Ein Unglücksjahr in den Alpen
Es war eine schlechte Reise-Saison. Die schwarzbefrackten Sommerkellner mit den glatt gesalbten Haardächern und knarrenden Glanzlederschuhen, diese polyglottischen Papageien, hatten schlechte Gelegenheit für ihre Rolle, mit Lords, Millionenmagnaten und den wirklichen oder eingebildeten höchsten Würdeträgern der Staaten und Stäätlein zu verkehren. Die im amerikanischen Kriege reich gewordenen Speculanten und Lieferanten, welche im verflossenen Sommer massenhafter als je nach Europa herüberkamen und im Vorübergehen einen „Schnauf“ Alpenluft mitnahmen, schützten zwar, während die Karthaunen in Deutschland donnerten, eine Anzahl schweizerischer Reiseorte dürftig vor völligster Verödung; und als das Schwert niedergelegt war und die Truppen heimkehrten, da kam zwar noch ein Herbst-Contingent, – aber der Himmel zog seine Schleußen und ließ das segnende Naß in so unerschöpflicher Freigebigkeit herniederströmen und verschleierte das Gebirge mit seinen unheimlichen Nebelmassen so dicht und anhaltend, daß die wenigen Nachzügler, welche das Hinausweh und die Cholera noch in die Berge getrieben hatte, ihre Koffer bald wieder packten und die Rückkehr antraten.
Und wunderbar! – als ob es prädestinirte Unglücksjahre
[749][750] gäbe; – so gering der Touristenverkehr war, so auffallend groß ist die diesjährige Liste der Unfälle, welche Menschenleben in den Alpen verschlangen. Der prachtvolle Sommer von 1865 (dieser gesegnete Weinkocher, wie so rasch kein zweiter kommen wird) hatte auch seine Quote Menschenseelen für den Alpengeist gefordert, aber die Verhältnisse waren ganz andere als heuer. Jene vorjährigen Unglücke ereigneten sich an Stellen, von denen der besonnene Berggänger vorausgesagt haben würde: „Hier gilt’s zuvor sein Haus bestellen.“ Die diesjährigen, numerisch und relativ den vorjährigen überlegen, sind mit wenigen Ausnahmen fast alle an Stellen begegnet, die an und für sich so gefahrlos, so allgemein frequentirt sind, ich möchte sagen wie die Schwellen unserer Wohnhäuser. Etwas Schreckliches, etwas Dämonisches waltete über der alpinen Schicksalschronik von 1866. – Eine heitere Schaar züricherischer Polytechniker verlegen einen ihrer Kneipabende (wie dies auch im Sommersemester anderer Jahre zu geschehen pflegte) in ein benachbartes am See gelegenes Wirthshaus, fahren in einem Dutzend Kähnen bei Tage dorthin, Professoren kneipen mit, man ist in prächtigster Laune und tritt, allerdings bei etwas dunkeler Nacht, die Rückfahrt mit den gleichen Fahrzeugen an. Alle fahren gut, nur ein Kahn füllt sich nach und nach mit Wasser, weil nicht genug gekalfatert, und sinkt, und mit ihm sinken zwei hoffnungsvolle Jünglinge, des Schwimmens unkundig, während die Anderen mit großer Anstrengung sich zu retten vermögen. – Weiter! – Ein junger Engländer zeichnet an der Axenstraße, hoch überm Vierwaldstätter See, auf einem Feldstuhle sitzend, sieht sich um, verrückt den Stuhl ein wenig, verliert das Gleichgewicht und stürzt in den See. Die Tiefe gab seinen Leichnam nicht zurück. – Ein preußischer Officier, Lieutenant von Wedell, den sein Genius in den Mordschlachten Böhmens schirmend deckte, macht zur Erholung noch eine Reise zu seinem am Thuner See lebenden Freunde und von dort Excurse in’s Gebirge. Er steigt auch die Allerwelts-Passage von Grindelwald über Wengernalp hinauf, allein, ohne Führer, will drüben in’s Lauterbrunnemthal hinab, sieht das Dorf links zu seinen Füßen freundlich winkend liegen, verläßt den breiten, sichern Reitweg und folgt einem ihm scheinbar näheren, weniger betretenen Fußpfade, kommt auf eine jener vertical zur Thalsohle abstürzenden Fluhen (Felsenwände), gleitet aus und – wird mit zerschmettertem Körper gefunden.
Er hatte keinen Führer! – Drei Engländer, von denen der Eine schon früher einer Besteigung des Montblanc beigewohnt hatte, wagen es, gleichfalls ohne Führer (reglementarisch soll für eine Montblanc-Besteigung jeder Reisende seinen eigenen nebst Träger haben) den Weg anzutreten. Man hatte sie in Prieuré (Hauptort von Chamounix) dringend gewarnt, aber sie hatten lachend der Warnung gespottet. Gespannten Blickes verfolgten mit dem Fernglase Führer und Fremde vom Thale aus die Wagefahrt; und wirklich! es schien, als wolle das Glück sie begünstigen. Da plötzlich rutscht der Eine und zieht, durch das Gletscherseil an seine Gefährten gefesselt, auch diese zum Sturz, sie verschwinden und die Zuschauer im Thal erkennen klopfenden Herzens: in diesem Augenblicke enden drei Menschenleben. Eine Schaar beherzter Männer macht sich auf; man sucht; zwei werden gerettet, – der Dritte schläft den Todesschlaf im Eisgewande des höchsten Bergriesen von Europa. – Noch ein anderer Sohn Albions kommt mit seiner Mutter und zwei Schwestern nach Chamounix, im October, will auch den „Monarchen“ (wie die Thalleute den Montblanc nennen) unter seine Füße zwingen, während man ihm, der späten Jahreszeit halber, abrathet. Indessen er findet zwei Führer, welche mit ihm gehen; auch eine seiner Schwestern hat anfangs die Absicht das Wagestück mit zu unternehmen, steht jedoch, bald einsehend, daß ihre Kräfte nicht ausreichen, davon ab und kehrt um. Unseliger Weise schlagen die Führer, weil der neue Schnee sie sehr im Fortkommen hindert, einen Weg ein, den man seit vielen Jahren nicht mehr gemacht hatte, der aber etwas näher sein mag. Auch diese Expedition steigt gut und glaubt ihres Sieges gewiß sein zu dürfen. Da löst sich droben eine auf glatter Unterlage von altem Firn ruhende Schicht neuen Schnees ab, wächst an Umfang und Fallkraft, wird zur Lauine und begräbt alle Drei! –
Das sind acht Menschenleben, die unerwartet, urplötzlich, im frohesten, freudigsten Lebensgenusse der jähe Tod ereilte. Mit ihnen ist aber die Trauerliste noch nicht geschlossen. Noch zwei Fälle sind zu erwähnen, deren Unglücksgeschichten zu den ergreifendsten gehören.
Der erste betrifft den Sturz des vortrefflichen Hugo Wislicenus (Doctor der Philosophie, Lehrer der altdeutschen Sprache am eidgenössischen Polytechnikum und der Universität so wie an der Kantonsschule in Zürich und am Lehrerseminar in Küßnacht), unweit der Tödi-Clubhütte am 8. August. Ueberangestrengt waren ihm die Sommerferien bis zur letzten Woche vorübergegangen, ohne ihm Tage der Erholung, der neuen Kräftigung an Geist und Körper zu schenken. Endlich war die Ferienarbeit über „das Nibelungenlied als Kunstwerk“ zum Abschluß gebracht, und der eifrige germanische Forscher wollte die noch wenigen freien Tage zu einer erfrischenden Wanderung in die ihm liebe große Alpenwelt benutzen. Auch er schied freudig von den Seinen, ohne die Ahnung des Nimmerwiedersehens und noch unentschlossen, welche Tour er machen wolle. Im Allgemeinen sollte das Glarnerland und einer der Paßübergänge nach Graubünden oder Uri sein Wanderziel sein. So verging die zweite Augustwoche. Als der durch seine große Gewissenhaftigkeit und pünktliche Pflichterfüllung stets sich auszeichnende junge Mann am Tage des Wiederanfanges der Lehrstunden nicht zurückgekehrt war und auch brieflich keine Gründe seines Nichtkommens gesandt hatte, brachen sein greiser Vater[1] und seine Brüder sammt einem Vetter und Schwager auf, den Vermißten auf verschiedenen Wegen zu suchen, seine Spuren zu verfolgen. Dem ältesten Bruder, der Professor der Chemie an den höheren züricherischen Lehranstalten ist, gelang es zuerst, in dem ganz im Hintergrunde des Linththales gelegenen Wirthshause zum Tödi den ersten sicheren Haltpunkt zu finden. Dort hatte der Gesuchte vom 7. zum 8. August übernachtet und seinen Namen in’s Fremdenbuch geschrieben und der Wirth erinnerte sich, daß dieser Herr zur Oberen Sandalp (vier Stunden höher) hinaufgestiegen sei, mit der Absicht über den Sandfirn und Sandgrath (eine Gletscherwanderung 8640 Fuß über Meer) am Fuße des Tödi vorüber hinab nach Dissentis in’s Vorderrheinthal zu gehen. Auch der Senn droben, ein gewisser Friedli, entsann sich des Gesuchten sogleich und theilte mit, daß der Fremde, vom Sandgrath ohne Führer herabkommend, frühzeitig am Nachmittage in seiner Hütte eingekehrt sei und sich erkundigt habe, ob er bei ihm allenfalls übernachten könne, worauf ihm zustimmende Antwort geworden sei. Es geht daraus hervor, daß Wislicenus eine oder zwei Stunden früher die Hütte passirt und allein ohne Führer versucht hatte, den Weg über den Sandfirn zu finden, dann aber, die Unmöglichkeit des Alleingehens erkennend, wieder umgekehrt und zur Hütte zurückgegangen war. Da, wie erwähnt, die Sonne noch hoch stand, so wollte der stets Thätige die Zeit nicht unbenutzt vorübergehen lassen. Es mochte ihn interessirt haben das gastliche Steinhaus kennen zu lernen, welches der Schweizerische Alpenclub jüngst erst für die Besteiger des Tödi am Grünhorn hatte erbauen lassen, und da es bis dorthin etwa noch drei Stunden und der Weg, wie er glaubte, ohne Führer zu finden war, so verließ er die Sandalphütte in dieser Richtung. Gegen Abend soll nach Aussage sämmtlicher Thalleute und der Sennen ein Unwetter im Gebirge losgebrochen sein, das an Wildheit und Zerstörungswuth kaum seines Gleichen gehabt habe. Schwarze Nebel stürmten herein, Blitz und Donner tobten in gräßlicher Entfesselung und die Atmosphäre schüttelte Schneemassen so dicht herab, daß am anderen Morgen an manchen Stellen der Schnee mehrere Fuß hoch lag.
Wislicenus war nach diesem Gewitter nicht wieder in die Sandalphütte zurückgekommen, und der Senn wähnte, er habe in der Clubhütte übernachtet und sei dann in irgend einer Richtung am anderen Tage weiter gewandert. – Nach diesen Mittheilungen mußte es den Suchenden leider fast zur Gewißheit werden, daß der Vermißte verunglückt, wohl nicht mehr am Leben sei. Von den tüchtigsten, ortskundigsten Führern geleitet, wanderten sie des Roethi und dem dahinter gelegenen Bifertenfirn zu und suchten zwei Tage lang bis über die Clubhütte hinaus, – aber vergeblich. Das einzige Resultat war das Auffinden einiger Spuren von Fußtritten und einem Alpenstock auf dem Bifertengrätli, und es blieb nichts übrig als anzunehmen, Wislicenus sei hier gewesen und auf dem darunter liegenden Gletscher in eine Spalte gestürzt. Weitere Nachsuchungen waren des frischen Schnees halber unmöglich [751] und unnütz und die Auffindungs-Expedition kehrte unverrichteter Dinge, nur durch die Gewißheit bereichert, daß der Gesuchte ein Opfer seiner Gebirgsliebe geworden sei, zurück. So zerschmetternd und bündig die Nachricht war, und so wenig man nur noch die leiseste Spur von Hoffnung nähren durfte, so begnügte sich der alte Vater nicht mit derselben; er wollte wissen, wo sein lieber, wackerer Sohn verunglückt sei, und das letzte und äußerste Mittel nicht unversucht lassen. Darum setzte er in der Glarner Zeitung einen Preis von vierhundert Franken für den aus, der seinen Sohn auffinde. Das regte die Forschlust aufs Neue bei den ohnedies theilnehmenden Thalbewohnern an, und endlich am 25. August meldete der Telegraph nach Zürich die Trauerbotschaft: Der Leichnam sei gefunden. Alle Angehörigen eilten hin.
Der Ort, an welchem, und die Lage, in welcher man den Körper fand, so wie der Zustand desselben und das zerstreute Umherliegen der Effecten ließen kaum einen Zweifel übrig, wie die Katastrophe vor sich gegangen sein möge.
Der Verunglückte mochte die Clubhütte bereits in Sicht gehabt und sich bemüht haben sie zu erreichen, als ihn der Nebel einhüllte und das Wetter ihn überfiel. Daß er mit letzterem und gegen den Schneesturm zu kämpfen hatte, davon zeugte sein bis oben hin zugeknöpfter Rock und das außer dem Halstuche noch umgebundene Taschentuch. Welch gräßliches Ereigniß aber ein Schneesturm im Gebirge ist, habe ich in meinem Alpenbuche[2] ausführlicher erzählt und verweise darauf. Da mag er in dem ihn umgebenden Aufruhr der Elemente die Richtung verfehlt haben, – die Kräfte mögen allgemach, trotz des ungemein starken Körpers und der ungeschwächten Dauerfähigkeit des dreißigjährigen jungen Mannes erlahmt sein (denn wer vermöchte wider solche Gewalten dauernd anzukämpfen?); – wahrscheinlich ein Fehltritt auf der zu passirenden Riesete (jäh hinabsinkende Gebirgsfläche von rutschendem Felsgetrümmer überdeckt) – und der Todessturz war da.[3] Es war dieses aber nicht ein einziger Moment des Zerschmettertwerdens, sondern wohl ein mehrere Minuten dauernder Kampf um Rettung. Denn als man ihn auf dem Rücken liegend unterm Schnee fand, war die Rückseite des Körpers und der Kleidung fast unverletzt, während die Stirn ganz mit Blut unterlaufen, das Nasenbein gebrochen, die Hände an ihren äußeren Flächen ebenso wie ein Knie und eine Hüfte abgeschunden und die Kleider an der Brustseite von oben nach unten aufgerissen waren. Er mag etwa zweihundert Fuß über die ob seiner Lagerstätte aufsteigende steile Riesete, auf der Bauchseite liegend mit dem Kopfe voran, herabgerutscht sein und vielfach den Versuch sich zu halten gemacht haben, bis er, endlich über eine noch steilere Felswand sich überschlagend herabstürzte und besinnungslos auf dem Rücken liegen blieb. Unbedingte Todes-Ursache dürfte der Sturz an und für sich noch nicht gewesen sein, man nimmt an, daß die letzten Lebensreste durch die Kälte des fußhoch über ihm sich aufthürmenden Schnees paralysirt wurden. Daß er diese Rutschfläche von etwa zweihundert Fuß zurückgelegt haben mußte, davon zeugten die längs dieser Riesete aufgefundenen zerstreuten, seiner Reisetasche entfallenen Gegenstände, Wäschestücke und Bücher.
Hugo Wislicenus war ein Mensch von ganz besonders innigem und treuem Gemüthe, von scharfem Verstande, vorwiegend ernst und zurückhaltend, aber in traulichem Kreise von herzlicher Fröhlichkeit und Offenheit; gewissenhaft, mild, schlicht und anspruchslos, ein vortrefflicher Sohn und Bruder, – ein Mensch und Freund, dessen Hingang Thränen werth ist. Er ruht auf dem Friedhofe zu Linththal. Die Hinterbliebenen wollen ihm eine Denktafel in der Nähe der Pantenbrücke setzen.
Dies ist seit zwei Jahren der zweite Fall, den die Lehrerschaft der züricherischen Hochschule zu beklagen hat. Auf gleiche Weise kam am 20. Juni 1864 Dr. Wilhelm Kabsch, Privatdocent der Botanik, am Hohenkasten im Kanton Appenzell ums Leben, wenn auch nicht durch die Wuth der Elemente zum Sturz geschleudert, so doch zunächst dadurch, daß auch er der Warnung mißachtet und keinen Führer mitgenommen hatte.
Möchten doch die wiederholten Unglücksfälle der letzten Jahre endlich einmal zur großen und allgemeinen Warnung werden, Wanderungen in höhere und wildere Gegenden der Gebirge nie ohne zuverlässige, kräftige und ortskundige Führer zu unternehmen. Schiller’s Tell sagt: „Den schreckt der Berg nicht, wer darauf geboren!“ Eben deshalb, weil der Aelpler im Gebirge geboren und aufgewachsen ist, weil seine Kräfte gestählt, seine Blicke adlergleich geschärft sind und sein ganzes Wesen gleichsam instinctiv ausgerüstet ist, – eben deshalb vertraue man sein Leben ihm an, der Schritt und Tritt und die Gefahren kennt, und glaube nicht, daß Kühnheit und Kräfte allein den Bergsteiger ausmachen. Zwischen dem Alpensohne und dem Manne des Flachlandes oder gar dem Städter liegt eine große Kluft der Fähigkeitsverwandtschaften.
Ein anderer Unglücksfall, eigentlich, unter genauer Betrachtung der Umstände, des Ortes und der Personen, der entsetzlichste von allen – ist der Tod der Gattin des Herrn Professor Delffs in Heidelberg und zweier Damen aus Irland im Taminathal. Da die Schreckensnachricht und ausführliche zahlreiche Schilderungen dieses Unglücks alle Zeitungen durchliefen, so dürfen wir uns darauf beschränken, hier nur zu näherer Verständigung eine gedrängte landschaftliche Schilderung der Unglücksstätte mitzutheilen.
Im sanct-gallisch-bündnerischen Rheinthale, dort wo Deutschlands schönster Strom seine eigentliche Hochgebirgs-Heimath Rhätien verläßt und in breitere Thal-Ebenen hinaus tritt, liegt in wunderbar schöner Umgebung das von Jahr zu Jahr mehr besuchte Bad Ragatz. Im Sommer ist es halb Stadt, halb Alpendorf, in welchem stolze Comfort-Hôtels über die steinbelasteten, alpenheimeligen Schindeldächer hervorragen, strotzender Modeluxus im schwerrauschenden Moiré-antique-Kleid sich mitten unter Ziegenheerden [752] und Geißbuben bewegt, würzige Heudüfte und harziges Waldesarom alle die halb und ganz ausrangirten süßen Kunstgerüche verdrängen, die aus der Salonatmosphäre sich auch in diese urgesunde Naturluft zu mischen wagen und wo veritabele Heerdenglocken Wagner’s reizenden Schalmeiengruß (genussesseligen Tannhäuser Andenkens) begleiten, den die Curcapelle herunterpotpourit. Nun! Dieser elegante, frequente Badeort empfängt sein 30° Réaum. warmes Wasser aus den heißen Quellen, welche in der Tiefe einer orcusähnlichen Schlucht hinter dem Pfäfferser Bade entspringen. Das hochromantische Taminathal und die längs dem brausenden Bergstrom geführte eine Stunde lange Kunststraße (letztere in den Jahren 1838 und 1839 erbaut) verbinden beide Punkte und vermitteln die Wasserleitung. Ich verweise schon jetzt auf die beikommende Abbildung, um denjenigen Lesern, die mit der unheimlichen Localität nicht bekannt sind, einigen Begriff von derselben zu geben. Hoch wie die Hallen einer Kirche wölben sich die schwarzen Marmorwände der Schlucht empor, nur durch einen schmalen Streifen das Tageslicht von oben einlassend. Unten in der Tiefe, die ganze Breite der Schluchtsohle ausfüllend, tobt und schäumt über Felsenblöcke die weißgraue, gletscherentsprossene Tamina und längs der einen Wand führt, wie unser Bild zeigt, jetzt ein Langsteg vom klosterartigen Badegebäude etwa fünfhundert Schritt in den Hintergrund dieser Schlucht zu den heißen Quellen. Ehe jedoch der schwindelnde Weg durch das Taminathal von dem Bade Ragatznach dem Bade Pfäffers dem Felsen abgerungen und dieser Langsteg in die eigentliche Quellenschlucht erbaut war, gab es Jahrhunderte lang keinen anderen Zugang zu derselben, als der luftige, mittels eines Korbes an einem Seile schwebend hinabgelassen zu werden. Und so wurden die Gicht- und Gliederkranken, welche sich entschlossen hier Linderung ihrer Leiden zu suchen, Jahrhunderte lang an einem Seil in den nächtlichen Abgrund hinabgelassen, ihnen Speise und Trank für einige Tage mitgegeben und geduldig krochen sie dann entkleidet in die großen Tümpel heißen Wassers hinein und blieben in denselben, so behaglich als die Umgebung es eben gestatten mochte, sitzen, bis man sie wieder an’s Tageslicht der Oberwelt heraufzog. Da nun die Quelle wirklich Wunder wirkte und auch hohe geistliche und weltliche Sünder hier Genesung suchten, so ließ der Abt Johann der Zweite von Mendelbüren um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Schlucht selbst ein hölzernes über der Tamina schwebendes Curhaus mit Zimmern, Badewannen und Lagerstätten erbauen, von welchem Gebäude man heutigen Tages noch in den Felsenwänden die ausgemeißelten Löcher erblickt, in welche die tragenden Balken eingelassen waren. Aber auch zu dieser vervollkommneten Einrichtung gab es noch kein anderes Mittel zu gelangen als das Seil. Endlich um die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts wurde ähnlich der jetzigen Einrichtung eine schwebende Brücke etablirt, welche die Luftfahrt aufhob. Da wurden aber zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts die alten auf Querbalken ruhenden Häuser durch die fortwährenden feuchten Imprägnationen baufällig, Eismassen und Felsentrümmer, welche auf dieselben allfrühjährlich hernieder hagelten, beschädigten ebenfalls Dachung und Wände, und als im December 1629 mehrere Familien vor der damals grassirenden Pest sich hierher geflüchtet hatten, fing das Haus eines Tages Feuer und brannte bis auf den letzten Stumpfen ab. Solch eine Feuermasse in diesen schwarzen Hallen muß einen infernalischen Effect hervorgebracht haben. Noch heute pflegen Reisende, die Freunde der Schauer-Romantik sind, den Führer[4] zu veranlassen, statt der kleinen Laterne (für den Stollen zur Quelle) eine kräftige Fackel mitzunehmen, um unter dem rothen Colorit dieser Beleuchtung das Unheimliche der großartigen Umgebung zu erhöhen. Unser Künstler hat eine solche Fackelbeleuchtung auch zu unserer Illustration benutzt.
Unsere Leser erinnern sich, daß die drei Damen nicht in der Taminaschlucht, sondern in dem wohl eine Stunde langen Taminathal, auf dem sehr ebenen, genügend breiten Fahrweg verunglückt sind. Die Damen hatten die Schauer der Schreckensschlucht überwunden und den Rückweg nach Ragatz mit dem leichten Wägelchen, wie solche seit wohl dreißig Jahren die sehr lebhafte Communication zwischen Bad Pfäffers und Ragatz vermitteln, nicht nur angetreten, sondern fast beendet, als der Seitensprung eines scheuenden Pferdes den entscheidenden Schicksalsaugenblick herbeiführte und die drei Damen in die Schlucht hinabschleuderte.
- ↑ Sein Vater ist der als freier theologischer Forscher durch sein Bibelwerk berühmte und vielen Lesern der Gartenlaube bekannte Prof. Gust. Ad. Wislicenus.
- ↑ Die Alpen in Natur- und Lebensbildern von H. A. Berlepsch; Verlag von Costenoble.
- ↑ Der mit Wislicenus, dem Vater, befreundete Redacteur dieser Blätter erhielt von demselben eine briefliche Mittheilung über dessen Gang zur Unglücksstätte, aus welcher wir das Nachstehende hier einfügen: „Ich reiste Freitag den 29. September, nachdem der Tödiwirth uns angezeigt, daß die oberen Gegenden schneefrei und das Wetter günstig sei, mit meinen Söhnen Johannes und Ulrich nach dem Tödiwirthshause ab. Am andern Morgen früh fünf Uhr brachen wir mit den Führern Thut, Vater und Sohn, und begleitet von den wackern Wirthsleuten und drei ihrer Verwandten, welche unsern lieben Hugo, den sie lebendig und todt bei sich aufgenommen haben und dessen Grab sie schmücken und erhalten, wie einen Bruder ansehen und dadurch unserer Familie auf das Freundschaftlichste verbunden worden sind, nach der Unglücksstätte auf. Der Weg führt in einer Felsenöde über die untere Sandalp etwa fünftausend Fuß bergauf, meist auf Gestein, zuletzt nur noch auf Felsgetrümmer. Auf der untern Sandalp waren noch Sennen; die obere, welche aber auf geradem Wege nicht berührt wird, war bereits verlassen. Wir stiegen am Bifertengletscher hinauf, und langten etwa um zwölf Uhr am Ziele an, indem ich meinerseits, meinem Alter gemäß und dazu durch Kummer und eine vorhergehende fast schlaflose Nacht geschwächt, den Weg um eine bis zwei Stunden verlängerte. Die Gegend zwischen Bifertengrat und Grünhorn, welche mein Hugo hatte durchschreiten müssen, besteht aus Gletscher und Felstrümmern, welche letztere aber auch den Gletscher an seinem untern Theile nur überdecken, was man beim Steigen gelegentlich an den offenen Eisspalten wahrnimmt. Der Abhang, welchen er herabgestürzt ist, besteht aus sehr steil abschüssigem Felsgetrümmer, an welchem man nur mit Mühe und Vorsicht hingehen kann. Diese ‚Rieße‘ (Riesete), wie man dergleichen hier nennt, geht mehrere hundert Fuß hoch, und vielleicht eben so breit, neben dem Grünhorn von der steilen Felswand des Tödigipfels herab. Man muß nothwendig über sie gehen, wenn man auf das Grünhorn und in die Clubhütte gelangen will. Der Steinhaufen, welchen die Finder gerade oberhalb des Hauptes des Aufgefundenen errichtet hatten, war noch vorhanden. Der Sturz ist in dem gelben Streifen der verschieden gefärbten Rieße geschehen. Mein Sohn Ulrich fand etwas weiter oben noch ein Taschentuch seines Bruders, hinter einen Stein festgeklemmt. Johannes holte den Alpstock aus der Clubhütte, welche alle außer mir bestiegen, wohin denselben die spätern Finder gestellt hatten. Ein besonderer Felsabhang findet sich in der Fallbahn nicht, dagegen einige größere, fast mannshohe Blöcke. Noch lag ein Theil des Schnees dort, aus welchem der Verunglückte gezogen worden war. Die von dem dritten Finder, der aber nicht gleich anfangs nahe dabei gewesen war, ausgegangene Angabe, daß derselbe die eine Hand unter dem Kopf gehabt, erklärte Thut Sohn, der ihn zuerst gefunden, entschieden für unwahr. Die Kleider waren durch Rutschen hinaufgeschoben gewesen, die Reisetasche hatte, ebenso gewaltsam aufwärts gezogen, unter dem Nacken, der Kopf auf bloßem Gestein gelegen, Arme und Beine nach unten in natürlichem Verhältniß. In den Seitentaschen des Ueberziehers hatten sie noch Brod und Fleisch gefunden. All diese Umstände sprechen für augenblickliche und dauernde Bewußtlosigkeit, wenn nicht für augenblicklichen Tod, noch entschiedener, als wir früher meinten. Leider hatte ich mich, allerdings bereits sehr erschöpft und um den Rückweg selbst etwas besorgt, von den Begleitern bestimmen lassen, aus Rücksicht auf sie ein Stück vor der Rieße im Schutze einiger Felsblöcke zurückzubleiben, von wo aus ich indeß die Stelle ganz nahe vor mir hatte, so daß ich Alles gut sehen konnte. Ich gedenke im nächsten Jahre von der nähern Obersandalp aus die Stätte mit mehr Muße und gründlicher in Augenschein zu nehmen. So schmerzlich mir das Alles ist, lebe ich doch darin dem Andenken meines lieben Hugo und genüge dem Drange, mir Alles, was seinen Tod betrifft, so klar als möglich zu machen und immer wieder vor Augen zu führen. Dann soll auch die Denktafel an schöner Stelle bei der Pantenbrücke in den Felsen gefügt werden, wo bekannte und unbekannte Freunde, wenn sie die Gegend besuchen, des lieben und edeln Todten und unser gedenken mögen. G. A. Wislicenus.“
- ↑ Die Regierung des Cantons St. Gallen läßt, da der Staat Eigenthümer der Quellen und der Badegebäude ist, ein Eintrittsgeld von einem Franken von jedem Besucher erheben.