Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein Mann der Volksschule
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7-9, S. 100-102, 126-128, 142-144
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Mann der Volksschule.

Der 29. Februar, dieser Sonderling unter den Tagen des gegenwärtigen Jahres, erinnert an einen deutschen Schulmann, der leider durch die brutale Gewalt unserer heutigen Dunkelmänner in den Hintergrund gedrängt ist – an den hochverdienten Pädagogen Gustav Friedrich Dinter, welcher an diesem Tage vor gerade 100 Jahren, den 29. Febr. 1760, in der Stadt Borna bei Leipzig geboren ward. Dinter gehört zu den Begründern des heutigen deutschen Volksschulwesens, denn nicht allein sein Heimathland Sachsen, sowie sein zweites Vaterland Ostpreußen konnte sich seiner langjährigen, directen Wirksamkeit als Schulmann und Leiter der Schulen erfreuen: die gesammte deutsche Schule blickt auf ihn als leuchtenden Stern, dessen Strahlen manches dunkle Lehrzimmer Leben erweckend und befruchtend erhellten. Doch nicht der Schulmann allein ist es, welchen die dankbare Menschheit in Dinter zu verehren hat, so bedeutungsvoll und segensreich seine Stellung als solcher auch immer gewesen sein mag: der Geistliche in des Wortes edelster Bedeutung, der Gelehrte, der Menschen- und Wahrheitsfreund, der rastlos wirkende Beamte verdienen unsere Hochachtung und Verehrung nicht minder, da er in allen diesen Beziehungen sich über viele seiner Zeitgenossen glänzend erhebt, also Grund genug, von dem Gezücht der Dunkelmänner, der Servilen und Faulen wie im Leben, so auch nach seinem Tode gehaßt, angefeindet und verfolgt zu werden. Es hieße den Glauben an die Menschheit aufgeben, wollte man meinen, daß ihm die Nachwelt nicht gerecht werde, denn sein Wahlspruch: Menschenbildung, Menschenveredlung, Menschenwohl war der Ziel- und Angelpunkt seines langen, in rastloser Thätigkeit vollbrachten opferreichen Lebens. Wer für solche Aufgabe gelebr und gestrebt hat, kann, ja darf nicht vergessen werden. Möge das Nachstehende einen Blick in Dinter’s Leben und Wirken gestatten.

Die Volksschule des 18. Jahrhunderts, besondern der ersten zwei Drittel, war in einen elenden, geisttötenden Mechanismus versunken. Ein allen geistigen Aufschwung niederhaltendes Gedächtnißunwesen war die einzige Lebensäußerung in den Schulen des Volkes, während die Gelehrtenschule ihre Aufgabe in die Bildung tüchtiger Lateiner und Griechen setzte, denen allerdings nur zu oft die Fähigkeit abging, einen nur leidlichen Aufsatz in reinem Deutsch schreiben zu können. Die meisten Lehrer des Volkes waren für ihren hochwichtigen Beruf nicht vorbereitet worden, sondern gehörten vor dem Eintritte in denselben einem ganz andern Stande an, ja selbst noch in der Zeit, in welcher sie bereits das Lehramt verwalteten. Alte, ausgediente Unterofficiere, kaum fähig ihren Namen zu schreiben; im Herrendienste ergraute Bediente, welche sich in einer vieljährigen Dienstzeit einen äußeren Takt angeeignet, doch in derselben allen freien Menschensinn verloren hatten; Handwerker, deren Berufsthätigkeit sie auf die Stube beschränkte, und deshalb nach den Begriffen jener Zeit geeignet zur Aufsicht und Unterweisung der Jugend; endlich einige junge Leute, welche entweder bis Tertia oder Secunda eines Gymnasiums gekommen, oder von einem Pfarrer in einigen Elementarkenntnissen unterrichtet worden waren: das waren die Lehrer des Volkes. Wie die Arbeiter, so das Werk. Ein elender, geisttödtender Mechanismus herrschte in den Schulen und unterdrückte jede geistige Regung, der Bakel ward mit kräftiger Hand geschwungen und statt naturgemäßer Entwicklung ward „eingebläut“. Nur der Unverwüstlichkeit der Menschennatur ist es zu danken, daß es mit der Volksbildung nicht noch weit schlimmer stand, ja noch steht, da die Bildung des Volkes der Gegenwart auf der des vorhergehenden Geschlechtes ruht. Die Erkenntniß jenes traurigen Zustandes blieb [101] nicht aus, die geistige Erstarrung, der Rückschritt des Volkes nach der lebensvollen Zeit der Reformation war zu augenfällig. Die deutsche Literatur trat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts allmählich in ihre Blüthenzeit; die Philosophie griff kräftig ein, und J. J. Rousseau erweckte durch seinen Emil den sehnlichen Wunsch nach Verbesserung des völlig vernachlässigten Schulwesens. Edle Fürsten und andere hochherzige Männer wurden für die Verwirklichung dieses hohen Zieles erwärmt, und nicht lange nachher traten Basedow und v. Rochow auf Rekahn auf und wendeten ihre ganze Aufmerksamkeit der Verbesserung des schlechten Volksunterrichts zu. Basedow schrieb das Elementarwerk, Rochow gründete seine Musterschule und gab den Kinderfreund, ein für jene Zeit recht treffliches Schullese- und Unterrichtsbuch, heraus. Beider Wirken fand Nachahmer, welche die neuen Ideen fortführten und die gemachten Fehler verbesserten. Campe und Salzmann gründeten ihre Erziehungsanstalten, und obwohl dieselben nur den Reicheren im Volke zugänglich waren, so wirkten doch die in denselben zur Anwendung gebrachten und in Volks- und andern Schriften veröffentlichten Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts auf die Strebsamen unter den Lehrern des Volkes. Felix Weiße arbeitete durch den Kinderfreund für die Verbesserung der häuslichen Erziehung unter den gebildeten Classen, Zacharias Becker dagegen durch sein weit verbreitetes Mildheimisches Noth- und Hülfsbuch für die Masse des Volkes, namentlich den Bauern- und niederen Bürgerstand. Pestalozzi, preiswürdigen Andenkens, verbesserte besonders die Lehrweise, und sein Streben, selbst den Unterricht in technischen Fertigkeiten auf geistbildende Weise zu betreiben, verdiente und erwarb alle Anerkennung.

Gustav Friedrich Dinter.

In dieser Zeit allgemeiner Begeisterung für Verbesserung des Unterrichts und Hebung der sittlichen Zustände des Volkes trat auch Dinter auf, und Vieles ist durch sein Wort und Beispiel in Ausführung gekommen, was jene Männer vorbereiteten.

Derselbe, Glied einer zahlreichen Familie, erhielt eine dem Geiste jener Zeit nach recht tüchtige Erziehung, welche darauf berechnet war, ihn möglichst bald dem Gymnasium zuführen zu können. Für die Ausbildung des Gedächtnisses ward Alles gethan, lateinische theologische Compendien auswendig gelernt, zu denen die biblischen Belegstellen gar griechisch memorirt werden mußten. Dagegen geschah für Kopf und Herz äußerst wenig und dieses Wenige nur durch die vom Sohne innig verehrte Mutter, eine Frau von echter Religiosität, berechnender Klugheit und einiger Eitelkeit. Der Vater, ein vielbeschäftigter Rechtsgelehrter, war ein äußerst heiterer, fröhlicher Mann und trug durch seine Lebensanschauung nicht wenig bei, daß der Sohn das Leben mehr von der Lichtseite auffaßte und dem Murrsinne feind ward. Strenger Gehorsam und Furchtlosigkeit waren Forderungen, welche er an seine fünf Söhne stellte.

Dinter ward nach kaum vollendetem 13. Lebensjahre in die Landesschule zu Grimma aufgenommen, in welcher bereits sein Vater den Gymnasialunterricht empfangen hatte. Der Rector Krebs leitete mit Treue, Einsicht und Takt die Anstalt, doch hatte der Conrector Mücke auf das Gemüth des jungen Dinter besondern Einfluß. Er war es, der den von der Mutter eingepflanzten religiösen Sinn in den Jahren der erwachenden Kraft und Lebendigkeit im Jünglinge wach erhielt, und in Verbindung mit einem Geistlichen Grimma’s absichtslos bei seinem Schüler den Entschluß zur Reife brachte, das vom Vater gewünschte Studium der Rechte aufzugeben und sich der Theologie zuzuwenden. Die Freude am Unterrichten erwachte in ihm bereits in dieser Anstalt, und da der Erfolg seine Unternehmungen begünstigte, so ward er nach dortiger Einrichtung bald einer der beliebtesten Obergesellen, dessen Pflicht es war, die mit ihm in einer Stube Wohnenden in ihren Studien zu leiten und zu beaufsichtigen. Im Jahre 1779 verließ er als Erster der ganzen Schule Grimma, um die Universität Leipzig zu besuchen. Der kurz vor seinem Schulabgange erfolgte Tod der Mutter gab seinem ganzen akademischen Leben eine ernste Richtung und bewahrte ihn vor vielfachen Gefahren und Verirrungen. Ein reger, wissenschaftlicher Eifer veranlaßte ihn, in den ersten zwei Universitätsjahren sich mit Collegien zu überladen, so daß er sich späterhin als gereifter Mann über diesen auch noch heute nicht seltenen Mißgriff der akademischen Jugend in folgenden goldenen Worten ausspricht: „Es ist nicht nothwendig, daß dem Menschen Alles, was er wissen soll, in besonderen Lectionen vorgetragen werde. Reget nur die Lust und Kraft in ihm an und zeigt ihm die Hülfsquellen, dann wird er durch sich selbst mehr werden, als [102] alle Lectionen und Collegia aus ihm zu machen im Stande sind.“ Menschenbeobachtung war ihm Lieblingsbeschäftigung, ihr verdankte er jenen praktischen Sinn, welcher ihn als Prediger wie Lehrer allezeit auszeichnete und seine Wirksamkeit vermittelte. Das Theater liebte er leidenschaftlich: „Für junge Theologen ist das Schauspiel sehr nützlich, sie bekommen ein deklamatorisches Gewissen. Sie sollen zwar auf der Kanzel nicht theatralisch agiren, aber sie bekommen ein Gefühl für Wechsel der Stimme, für Stärke und Schwäche des Ausdrucks; sie nehmen eine gewisse Lebendigkeit der Darstellung an. Junge Theologen, besucht das Theater fleißig, wenn es gut ist. Ihr seid da wahrlich besser aufgehoben, als am Spieltische. Aber freilich die Stücke müsset ihr wählen!“

In Dinter’s Studentenzeit fällt ein Ereigniß, welches seinem Leben eine andere Richtung gab und seinen ganzen Lebensplan änderte. Nach dem Wunsche seines Vaters sollte die akademische Laufbahn Ziel seiner Studien, die Kirchengeschichte sein besonderes Fach werden. Seine Bibliothek ward nach dieser Seite vervollständigt, die ansehnlichsten Werke befanden sich bereits in derselben. Da lernte er auf einer Ferienreise in der erzgebirgischen Stadt Schwarzenberg eine vaterlose Waise, Friederike Peck, Tochter eines verstorbenen Pfarrers zu Raschau, kennen. Sein Herz war am ersten Tage ganz ihr. Nicht ihre Schönheit, wohl aber ihre unbefangene Gutmüthigkeit, ihre sich unverkennbar darlegende Unschuld fesselte ihn an sie. Schon am dritten Tage seiner Bekanntschaft war er mit seinem Herzen einig: Sie und keine Andere. Zwar kam es zu keiner besonderen Erklärung, es bedurfte derselben nicht. Er besuchte die Geliebte in Raschau in einer armseligen Hütte und freute sich des stolzen Gedanken: „Sie soll durch mich im Aeußern ebenso glücklich werden, wie ich durch sie im Innern.“ Beide wechselten Briefe mit einander, doch stand kein Wort von Liebe in denselben und nur einem seiner liebsten Freunde vertraute er: versprechen werde ich ihr meine Hand nicht, aber sie kann auf mich rechnen. Auch Friederike gab dem beiderseitigen Freunde das Wort, Dinter ohne eigentliches Versprechen unverbrüchlich treu zu bleiben. – Doch für Leipzig paßte die schlichte Erzgebirgerin, die keine andere Stadt als Schwarzenberg und Annaberg gesehen hatte, nicht, daher Dinter’s Entschluß Landgeistlicher zu werden. Seine Studien gingen von nun an nach dieser Richtung, der Eintritt in ein Amt konnte ihm bei der Bekanntschaft seines Vaters nicht schwerwerden, und doch kam es schon in seinen Candidatenjahren anders. Lassen wir ihn selbst erzählen.

„Die Erinnerung ist mir nach vierzig Jahren noch schmerzlich. Ich saß als Hauslehrer ruhig an meinem Tische, mein Zögling bei mir. Da trat der Bruder meiner Geliebten herein. Ich frage nach ihr. Er antwortet ernst und fest: „Sie befindet sich sehr wohl. Wir wollen aber davon erst reden, wenn Dein Zögling fort ist.“ Ich sende diesen zur Mutter, und nun fällt Freund Peck mir um den Hals mit den Worten: „Meine Schwester ist todt. Nicht eine Viertelstunde hat sie ihren Tod vorausgesehen. Ihr ist etwas unwohl. Sie bittet die Mutter um Thee. Diese bereitet ihn, und da sie ihn bringt, liegt die Tochter entseelt auf dem Bette.“ Dinter, der von der schwärmerischen, innig verehrten Mutter zu empfindsam erzogene Jüngling, mit Werther und Siegwart im Herzen, war untröstlich, seine Vernunft siegte nicht, wohl aber reifte der Gedanke in ihm: „Da es diese nicht ist, soll es auch keine Andere sein.“ Er beschloß unverheirathet zu bleiben und – blieb es. Der Greis urtheilt über den Entschluß des Jünglingn anders: „Jetzt fühle ich es selbst, daß dieser Entschluß Thorheit war, und ich rathe es keinem Jünglinge, mir darin nachzufolgen. Ich hätte der Erde und dem Himmel die geistigen Wesen geben sollen, die ich beiden schuldig war. Aber – der Jüngling denkt anders als der Greis, der Greis anders als der Jüngling.“ Er nahm sich später, wie wir im Fortgange sehen werden, einer ziemlichen Anzahl strebsamer Jünglinge an, opferte denselben einen beträchtlichen Theil seiner Einnahme, adoptirte den Königsberger Arzt Dr. Dinter, den Sohn eines seiner Gehülfen im Lehrfache, und erklärte in jovialer Weise: „Es sei dies Junggesellensteuer!“ Nur einmal reiste er nach Raschau, um an dem Grabe der Verewigten zu weinen, welcher die treue Liebe und Anhänglichkeit seiner Freunde und Schüler, meist Lehrer im obern Erzgebirge, in einem schlichten eisernen Kreuze ein Denkmal errichtete, mit der Aufschrift: „Zu Dinter’s Andenken, den 23. Juli 1831“ und auf der Rückseite „Friederike Peck 1786.“

Wir erzählten diese Episode ausführlicher, sie charakterisirt den Mann und ist für seinen künftigen Lebensgang nicht ohne Bedeutung. Dinter verweilte fast vier Jahre auf der Universität, erwarb sich im Examen die erste Censur und trat im Jahre 1782 als Hauslehrer in eine adelige Familie in der Nähe seiner Vaterstadt. Fünf Jahre verweilte er in diesem Hause, wo er mit vieler Liebe und Vertrauen behandelt ward, obgleich er später selbst bekennt, er habe nicht gewirkt, was er konnte und sollte, namentlich habe seine oft leidenschaftliche Hitze die angestrebten Erfolge nicht selten getrübt.

Im Herbst des Jahres 1787 ward Dinter Pfarr-Substitut zu Kitscher bei Borna, einer der besten Pfarrstellen jener Gegend. Er bekam sie, ohne darum nachgesucht zu haben, indem der Senior sich ihn vom Patron erbat und erhielt. So lernen wir ihn zuvörderst als Geistlichen kennen. Schon früher hatte Dinter Religion und Theologie wohl von einander unterschieden, und darum mied er alle theologischen Untersuchungen auf der Kanzel, predigte seinen Gemeinden das einfache Bibelwort mit Kraft und Wärme, war dabei, wie die von ihm herausgegebene Predigtsammlung für Landgemeinden beweist, rein praktisch und paßte seine Vorträge den Kräften und Bedürfnissen seiner Zuhörer an. Diese Popularität lernte Dinter von seiner – Magd. Hören wir ihn selbst. „Als mein Senior todt war, diente bei mir die 42jährige „Bauers Christine“. Kenntnisse besaß sie nicht, das Lesen ausgenommen – aber sie hatte gesunden Menschenverstand. Ihr las ich zuweilen Freitag Abends ganze Stellen aus meiner Predigt vor, und ließ mir dann von ihr sagen, was ihr deutlich und was ihr undeutlich gewesen war. Was die einzelnen Ausdrücke betrifft, so mischte ich sie nicht selten in das Gespräch mit meinen Bauern ein, das ich immer im Tone der Gebildeten hielt, wobei ich bald bemerkte, was sie verstanden und was sie nicht verstanden hatten. Dadurch gewöhnte ich sie auch an den Ton der Predigten und der Bücher.“ Er selbst spricht sich über seine Predigten also aus: „Ich habe immer gern gepredigt. Von meiner ersten Predigt an bis auf die, welche ich achtundvierzig Jahre später in Königsberg hielt, habe ich jede mit Freuden gehalten. Mir schwebt immer der Gedanke vor Augen: der Handwerker und der Landmann, sie haben wöchentlich nur diese einzige Stunde, in der etwas für die Fortbildung ihres Verstandes, ihres Willens, ihres Gefühls absichtlich gethan wird. Pfarrer, wenn du ihnen diese entziehst, ist es grausam. Wenn du nicht Alles thust, um sie ihnen so nützlich als möglich zu machen, so ist es gewissenlos.“ Jesu Bergpredigt und Paulus’ Rede in Athen waren von jeher Dinter’s Ideal. Beide Männer philosophiren da nicht über das Unbegreifliche, sie winseln nicht im Meere der Gefühle schwimmend, sondern vereinigen Licht, Kraft, Innigkeit. Nie betrat er die Kanzel ohne gründliche Vorbereitung, jede in den ersten zehn Jahren seines Pfarramtes gehaltene Predigt ward nach reiflicher, mehrtägiger Ueberlegung am Freitag wörtlich niedergeschrieben und wörtlich gelernt. Da ist es freilich nicht zu verwundern, daß er stets in einer vollen Kirche zu predigen hatte, und daß, besonders auf seinem zweiten Pfarramte (Görnitz bei Borna, von 1807–16), die Zuhörer oft drei bis vier Stunden weit herbei kamen, um den gewaltigen Mann zu hören, ja daß man die Kirche vor ihrer Oeffnung belagerte und an ihrer Außenseite nicht selten Leitern anlegte. Dabei vermied Dinter nie, sich mit seinen Gemeindegliedern über die gehörte Predigt zu unterhalten, und erfuhr auf solche Weise, was er richtig und falsch gemacht hatte. So hatte er früher die Gewohnheit, die Ideen streng auf einander zu bauen, sodaß nur die gebundenste Aufmerksamkeit ihm zu folgen vermochte. Ein Schuhmacher in seiner Gemeinde machte ihn auf diesen Fehler aufmerksam. Dinter besuchte ihn am Sonntag Abend. „Nun, Meister, er hat heute meine Predigt recht aufmerksam angehört.“ Er: „das war eine meschante Predigt.“ „Warum das?“ Er: „Ja, sehen Sie nur, wie mir’s ging. Ich hatte einmal ein paar Minuten nicht Acht gegeben, dann wußte ich gleich in der ganzen Predigt nicht mehr, woran ich war.“ – Dies führt uns auf Dinter’s Umgang mit seinen Gemeinden.

[126] Es mag in früherer wie in unserer Zeit gar Manche gegeben haben – besitzen wir doch selbst Schriften über diesen Gegenstand – welche vom Pfarrer verlangen, sich vom Volke in möglichster Entfernung zu halten, damit er wie ein halber Heiliger in einem sein Haupt umschwebenden Nimbus von seiner Gemeinde verehrt werde. Diese müsse ihn fast nie anders als im feierlichen Ernste, in der Amtskleidung sehen. Es bedarf keiner ausführlichen Erwähnung, daß Dinter diese Ansicht nie theilte. Er wollte von seiner Gemeinde nie als Hoherpriester Aaron angestaunt, sondern als „Vater Dinter“ geliebt werden. Wie der Arzt den Patienten kennen muß, dem er helfen soll, so besuchte Dinter, namentlich in den kürzeren Tagen, wo der Bauer oft nicht weiß, was er am Abende vor langer Weile anfangen soll, seine Bauern. Doch kam er erst, nachdem er zu Hause gegessen hatte, damit sein Besuch die Hausfrau nicht in Verlegenheit bringen, und der Bauer auf den Gedanken kommen könne, der Pfarrer wolle von ihm tractirt sein. Nur eine Tasse Kaffee, ein Glas Milch nahm er an, damit man umgekehrt nicht meine, der Pfarrer sei zu stolz, Etwas bei ihnen zu genießen. So besuchte er Reiche und Arme, den reichen Rittergutsherrn, wie den Hirten, Keiner durfte vor dem Andern einen Vorzug haben. Nur solche, die in schlechtem Rufe standen, besuchte er nie. Der Einfluß dieses steten Umgangs mit der Gemeinde, ja dieses Verwachsen mit derselben, war ungemein segensreich. Man lernte seine Sprache verstehen, und Dinter hatte Gelegenheit, Viele für das Höhere und Edlere zu gewinnen, nicht zu gedenken, daß er bei solchen Besuchen die Anschauungsweise, die Wendungen und Begriffe des Volkes, seine Vorstellungen, sowie das, was auf dasselbe den meisten Eindruck machte, und seine Vorurtheile kennen und letztere sofort berichtigen lernte. Hier konnte Manches gesagt werden, was auf die Kanzel nicht gehörte, und Manches in einem Tone, den der öffentliche Unterricht nicht verträgt.

So gewann er die Liebe seiner Leute und ward unter ihnen allmächtig. Er gewann Einfluß auf die Kinderzucht, bemerkte und verbesserte ihre Fehler, zog die Kleinen an sich, nahm sie auf den Schooß, wurden sie größer, zwischen die Kniee und gewann so ihre Herzen, noch ehe sie in die Schule kamen. Durch seine Besuche zerstörte er in den meisten Familien den Aberglauben, insbesondere den Teufelsglauben.

Als Hausfreund seiner Gemeinden hatte Dinter oft Gelegenheit, als Schiedsrichter und Versöhner bei Zwistigkeiten zugezogen zu werden, und er hatte die Freude, daß es in den zwanzig Jahren seiner Wirksamkeit als Pfarrer nie zu einer Ehescheidung gekommen ist, so nahe dieselbe auch bisweilen schien. Das hohe Ansehen, in welchem er bei den Gemeinden stand, die Liebe und Verehrung wirkten, daß sein zur rechten Zeit mit Ernst und Weisheit geredetes Wort auch eine gute Stätte fand, was vom Zorneseifer unserer Zionswächter nicht gesagt werden kann, die da nur meinen, Ehescheidungen durch Verweigerung der Trauung Geschiedener verhüten zu können.

Dinters Umgang mit den Gemeindegliedern verhütete die Processe. Möge er selbst erzählen, wie er es angefangen: „So lange mein Bruder Gerichtsverwalter war, ließ ich durchaus keinen Proceß aufkommen. Ich versöhnte entzweite Familien. Mein edler, die Jurisprudenz idealisirender Bruder Rudolph war mit mir über folgende Punkte einig: Wenn’s Spectakel gibt, so mengt sich der Pfarrer, so lange die Gemüther entbrannt sind, nicht in die Sache. Vernunft und Leidenschaft passen nicht zusammen. Sie liefen also, um ihre Feinde zu verklagen, zu meinem Bruder. Dieser sprach: „Geht heute nach Hause! Ich habe nicht Zeit zum Registriren. Kommt auf den Gerichtstag, es soll Geld genug kosten!“ Sie gingen. Inzwischen beruhigten sich die Gemüther. Der Pfarrer besuchte sie Abends und – wenn der Gerichtstag kam, war Alles wieder vergessen. Meines Bruders Nachfolger war ein reicher und guter Mann. Er konnte leben, ohne meine Bauern zu drücken, und würde sie, auch wenn er’s zu Brode gebraucht hätte, nicht gedrückt haben. Kurz nach meines Bruders Tode entstand wieder [127] ein Familienkrieg. Ich kannte meinen neuen Gerichtsverwalter noch nicht und war behutsam genug, mich nicht darein zu mischen.

Der Mann nahm die Sache streng, beide Parteien hatten sich beleidigt und mußten ziemlich viel zahlen. In Gegenwart des Gerichtsherrn sagte mir der Gerichtsverwalter: „Ich hab’s mit Fleiß so gemacht. Nun sehen die Leute, was es kosten kann und kommen nicht gleich um jeder Kleinigkeit willen zum Gerichtsverwalter gelaufen.“ Ich sahe, mit welch gutem Manne ich es zu thun hatte und setzte mein Versöhnungswerk unter ihm fort, wie ich’s unter meinem Bruder angefangen hatte. Summa: So lange ich Pfarrer war, kam nie ein Proceß mit der Herrschaft, nie einer mit mir, selten einer unter den Bauern vor.“

Dinter bekam als Besoldung von seinen Bauern eine Naturalabgabe, den Zehnten. Betrug und Verdrießlichkeiten sind hierbei keine Seltenheiten, gleichwohl bekennt er, daß er fast nie betrogen worden sei. Als ein Mann die Zehntgarben zu auffallend klein gebunden hatte, ließ sie Dinter vor sein Haus fahren, abladen und sagte: „Lieber R., ich sehe, Er hat dies Jahr eine so schlechte Ernte gehabt, daß Er kaum auskommen wird. Von Ihm nehme ich diesmal keinen Zehnten.“ R. schämte sich und machte es nie wieder so. Mehrere Bauern riethen ihm selbst, von welchem Felde er den gesetzten Zehnten nehmen sollte, weil da das Beste stehe. „Was ich bekam,“ erzählt er, „erhielt ich gut und reichlich. Der Bauer ist von Natur nicht undankbar. Die Leute sahen, daß ich’s mit ihnen und ihren Kindern gut meinte, darum meinten sie es mit mir auch gut. Als mein Adoptivsohn vier oder fünf Jahr alt wurde, sagte ich: „Nun gründe ich für Dich eine Sparbüchse. Wo ich bei Taufen, Trauungen und Begräbnissen mehr bekomme, als mir gebührt, so kommt der Ueberschnß in Deine Sparbüchse.“ Und das betrug im Durchschnitt gegen zwanzig Thaler jährlich, trotzdem daß die Kirchfahrt (Görnitz) sehr klein war. Doch dies waren die kleinen Beweise von Liebe, welche er erntete.

Dinter erzog sich eine Gemeinde, von welcher er bekennen mußte, daß die Leute verständiger und besser geworden wären, unter denen er nicht umsonst gearbeitet habe. Er bildete Bauern, welche das Ganze einer Predigt zu übersehen vermochten und denen gegenüber er den Ton seiner Vorträge steigern konnte, und trotzdem verstanden wurde. Die Gemeindeversammlungen, früher fast immer stürmisch in ihrem Verlaufe, waren in den letzten Jahren es fast nie; die Gescheidten gaben den Ton an. Hier ein Beispiel: Der Richter Köhler war, weil er seine beiden Güter durch Brand verloren hatte, in Schulden gerathen. Ein reicher, etwas heftiger Bauer war der Gläubiger. Derselbe will auf der Gemeindeversammlung herrschen und das Gute hindern. Köhler steht auf. „Du, N., ich weiß, daß ich Dir 500 Thaler schuldig bin; Du setzest mich in Verlegenheit, wenn Du mir das Capital kündigst. Aber hier bin ich Richter und darf nicht darnach fragen. Du schweigst oder redest vernünftiger. Machst Du die Gemeinde unruhig, so zeige ich’s dem Gerichtsverwalter an. Nun kündige mir das Capital, wenn Du willst.“ N. schämte sich, hielt Ruhe und kündigte das Capital – nicht. Derselbe Köhler starb leider zu früh. Ein junger Mann (Steinbach) ward sein Nachfolger. Dinter ging zu demselben, um ihn zu würdiger Verwaltung seines Amtes zu ermahnen. Steinbach: „Herr Pfarrer, ich hab’s bei meiner Bereitung Gott geschworen, ich will ein Richter werden, wie er sein soll.“ – Ein solcher Mann bedurfte keiner Ermahnung. Selbst Scenen kamen vor, welche dem gebildetsten Menschen Ehre machen würden. Nur eine davon: Schumann hatte einen Streit über das Mein und Dein mit seinem Nachbar Stäude. In solche Streitigkeiten mischte sich Dinter nie, so lange kein Haß aufglühte. Hier mußte die Gerechtigkeit entscheiden. Schumann war verreist. In seiner Abwesenheit kommt bei Frommold Feuer aus und Schumanns Haus brennt mit ab. Stäude’s Haus bleibt stehen. Dinter begegnet Stäude: „Freund, was wird Er thun?“ Stäude: „Was sich gehört.“ Dinter war in banger Erwartung. Doch was geschieht? Stäude reitet Schumann entgegen, erzählt ihm, was in seiner Abwesenheit vorgefallen und spricht: „Jetzt bist Du im Unglücke, mich hat Gott verschont. Du ziehst in mein Haus und ich helfe Dir, so gut ich kann. So lange Du bauest, ruht unser Proceß. Wenn Du aufgebauet, kannst Du ihn wieder fortsetzen, wenn Du willst.“

Dinter widmete den Kranken seiner Gemeinde die größte Sorgfalt und Aufmerksamkeit und entfernte dadurch nicht nur alle Quacksalbereien, sondern konnte zu rechter Zeit Rath ertheilen. War der Kranke genesen, so veranstaltete er in der Familie ein Genesungsfest, dessen segensreiche Folge oft zeitlebens blieb und ihm die Herzen der Familie gewann. Sein Tagelöhner Kürschner war gefährlich krank gewesen und genesen. Er war einer der redlichsten Männer des Dorfes. Da er wieder an seine Arbeit gehen wollte, versammelte er, vom Pfarrer aufgefordert, in seiner Stube seine Familie und seine Nachbarn. Dinter sang mit ihnen das Lied: „Dir dank ich für mein Leben“, zergliederte drauf die Hauptgedanken dieses Kirchengesanges und rührte dadurch alle Anwesenden auf das Innigste. Der Schlußgesang: „Nun danket Alle Gott“ wurde wohl selten mit solcher Andacht, wie in dieser Familie, gesungen. Kürschner hatte Dinter dafür so lieb, daß er bei seiner Abreise von Görnitz nach Königsberg bis in den Nachbarort neben dem Wagen herlief und, als er ihn bat, doch umzukehren, ausrief: „Ich muß Sie noch so lange sehen, als ich kann, ich sehe Sie doch nachher nie wieder.“

Wir könnten viele derartige Züge aus Dinter’s Amtswirksamkeit anführen, Züge, welche beweisen, was ein Geistlicher mit rechter Weisheit, mit Gottes- und Menschenliebe im Herzen, in seiner Gemeinde zu wirken vermag – und daß das Eifern mit Unverstand, wie wir es leider nur zu oft finden, den beabsichtigten Zweck geradezu verfehlt – doch wir wollen den Leser nicht mit zu vielen Einzelheiten ermüden, so interessant diese einfachen Dorfgeschichten auch immer sein mögen.

Dinter sah Früchte seiner Wirksamkeit im Leben seiner Gemeinde. Er selbst sagt: „Ich habe in zwanzig Jahren keinen Selbstmörder, keinen Hauptverbrecher (einige Kleinigkeitsdiebstähle abgerechnet) gehabt. Wohlthätigkeit war der Geist meiner Gemeinden.“ Liebe und Hochachtung begegneten ihm auf jedem Schritte. Noch im Jahre 1844, den 1. September, dreizehn Jahre nach Dinter’s Tode, errichteten die Gemeinden Görnitz und Hartmannsdorf aus eigenem Antriebe ihrem vormaligen, vor 28 Jahren von ihnen geschiedenen Pfarrer, ein Denkmal neben seiner Wohnung mit der einfachen Inschrift:
Dinter wirkte hier von 1807–1816.

Als bei der vor einigen Jahren in dieser Gemeinde abgehaltenen Kirchenvistation die Visitatoren den kirchlichen Sinn belobten, erwiderte man, daß dies noch von Dinter her so sei, und auf die Frage, welche Wünsche die Gemeinde habe, erklärte man: Man möge dem Schullehrer gestatten, ihnen gelegentlich die seit mehreren Jahren in Sachsen zum Vorlesen in Kirchen verbotenen Predigten ihres lieben Vater Dinter vorzulesen, denn obwohl sie alle daheim seine Predigten besäßen, so verstehe der Lehrer sie doch ganz anders vorzulesen. Wir kennen die Antwort der Visitatoren nicht.

Haben wir bisher den in Pflichttreue und Liebe wirkenden Geistlichen in einzelnen Zügen kennen gelernt, so ist dies nur die eine Seite seiner Thätigkeit, dem Pädagogen und Beamten sei der Schluß unseres Artikels gewidmet.

So segensreich Dinter’s Wirksamkeit als Landpfarrer sein mochte, so ward sie dennoch von der des Volksschulmannes, Erziehers und pädagogischen Schriftstellers weit übertroffen. Schon seit seinem 14. Jahre war Unterrichten sein liebstes Geschäft gewesen. Dieser Lieblingsneigung folgte er in Grimma und Leipzig, als Hauslehrer wie als Pfarrer. Aus Campe’s Seelenlehre erlernte er die von ihm so meisterhaft geübte Katechetik, die Menschenbildnerin, wie er sie nannte. Durch sie feierte er seine schönsten Siege, verwandelte den Bauerknaben in ein klar denkendes Wesen. Als er nach seiner Probepredigt in Kitscher in der Kirche öffentlich katechisirte, sagte sein Freund, der Superintendent Nitzsch: „Ihre Predigt war gut, aber das Katechisiren müssen Sie anders lernen, so kommen Sie mit Bauerjungen nicht fort.“ Dinter: „Herr Superintendent, Eins von Beiden! Entweder ich lerne anders katechisiren, oder die Bauerjungen lernen anders antworten.“ – Ehe ein Jahr verging, war der letzte Fall eingetreten. Dinter besuchte die ihm untergebenen Schulen fast täglich und übernahm in ihnen besondere Unterrichtsfächer. So lernten Schüler und Lehrer zugleich. „Viel und Vielerlei wissende Bauern,“ erklärte er, „habe ich niemals erzogen, niemals erziehen wollen, wohl aber gebildete Menschen, das Praktische klar erkennende Christen. In den ersten Jahren bereitete ich mich sorgfältig auf jede Stunde vor, um es später nicht mehr nöthig zu haben.“ Die Kinder mußten denken, sprechen, fühlen, frei und fröhlich sein lernen. Daher wurden, den Religionsunterricht ausgenommen, selbst scherzhafte Antworten erlaubt, sobald Witz und Gedanke darinnen war. Hiervon [128] nur eine Probe. Der Rittergutsbesitzer von Kitscher ließ auf dem Dorfplatze ein neues Gefängniß anlegen, das Volk nannte es Hundeloch, die Gebildeten Gehorsam. Dinter begegnete dem Sohne des schon früher erwähnten Schuhmachers Zahn und fragte ihn rasch: „Jahn, was bauen sie hier?“ „Das vierte Stück der Buße.“ Dinter: „Junge, wie meinst Du das?“ „Herr Pastor, Sie sagten ja in der Schule, zur Buße gehören vier Stücke: Erkenntniß, Reue, Glaube und neuer Gehorsam. Das ist der neue Gehorsam.“ Solche Freiheit bildete ihm entschlossene Menschen.

Einer seiner liebsten Schüler war im Begriff, ein braves, liebes Mädchen zu heirathen, deren Eltern im Rufe der Unehrlichkeit standen. Dinter begegnet dem Bräutigam, ergreift ihn bei der Hand, sieht ihm scharf in’s Gesicht und spricht: „Lieber Sohn, was höre ich von Dir, hast Du Gefahr und Kraft erwogen?“ Er verstand den väterlichen Freund und sprach: „Herr Pastor, verlassen Sie Sich auf mich!“ „Wohl, ich rechne auf Dich.“ Dinter traut das junge Paar, ist beim Hochzeitschmauße, es geschieht nichts Ungewöhnliches. Am andern Morgen, da man eben die Ueberreste des vorigen Tags verzehrt, tritt sein Schüler auf und spricht: „Ich bin nun Euer Schwiegersohn, und werde Euch ehren, wie man Schwiegereltern ehren muß. Aber das sage ich Euch kurz und gut: bringet Ihr mir einen gestohlenen Groschen in’s Haus, so jage ich Euch zum Hause hinaus und lasse Euch, so lange ich lebe, nicht wieder herein.“ Die Eltern erschraken und versprachen nie mehr zu stehlen. Sie hielten Wort. – Dabei verstand der umsichtige Erzieher den Bauern gelegentlich die Frucht seines Wirkens zu zeigen, um sie zu neuen Opfern zu gewinnen.

Das Denken hätte seine Schulen weniger in Ruf gebracht, der Bauer fühlt dies weniger, aber das Rechnen that’s. Ein junger Bauer löste bei Uebernahme des väterlichen Gutes eine Rechenaufgabe im Kopfe, welche der Gerichtsverwalter und zwei Advocaten auf dem Papiere falsch gerechnet hatten. Das machte Aufsehen, und die Bauern schämten sich, eine solche Schule schlecht zu besuchen. „Mein Junge muß fleißig in die Schule gehen,“ erklärte ihm ein reicher Bauer, „ich werde es ja nicht leiden, daß der Bettelmannsjunge mehr lernt, als meiner.“ Die Bauerkinder machten durch ihre Aufführung Dinter alle Ehre. Was Rochow von sich sagt, als er von dem Rekahn’schen Schulwesen Abschied nahm, daß aus seiner Schule ordentliche Hausväter, treue Unterthanen, gute Menschen hervorgegangen seien, das konnte Dinter auch von seinen Schülern sagen. Dieselben waren gewöhnt, Predigten nachzuschreiben, den Religions-Unterricht als Freund ihres Lebens zu betrachten, ihn zu verstehen, zu empfinden, am Verstehen und Empfinden ihre Freude zu haben. Und die Folge? Sie kamen gern in die Kirche, in die öffentlichen sonntäglichen Kirchenexamina und bestätigten Dinters pädagogischen, freilich zu oft völlig mißachteten Grundsatz: der bloße Lerner (Gedächtnißmensch) geht von Jahr zu Jahr zurück; die gebildete Kraft kommt auch nach vollendeter Schulzeit von Jahr zu Jahr weiter, sie ist ein Magnet, der desto mehr anzieht, je mehr er geübt wird. Dinter hat nie den Unterricht über Oekonomie in den Schulen eingeführt, und doch sind tüchtige Landwirthe aus seinen Anstalten hervorgegangen. Er lebte des Glaubens: „Lehret den künftigen Bauer denken, und entfesselt ihn von der Anhänglichkeit an das Alte, so wird er die gebildete Kraft auch in den Geschäften anwenden, wo es auf Broderwerb ankommt. Schleifet nur das Messer, dann wird es auch Brod schneiden.“ Daß aber über der Verstandesbildung die des Gemüthes nicht unbeachtet blieb, weiß Jeder, welcher Blicke in Dinters Wirkungskreis gethan oder seine Schriften studirt hat. Hier nur ein Beispiel: Ein vater- und mutterloser Dorfknabe war confirmirt worden und schrieb in das ihm von Dinter zum Eintragen eines Gedankens übergebene Stammbuch: „Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf!“ Und da er dies geschrieben, fiel er dem väterlichen Freunde und Lehrer um den Hals und rief weinend: „Und der Herr Pastor, mein zweiter Vater, verläßt mich auch nicht.“ Licht und Wärme haben in der Erziehung gleiche Berechtigung, keines darf allein gepflegt werden!

[142] Doch diese segensreiche Wirksamkeit Dinter’s sollte weitere Kreise ziehen. Erziehen und Unterrichten war von jeher seine Leidenschaft. Schon in Kitscher nahm er heranreifende, talentvolle Knaben und Jünglinge in sein Haus und bildete sie zu Schullehrern. Daß sie treu und gewissenhaft unterrichtet wurden, bedarf nicht der Erwähnung, allein Dinter that noch mehr. Einer seiner Lieblingsschüler, der als pädagogischer Schriftsteller, wie als Bildner von mehr als hundert Lehrern bekannte Bauriegel in Pulgar bei Leipzig, mag es uns erzählen: „Alle Zöglinge Dinter’s waren arm, oft sehr arm, Dinter nahm sie in sein Haus und sein Institut auf, meist vier bis fünf, da ihm für mehr der Raum fehlte, und reichte ihnen Allen – Wohnung, Heizung, Kost, Unterricht, Bücher, Kleidung, ja selbst Taschengeld. Nicht ein einzigen Mal ließ er bei den vielfachen Geldausgaben einen Unwillen merken, im Gegentheil war er stets heiter, wenn er Geld zu Kleidungsstücken hergeben mußte. Endlich bekam jeder Zögling von Dinter noch jährlich zehn Thaler, damit er beim einstigen Eintritt in ein Amt die erforderlichen Ausgaben für Amtskleidung bestreiten könne. Ich selbst, der ich nur 11/4 Jahr bei Dinter war, erhielt zwanzig Thaler“. Merke, Leser: dies that für arme Jünglinge und durch sie für die Menschheit der Mann, dem die Frommen und Gläubigen unserer Tage die Christlichkeit absprechen, den sie selbst Jugendverführer nennen!

Die tüchtige Bildung dieser jungen Leute machte Aufsehen, ja Dinter war durch seine uneigennützige und segensreiche Wirksamkeit dem berühmten Theologen und Kanzelredner Reinhard in Dresden bekannt geworden, und erhielt von ihm die Mittheilung, daß man geneigt sei, ihm das Seminar-Directorat in Friedrichstadt-Dresden anzuvertrauen. Diese Anstalt befand sich, als Dinter sie untersuchte, in einem erbärmlichen Zustande, und Reinhard verbarg ihm die Lage der Dinge nicht. Der siebenunddreißig Jahre zählende Dinter sagte zu seinem Gönner: „Herr Oberhofprediger, je größer die Schwierigkeiten, desto größer die Freuden des Sieges.“ Man legt ihm seinen Geschäftskreis vor: „Gott sei Dank, zweiunddreißig Stunden wöchentlich Unterricht und Aufsicht über fünf Schulclassen! Dies war Trost für mein Herz. Desto schlimmer stand’s um meine Besoldung.“ Der Pfarrer zu Kitscher konnte dem Oberhofprediger vorrechnen, daß er als Pfarrer gegen 1000 Thaler, als Seminardirector aber nur 700 Thaler Einkommen habe. „Sie machen,“ sprach Dinter zu demselben, „heute eine sonderbare Besetzung. Ich erhalte 250 Thaler weniger, als ich habe und verdoppelte Arbeit dazu; aber ich komme doch.“ Dinter ging nach zehnjähriger Wirksamkeit zum Leidwesen seiner ganzen Gemeinde 1797 nach Dresden als Seminardirector und setzte hier als Jugendlehrer – er war zugleich Rector einer Bürgerschule – und Lehrerbildner sein Lehramt fort. Wir werden ihn besonders in letzter Eigenschaft kennen lernen.

Seinem im kleinen Kreise befolgten Grundsatze: „Bei dem Seminaristen macht nicht die Menge der Kenntnisse den Mann, sondern die Klarheit, die Bestimmtheit und die Gewandtheit“ blieb er auch hier treu. Nie kam es ihm darauf an: Wie viel in einer Stunde? er ging nicht eher weiter, bis das obere Drittel seiner Seminaristen das Vorgetragene bestimmt, vollständig und in gutem Deutsch wiedergeben konnte. Er bekam hierdurch nicht die gelehrtesten Seminaristen, aber gute und gewandte Lehrer. „Der Seminarist bedarf nirgends das vollständige, Alles bis in’s Kleinliche durchführende System. Er muß als gebildeter Dilettant überall das Wichtigste haben und geben können. Wenn er bei der Candidaten-Prüfung das formosanische Teufelchen, das Armadill und dergleichen nicht genau kennt, so zürne ich nie, oder frage vielmehr nicht nach solchen Dingen, aber Unbekanntschaft mit dem Baue des menschlichen Körpers würde ich nie verzeihen.“ Gleich wichtig, wie Dinter’s Unterricht, war auch sein Umgang mit den Seminaristen. Dieselben waren ihm nicht Knaben, sondern Jünglinge, die nach wenigen Jahren Lehrer sein sollen. Nie despotisirte er den Jüngling, wußte er doch, daß er diesen dadurch reizte, ihn zu betrügen. „Lieber, mach’s so, es gereicht zu Deinem Besten.“

Freiheit, Arbeit und Liebe waren nächst dem religiösen Sinne die Hauptmittel, durch welche der große Lehrerbildner seine Schüler zu führen suchte. Nie sagte er außer der Lectionszeit: „Wo seid ihr?“ Nur gegen neun Uhr mußten seine Leute zum Abendgebete zu Hause sein, wer nach dieser Zeit nochmals ausging, mußte um zehn Uhr zurück sein. Nach dem Gebete blieb Dinter meist noch eine Stunde im Auditorium, bald studirend, bald am Ofen stehend, die Seminaristen in freundschaftlichem Gespräch um ihn herum. Da gab es bald heitere, bald ernste Dinge, und Schreiber dieses, welcher viele Schüler Dinter’s persönlich gekannt (sie sind fast alle todt) und als tüchtige Männer im Amt und Haus schätzen gelernt hat, sah, wie sich das Auge der Greise verklärte, gedachten sie jener Tage. Mit innigster Liebe hingen sie noch dem Manne an, der ihnen einst väterlicher Freund und Bildner zum Schulamte war und nun längst im Grabe ruht.

[143] In Bezug auf Glaubens- und Sittenlehre blieb Dinter, was er in Kitscher gewesen war, evangelischer Christ, ohne in’s Schwärmerische überzugehen. In verfänglichen Punkten stellte er beide Meinungen neben einander, jede mit ihren Gründen, ohne sich für die eine oder andere zu entscheiden. Während des Gesprächs am Ofen, wo es jedem Seminaristen frei stand, sich unbefangen zu äußern, sagte einmal einer derselben: „Ja, Herr Director, Allem was Sie sagen, kann man nachschreiben, aber Gesicht und Ton nicht, mit dem Sie es sagen.“ „Und doch,“ erwiderte Dinter, „würden auch diese mich nicht verwerflich machen.“ Auf Bibellectionen verwendete Dinter als echter Lutheraner viel Zeit und Kraft. Sein von den Orthodoxen und Hochkirchlichen geschmäheter und verworfener Hauptgrundsatz stand schon damals fest: „Die Glaubenslehre muß aus der Bibel geschöpft, nicht aber die Bibel nach der Norm bestimmter Formeln erklärt werden. Vernünftige Bibelerklärung muß die Seele der lutherischen Schule bleiben.“

Was für Leute unter Dinter in Dresden gebildet wurden, hat das allgemeine Aufblühen der sächsischen Schule in seiner Zeit auf’s Klarste dargethan. Deshalb baten städtische wie ländliche Schulpatrone um Dresdner Seminaristen. Es waren frische, kräftige Leute, deren Geist nicht durch strenge Seminarclausur und Gedächtnißkram gedämpft worden war. Dinter lebte des Glaubens: „Wer vom Jüngling zwischen 17 und 22 Jahren zu viel Ernst verlangt, ist wenigstens kein Menschenkenner; Possenmachen ist ihm Bedürfniß. Befriedige ich nun dies Bedürfniß auf geniale Weise, so bewahre ich ihn vor Abwegen. Es ist besser, ich scherze mit den Seminaristen, als ein Spötter des Heiligen, der Gottheit, der Bibel, der Tugend. Meine Absicht wurde erreicht, die jungen Leute waren in den Freistunden gern bei mir, und da sie unter meinen Augen fröhlich sein durften, so suchten sie die Freude nicht in der Ferne.“

Der Erfolg hat seine Bemühungen vollständig gerechtfertigt. In dem von dem gelehrten Reinhard abgehaltenen Examen ging’s trefflich, denn auch dieser hielt auf Kraftbildung mehr, als auf die Masse der Kenntnisse. Die Kühnheit, mit welcher die Seminaristen zuweilen Reinhards Einwendungen beantworteten, mit der sie gegen ihn disputirend auftraten, wurde von Manchen gemißbilligt, ja von den Autoritätsmenschen für gefährlich angesehen. „Gott, was wollen das für Schullehrer werden! Sie widersprechen dem Oberhofprediger,“ sagte Reinhards Küster. Dinter erzählte dies Reinhard bei einem Abendbesuche. „Sehen Sie,“ erwiderte dieser, „es ist doch gut, daß der Küster nicht Oberhofprediger ist, und ich Küster. Dieser hätte Ihrem Schütz offenbar den Repuls gegeben, bei mir erhält er die Eins.“ Dinter, von der allgemeinen Gunst getragen, trat gegen Vorgesetzte beherzter auf, als mancher Andere es gethan hätte. Man verzieh es ihm, da man seine Tüchtigkeit und seine Erfolge nicht ableugnen konnte. Einer von denen, die ihm zunächst standen, wollte ihm in einer Sache, die er verstehen mußte, Vorschriften machen. „Sie müssen –“ fing er an. Dinter unterbrach ihn: „Ich bin nach Dresden gekommen, nicht weil ich Dresden brauchte, sondern weil Dresden mich brauchen zu können glaubte. Ich muß nichts, als was ich will.“

Gleichwohl verließ Dinter 1807 nach zehnjährigem Aufenthalte aus Gesundheitsrücksichten Dresden. Man trug ihm eine Superintendentur an, doch schlug er sie aus und bat Reinhard um die eben erledigte Pfarrstelle zu Görnitz bei Borna. Am Abende des entscheidenden Tages fragte er bei diesem an, ob er Görnitz erhalten habe. Reinhard, äußerst gütig: „Nur mit Mühe haben Sie es erhalten, man schämte sich fast, Ihnen nichts Besseres zu geben.“ Allerdings betrug das Einkommen dieser Stelle nur 500 Thaler. Der Abschied von Dresden war schmerzlich, viele seiner Seminaristen begleiteten ihn bis Meißen. Dinter’s Wirksamkeit in Görnitz ward durch den Brand der Pfarrwohnung, sowie 1813 durch eine Plünderung durch Kosaken getrübt. In beiden Unfällen zeigte ihm die allgemeine Liebe, wie sehr man ihn ehrte. Er war zweimal um Alles gekommen, und Alles ward ihm, soweit es möglich war, von Freundeshänden bald ersetzt. In Görnitz begründete er eine höhere Bürgerschule und ein Gymnasium, verweilte aber daselbst nur bis 1816, in welchem Jahre er als Schul- und Consistorialrath nach Königsberg berufen ward. Wir haben nun Gelegenheit, ihn als Leiter und Vorgesetzten der Lehrer kennen zu lernen.

Dem um Preußen hochverdienten Oberpräsidenten von Vincke in Münster gebührt das Verdienst, sein Vaterland auf Dinter, der um jene Zeit bereits als pädagogischer Schriftsteller glänzte, aufmerksam gemacht zu haben. Der Staatsrath Nicolovius änderte den Plan und bestimmte Dinter für Königsberg, doch nicht als Regierungs-, sondern als Schulrath. Der Vater des Dichters Körner, mit Dinter von Dresden aus bekannt, führte die Correspondenz und schrieb ziemlich ängstlich, er werde die Sache ja nicht rückgängig machen, weil er nicht den Titel als Regierungs-, sondern nur als Consistorialrath erhalte. Dinter antwortete: „Man nenne mich doch, wie man will, das ist mir gleich viel; man thue nur in Schulsachen, was ich will.“ Die Sache war abgemacht. Man ließ Dinter aus Sachsen ungern ziehen, doch gab es damals noch nicht ähnliche Stellen. Dinter langte den 9. December 1816 in Königsberg an und schwur den 16. December dem neuen Vaterlande Treue. Damals schrieb er dem Minister Altenstein: „Ich will jedes preußische Bauernkind für ein Wesen ansehen, das mich bei Gott verklagen kann, wenn ich ihm nicht die beste Menschen- und Christenbildung schaffe, die ich ihm zu schaffen vermag.“ Er hat redlich Wort gehalten, die Annalen des ostpreußischen Schulwesens können Zeugniß ablegen.

Das Schulwesen Ostpreußens lag noch tief darnieder. Den Armen nach Jesu Vorbild das Evangelium zu predigen, war Dinters Wahlspruch. Kurz nach seiner Ankunft revidirte er auf einer Reise 43 Landschulen und zwei Stadtclassen, und – in keiner von ihnen war auch nur Ein Kind, das einen Brief selbstständig aufsetzen konnte. Nach Königsberg zurückgekehrt, klagte er darüber in der Session. Einer der geistlichen Räthe erwiderte: „So etwas muß man aber auch nicht von Bauerjungen fordern.“ Dinter: „Ich hab’s als Pfarrer in Sachsen gefordert. Ich werd’s als Rath in Preußen auch verlangen.“

Zwölf Jahre später, als er seine Biographie niederschrieb, hatte er 2175 Meilen Wegs auf Revisionsreisen zugebracht, hatte sämmtliche rein deutsche Schulen revidirt und konnte mit Stolz sagen: „Ich hab’s errungen. Auf meiner letzten Revision fand ich unter 67 Schulen nur 7, wo es die fleißigen Schuljungen nicht konnten.“ Seine neuen Landsleute mußten von dem vormaligen sächsischen Dorfpfarrer gar manches bittere Wort hören, wenn sie sich ihres Schulwesens rühmten. Einem angesehenen Geistlichen sagte er in seinem gewöhnlichen Freimuthe einmal geradezu: „Das hiesige Schulwesen hat mich überzeugt, daß es keine Erbsünde gibt.“ „Wie so?“ fragte man. Er: „Wenn es eine Erbsünde gäbe, so müßte das preußische Volk aus lauter Dieben, Räubern, Brandstiftern, Ehebrechern und Mördern bestehen, denn mit eurem Schulwesen habt ihr sie wahrlich nicht abgehalten, dies alles zu werden.“ Seine Vorgesetzten, darunter die berühmten Patrioten aus Preußens großer Zeit: v. Schön und v. Auerswald, sahen seinen Eifer und unterstützten ihn auf das Bereitwilligste. Nicht vier Schulstellen sind in zwölf Jahren wider seinen Willen besetzt worden. In den ersten Jahren erklärte ihm Auerswald: „Sie tragen zu viel vor, Sie müssen Kleinigkeiten gleich selbst abmachen, nur das Wichtige vortragen, um die Session nicht aufzuhalten.“ Dinter: „Excellenz, ich trage jetzt fast Alles vor, damit Sie nach drei Jahren sagen sollen: Dinter trägt zu wenig vor.“ Rechtschaffenheit und Freimuth wußte Dinter allezeit nach oben, väterlichen Ernst und herzliche Liebe nach unten, gegen die ihm untergebenen Lehrer, zu zeigen, sobald diese ihre Pflicht redlich erfüllten. Den Unbrauchbaren und Faulen war er ein Mann des Schreckens. Er kannte alle Lehrer und hatte sie in fünf Classen rubricirt, davon die letzte: Menschenverderber. Keiner verstand so wie er die Geister zu sondiren, Parademänner in den Classen konnten ihn ebenso wenig täuschen, wie einzelne, besonders gepflegte Unterrichtsgegenstände, zumal wenn diese außer dem Kreise des Volksschulunterrichtes lagen, das Wesentliche dagegen fehlte. Zu diesem letzteren rechnete er aber: klare Erkenntniß des Christenthums, ausdrucksvolles Lesen, Briefschreiben, Preisberechnung, Gesundheitslehre und Naturkunde zur Verhütung des Aberglaubens.

Durch Herstellung guter Seminare, unter denen die zu Kleindexen und Mühlhausen seine besondere Freude, sein Stolz waren, gelang es ihm, Musterlehrer zu bilden, welche er in der Provinz vertheilte. Sie wurden die Bildner ihrer Umgebung; sein Umgang mit solchen Lehrern war ein väterlicher. In welcher Weise er mit trefflichen Lehrern verfuhr, mag Folgendes zeigen: Ich nenne alle meine preußischen Seminaristen, so lange ich mit ihnen zufrieden bin „Du“. Wenn ich einen „Sie“ nenne, so ist dies [144] eine bedeutende Strafe. Mein S. war zu gelinde, er konnte kein Kind ernst tadeln. Seine Schule war daher bei der ersten Revision nicht, was eine Seminaristenschule sein soll. Ich nannte ihn bei der Revision „Sie“. Er weinte und schwieg. Nach einiger Zeit besuchte er mich. Ich: „Was wollen Sie bei mir?“ Er: „Ich wollte Sie bitten, meine Schule wieder zu revidiren.“ Ich: „Daß ich mich noch einmal ärgere?“ Er: „Nein! Ich will mir nur das „Du“ wieder verdienen!“ Er verdiente sich nicht nur das Du, sondern auch eine bessere Stelle. Einem jungen Lehrer schrieb er: „Du siehst, ich alter Mann kam heute bei stürmischem Wetter und schlechtem Wege zu Dir. Warum? Weil ich glaube, ich bin Gott für jeden preußischen Bauerjungen Verantwortung schuldig, wenn ich nicht Alles thue, was ich zu thun vermag, um ihn zum Menschen, zum Christen zu bilden. Denke Du auch so! Du hast’s bei Gott zu verantworten, wenn Du nur in einer Stunde eines Deiner Kinder vernachlässigst, nicht Alles an ihm thust, was Du für seine Menschen- und Christenbildung mit angestrengter Kraft zu thun vermagst. Junger Mann, das Vaterland hat Dir ein Werk anvertraut, das kindlichen, das männlichen Sinn fordert. Habe jenen, strebe nach diesem, so wird sich herzlich freuen Dein väterlich gesinnter Freund Dinter.“

So redete ein Dinter mit seinen strebsamen Lehrern; ist’s zu verwundern, daß diese das unmöglich Scheinende leisteten, ihn liebten und ihre Liebe in seiner Weise, in der Beförderung von Menschenwohl darzulegen bemüht waren? Dabei suchte der Freund ihre äußere Lage zu verbessern, wann und wo er konnte. Doch wir müssen hiervon schweigen, und wollen nur noch erwähnen, daß er als Professor der Theologie sich gleicher Liebe von den Studenten zu erfreuen hatte. In seinem Hause lebten acht Studenten und Gymnasiasten, die er zum größten Theil auf eigene Kosten oder gegen ein billiges Kostgeld erhielt, ja selbst studiren ließ; außerdem zahlte er mehrere baare Stipendien an arme Studirende. Es war Junggesellensteuer, zur Strafe dafür, daß er nie geheirathet. Er selbst lebte einfach, trank zu Hause nie ein Glas Wein, kleidete sich einfach, fast zu einfach, wohnte nicht herrlich. „Lachet nur,“ rief er Denen zu, die darüber spotteten! „Meine armen Jungen lachen auch, wenn ich noch einige Thaler zum Weihnachtsgeschenke habe, oder zum Jahrmarkte.“ Wöchentlich arbeitete er 83 Stunden und stand im hohen Alter noch stets früh fünf Uhr auf. Ohne Furcht sah er der Zukunft entgegen. „Sterben?“ spricht er, „nun wahrlich, davor fürchte ich mich nicht. Das Einpacken mag kein angenehmes Geschäft sein, aber Reisen ist wahrlich schön, zumal Reisen in’s Vaterland, zum Vater. Ein Gott, der mir’s hier so wohl gehen ließ, macht alle guten Geister in seinem Himmel glückselig, mich auch. Und wenn er mich droben wieder zum Schulmeister macht, und mir ein Heer Geisterchen für seinen Himmel zu bilden anvertraut, so erfüllt er den heißesten meiner Wünsche, macht mich so selig, daß ich selbst Gabriel und Raphael um ihre Herrlichkeit nicht beneide.“

Und diese Stunde schlug ihm nach einem rastlos thätigen, zum Segen der Menschheit vollbrachten Leben, ganz wie er sich’s immer gewünscht hatte, ohne langes Krankenlager. Den 19. Mai 1831 unternimmt er noch einige Revisionsreisen, kommt den 21. Mai Abends zu einem befreundeten Pfarrer, legt sich zur Ruhe und schläft ungewöhnlich lange. Doch um acht Uhr wacht er auf und arbeitet dann an der damals von ihm herausgegebenen Bibel als Erbauungsbuch. Es zeigen sich Anfälle von Schwindel. Gleichwohl revidirt er noch einige Schulen, will sein Werk in einem dritten Kirchspiele fortsetzen, doch es geht nicht mehr. Man holt ihn nach Königsberg zurück. Ein Nervenfieber gesellt sich zu seinem abgematteten Zustande, nach drei Tagen, den 29. Mai früh sechs Uhr, ist er ein Raub des Todes. Er schlief ruhig und zufrieden ein.

Er ruhe sanft. Er war ein arbeitsamer, guter, religiöser Mensch, ein Christ in des Wortes tiefster Bedeutung. Die deutsche Volksschule hat ihm viel zu danken, jede seiner einundfünfzig zum Theil bändereichen Schriften ist ein Denkmal seines praktischen Geistes. Die theologische Tagesmeinung suchte sie nach Preußens Vorgange vor mehreren Jahren nicht nur aus den Schulen, sondern, Gott sei es geklagt, selbst aus den Lehrerbibliotheken zu entfernen. Die Zeit bricht schon an, wo man rufen muß: „Ist kein Dinter da?“ Mögen die, welche aus seiner Schule hervorgegangen, ihm geistesverwandt sind, fest an seinem Grundsatz halten: „Durch den Kopf zum Herzen, keine Wärme ohne Licht!