberbefehlshaber (General) und sein Stellvertreter, der Chef des Generalstabs, von der Bundesversammlung in der Regel aus der Zahl der eidgenössischen Obersten ernannt. Das Gesetz hat dem General eine sehr ausgedehnte, fast dictatorische Machtvollkommenheit gewährt.

Entsprechend den Eigenthümlichkeiten eines Volksheeres, vornehmlich in der Schweiz, wo wegen des durchschnittenen Bodens und aus andern Gründen die taktischen Einheiten klein sind, ist die Zahl der Officiere größer, als in stehenden Heeren, etwa das englische ausgenommen, und es steht daher auch eine beträchtliche Officierreserve zu Gebote. Weil aber die Anlässe zur Einübung des militärischen Befehlens und Anordnens nur zeitweise und nicht häufig wiederkehren, so ist verhältnißmäßig die Führung im eidgenössischen Heere derjenige Punkt, wo noch am meisten Verbesserung noth thut, hauptsächlich bei den Bataillons- und Compagnieführern, denen nur spärliche Gelegenheit zur Uebung geboten wird. In der Schweiz selbst hat man hiervon ein sehr klares Bewußtsein und sucht auf alle Weise den Mängeln möglichst abzuhelfen. Officiere und Unterofficiere sind redlich bemüht, sich einzeln und in Vereinen militärisch weiterzubilden. Von Bundeswegen wird der Besuch ausländischer Manöver und Kriege aufgemuntert und durch Geldmittel unterstützt. Eine ziemliche Zahl von Officieren ist amtlich mit allerlei Berathungen und Berichterstattungen über militärische Gegenstände beschäftigt. Während der guten Jahreszeit sind alle Cantone mit einem Netze von Rekruten- und Wiederholungscursen aller Waffen überzogen; an der Spitze steht dis große Centralschule zu Thun. Seit einiger Zeit werden auch die Uebungslager und größeren Truppenzusammenzüge jährlich abgehalten; die sparsamen Finanzleute haben sich endlich in die von den Militärs beharrlich gepredigte Nothwendigkeit häufigerer Uebungen fügen müssen. Schließlich darf man nicht vergessen, daß die besten Führer erst im Kriege selbst hervortreten. „Nur der Krieg lehrt den Krieg.“

Begreiflicher Weise läßt sich das schweizerische, wie jedes Milizheer, zu einem auswärtigen Eroberungskrieg nicht gebrauchen, oder vielmehr mißbrauchen. Das Milizheer ist keine gedanken- und willenlose Heerde. Beim Ausrücken im Winter 1856/57 hielt Regierungsrath Schenk an die Berner Mannschaft folgende Ansprache: „Ich bin beauftragt, Euch, die Ihr für die Eidgenossenschaft in’s Feld ziehen sollt, zunächst mit dem Zwecke der Truppenaufstellung bekannt zu machen und sodann den Kriegseid Euch abzunehmen. Es ist das Vorrecht des freien Schweizers, zu wissen, warum und wofür er in’s Feld zieht. Fürstenmilitär wird ausgehoben, mobilisirt und fort in fernen Kampf geschickt, und es vernimmt nur das Eine, daß der Fürst es so haben will. Dem freien Manne sagt man zu allererst, welche Sache es ist, die ihn unter die Waffen ruft.“ (Folgte dann eine Auseinandersetzung der Sachlage.)

So wenig auch das Milizheer zum Erobern geschickt ist, eignet es sich doch vollkommen zur Vertheidigung. Durch seine eigenthümlichen Vorzüge hält es gegen die handwerksmäßige Ueberlegenheit des stehenden Heeres sehr wohl Stand. Allerdings wird es am sichersten gehen, wenn es den von Schulz-Bodmer aufgestellten Grundsatz befolgt: „Soll ein Milizheer im Kampfe mit stehenden Armeen einige Wahrscheinlichkeit des Siegs für sich haben, so muß es unter übrigens gleichen Umständen dem Feinde an Zahl überlegen sein.“ Aus dieser Ueberzeugung entwickelt der genannte Militärschriftsteller die Nothwendigkeit, das schweizerische Operationsheer zu verstärken, hauptsächlich durch Fußvolk, und verlangt für die Schlacht möglichste Dichtigkeit und Tiefe der Aufstellung, sowie Bereithaltung einer starken Reserve. Er spricht sich für Verstärkung der Compagnien mit einem dritten Gliede aus und glaubt, daß sich dazu schon von Freiwilligen eine genügende Anzahl finden würde. Nach seinem eigenthümlichen Vorschlage würde das dritte Glied aus Pikenieren (mit Pike, kurzem Schwert und Pistole) und Pionieren bestehen, welche letztern für die Verschanzung, zum Wegtragen der Verwundeten und zur Auffüllung der vorn entstehenden Lücken verwendet würden. An Waffen für die Verstärkung des schweizerischen Operationsheeres würde es nicht fehlen; alle Cantone haben in ihren Zeughäusern eine bedeutende Menge überzähliger Handfeuerwaffen und Geschütze, und außerdem befinden sich viele Waffen im Privatbesitz. Kein Land kommt in Hinsicht auf Waffenvorrath der Schweiz gleich.

Die Schweiz würde sehr schwach sein, wenn sie die europäische Soldatenthorheit mitmachte. Was sollte sie wohl mit einem stehenden Heere von 35 bis 40,000 Mann ausrichten? Aber Dank dem Milizsystem kann sie ein Operationsheer von 180,000 Mann in’s Feld stellen und im Nothfall über eine Wehrkraft (ohne Landsturm) von 270,000 Mann verfügen.

Mit leichter Mühe läßt sich ermessen, was Deutschland an innerer Wohlfahrt und äußerer Kraft gewinnen könnte, wenn es dem Vorbilde des freien Schweizervolkes nachstreben wollte.

Nach den Vergleichungen, die Kolb zwischen der Schweiz und einigen deutschen Staaten anstellt, gibt Baiern für das Militärwesen über 10 Mill. Gulden aus, würde aber im Verhältnisse zur Schweiz mit dem dritten Theil dieser Summe auskommen und dafür eine weit größere Waffenmacht besitzen. Würtemberg und Großherzogthum Hessen, welche zusammen etwa 2,600,000 Einwohner zählen, also 200,000 mehr als die Schweiz, machen mit 3 Mill. Thlr. Militärkosten kaum 40,000 Mann marschfertig, während die Schweiz mit 11/2 Mill. Thlr. 180,000 Mann erzielt. Mit derselben Summe, wofür Würtemberg nebst Hessen einen Mann aufstellt, nämlich 75 Thlr., läßt die Schweiz zehn Mann marschiren. Baden gibt noch einige hunderttausend Thaler mehr aus, als die Schweiz, um im Ganzen kaum 20,000 Mann zu halten. Hannover, Braunschweig und Oldenburg, zusammen mit gleicher Seelenzahl wie die Schweiz, liefern für 4 Mill. Thlr. 40,000 Mann.

[586] Gegenwärtig tragen die Staaten des deutschen Bundes (mit Einschluß von ganz Preußen) in Friedenszeiten jährlich eine militärische Abgabenlast von wenigstens 90 Mill. Thlr., und haben dafür ein stehendes Heer von 700,000 Mann, etwa 11/2 Procent der Bevölkerung von 48 Mill. Dagegen würden sie auf schweizerischem Fuß jährlich 20 bis 24 Mill. Thlr. verwenden, und dafür über eine schlagfertige Wehrkraft von 3,600,000 Mann oder 71/2 Procent der Bevölkerung verfügen. Wollte man immerhin eine Uebergangsstufe, vielleicht mit halbjähriger Dienstzeit, gestatten, so würde die Ausgabe schon dadurch ungefähr auf den dritten Theil ermäßigt werden. Sehr bald würde man auf drei Monate herabgehen und sich schließlich überzeugen, daß man im Frieden gar kein stehendes Heer braucht. Mit solcher Durchführung der allgemeinen Wehrhaft!gkeit würde Deutschland zugleich die andern großen Militärstaaten zur Nachfolge nöthigen und sich das unsterbliche Verdienst erwerben, durch Beseitigung der Militärherrschaft dem Frieden und allen seinen Segnungen eine feste Wohnstätte in Europa zu bereiten.

Geböte Deutschland über eine Heeresmacht von mehr als viertehalb Millionen Mann, so könnten wir ruhig erwarten, daß die Hölle mit allen ihren Teufeln auf uns losgelassen würde, Laßt uns also mit ganzem Ernst dahin wirken, daß das gebundestagte und schwache Deutschland seine rechte Einheit und volle Kraft gewinne, um allen Begehrlichkeiten eines feindseligen Auslandes die Stirn bieten zu können!

Die militärische Centralisation Deutschlands ist eine so einleuchtende Nothwendigkeit, daß jedes andere Centralorgan, als der mit Unfruchtbarkeit geschlagene Bundestag, sie längst durchgeführt hätte. Die beiden großen Militärdespotien des Westens und Ostens, zwischen denen wir uns eingeklemmt finden, werden durch die straffste Centralisation zusammengehalten. Ihre Heere, vornehmlich das französische, können eine furchtbare Stoßkraft entwickeln und sind im Besitz einer ausgezeichneten Kriegserfahrung. Und solchen Mächten gegenüber läßt der deutsche Bund nach wie vor seine drei Dutzend ungleichartigen Bundescontingente abgesondert bestehen! Den einheitlich geballten feindlichen Massen glaubt er mit einem Sortiment von fachwidrig zerfahrenen kleinen Friedensheeren widerstehen zu können! Billiger und verständiger Weise müßte Deutschland längst ein einziges gleichgebildetes und gleichbewaffnetes Heer besitzen und die Nummern seiner Regimenter vom ersten bis zum letzten durch alle Gauen hindurchzählen.

Außer der Einheit und Gleichförmigkeit bedarf aber unsere Wehrkraft noch der Ausdehnung bis zu jener Vollständigkeit, welche jedem Eroberer von vornherein die Lust benimmt, auf unsere Kosten ungerechte Begierden zu stillen. Alle Wehrfähigen müssen auch wirklich wehrfähig gemacht werden. Nach kurzer Einübung müssen Alle, die in den vorhandenen Militärrahmen nicht gebraucht werden, in die Heimath entlassen werden. Zugleich muß das Vaterland allen seinen waffentragenden Söhnen die volle und gerechte Vergütung ihrer Opfer gewähren und endlich einmal auch die Rohheit beseitigen, daß dem Soldaten die Officierwürde verschlossen bleibt. Bei den klügeren Franzosen trägt seit 70 Jahren jeder Soldat den Marschallstab im Tornister; warum fehlt bei uns noch immer dies mächtige Element des Sieges?

Unter den angeführten Bedingungen würden wir jedem Feinde gewachsen sein. Tritt die Gefahr ein, ist ein Angriff abzuweisen, so steht dann in Wahrheit das bewehrte Volk in Masse auf und geht in’s Feld mit der Sicherheit, in kurzem Kriege das Vaterland zu schützen, zu retten.

Sicherlich ist es die größte Schande, von einem geknechteten Volke geknechtet zu werden. Will Deutschland diesem entehrenden Schicksal entgehen, so muß es bereit und gerüstet sein, gegen den abgefeimten, gewissenlosen, räuberischen Cäsarismus und Prätorianismus im Vordertreffen zu stehen und außer seiner eigenen Unabhängigkeit auch diejenige der kleinen benachbarten Vorländer mit ganzer Kraft zu vertheidigen. „Noth bricht Eisen, und Eisen bricht die Noth.“ Zu diesem Zwecke muß Deutschland das rechte Mittel ergreifen, nämlich im Staate die allgemeine Wehrhaftigkeit durchsetzen und privatim mittelst Wehrvereinen und freiwilliger Schützencompagnien die Volksbewaffnung zur Wahrheit machen. Aber nur das Land, welches von einem freien, selbstbewußten Volke bewohnt wird, schreckt fremde Eroberer zurück. Bändigt Deutschland nicht seine einheimischen Feinde, so wird es eine Beute der auswärtigen. Innere Unfreiheit führt zu äußerer, so gut wie jede Ursache ihre Wirkung hat. Freiheit allein ist Stärke. Hören wir auf Forster’s Wort: „Gegen die Löwenkräfte des freien Menschen, der seine Freiheit über Alles liebt, sind alle Höllenkünste der Tyrannei unwirksam.“ Dem gerechten Volkskriege, der zur Vertheidigung gegen frechen Einbruch mit Begeisterung geführt wird, wird der Siegeslorbeer nimmer entgehen.

Darum arbeite Jeder in seinem Kreise, daß Deutschland frei, einig und stark werde. Das ist die einzige Bürgschaft des glücklichen Widerstandes gegen westliche oder gar vereinigte westöstliche Eroberungsanfälle, alsdann aber auch der schließlichen Wiedererwerbung unserer alten „natürlichen Grenzen.“ Lassen wir dagegen die Dinge gehen, wie sie wollen, d. h. wie unsere Feinde wollen, dann stehen uns wermuthreiche Tage bevor. Zwar auch im schlimmsten Falle würde die Auferstehung des lebenskräftigen deutschen Volkes nicht ausbleiben, und auf neuen Grundlagen im Innern und nach außen würde Neudeutschland als die schiedsrichterliche Centralgroßmacht Europa’s sich erheben. Allein wenn wir uns durch rechtzeitige Thätigkeit dies Fegefeuer ersparen, so ist es unendlich ehrenhafter für uns, und wir erringen mit weit mäßigern Opfern das lang ersehnte und erstrebte einige, freie, große Vaterland.



  1. Vergl. den Aufsatz über das schweizerische Cadettenwesen in Nr. 44 des vorigen Jahrgangs.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Geschäfsbericht