Ein Kind des Waldes und seine Schule
Du, mein schönes, deutsches Vaterland, von schneebedeckter Alpenfirn bis wo die Nordsee die grüne Woge rollt, vom rebenumlaubten Rhein bis zu Schlesiens lachenden Landschaften, birgst in deinem Schooße manches holde, poesiegesegnete Thal. Ihr mattenreichen Thäler des felsummauerten Tirols und des Salzkammerguts, ihr tiefschattigen Thäler des waldgrünen Thüringens – wem ginge das Herz nicht auf in lieber Erinnerung; doch wem ginge nicht auch das Herz auf, so er deiner gedenkt, reizende Perle im Kranze deutscher Thäler, smaragdgrünes Tharand!
Am Abhange des ernsten Erzgebirges, in dessen oberen Regionen man den schönen Frühling nur als Sage kennt, wo die Essen dampfen, die Oefen glühen und das Glöcklein des Bergwerks durch todtstille Gegend den wachsamen Ruf ertönen läßt, hat dich die Poesie der Natur hingedichtet als erquickende Oase für Auge und Herz.
Smaragdgrünes Tharand, wenn der Frühling dich mit seinen ersten goldgrünen Locken bekleidet, wie schaust du als junge Frühlingsbraut so lachend aus deinen Bergen; wenn der Sommer
[437]glühend rings auf Berg und Feld ruht und Baum und Strauch verdorren macht, daß die Blätter trübselig herabhangen, welch tiefen, kühlen Schatten bieten deine altergrauen und doch immer kräftig frischen Buchen; und zieht der fruchtreiche Herbst herauf, wie flammen deine Höhen und Waldabhänge in rothem und gelbem Feuer!
Da, wo drei waldreiche, bachdurchrieselte Thäler sich zu einem einzigen vereinigen, ziehen sich die Berge entlang eine Anzahl Häuser, welche von arbeitsamen Gewerbsleuten (meist Schuhmachern, Gerbern und Tischlern) bewohnt werden. Das ist das Städtchen „Tharand“, ehedem und zuweilen noch heut „Granaten“ genannt. Es ist Abend. Vom hochgelegenen Kirchlein tönt die Glocke friedvoll über das Thal. Sinnend schaut der Wanderer über die reiche Waldespracht hinauf nach der im Abendroth glühenden, moos- und epheuumwucherten Ruine des einstigen Schlosses von Tharand. Die Phantasie eines Matthisson könnte diesen Zeugen einer verklungenen Zeit nicht malerischer hinzaubern. Wie ein Gedicht schauen diese zusammengebrochenen und in junges Frühlingsgrün gekleideten Hallen hernieder auf das Geschlecht der Gegenwart.
Noch am Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts war dieses Schloß bewohnt. Die Ahnfrau des dermaligen sächsischen Königsgeschlechts, [438] Sidonie, die Wittwe Albrecht’s, des Stammvaters der albertinischen Linie, verbrachte hier ihre letzten stillen Jahre. Zu ihrem Angedenken führt der mineralische Heilquell Tharands noch heut den Namen „Sidonienquelle“. Während aber dieser Heilquell, der sich noch vor wenigen Jahrzehnten eines zahlreichen Besuchs erfreute, im Laufe der Zeit der großen Concurrenz deutscher Bäder hat weichen müssen, sprudelt im genannten Städtchen seit fünfzig Jahren ein geistiger und wissenschaftlicher Quell in um so erfreulicherer Frische, von Jahr zu Jahr seine segensreiche Wirksamkeit über weite Lande verbreitend. Seht dort am Fuße des Schloßbergs, am Ufer der forellenreichen Weiseritz im schönen, grünen Thale, das palastähnliche, geschmackvolle und im edeln Stil gehaltene Gebäude mit seinen lichtvollen Fenstern und Hörsälen. Dies ist der Sitz der weitberühmten Tharander Akademie für Forst- und Landwirthschaft.
Konnte es wohl ein geeigneteres und reizenderes Plätzchen geben für die Jünger der Naturwissenschaft und für Freunde und Pfleger des Waldes? Gewiß nicht. Fürwahr, hier, kann man sagen, geht die Wissenschaft im grünen Jägerkleide. Und es sind in diesen Wochen fünfzig Jahre gewesen, daß von diesem geistigen Quell an die zweitausend strebsame Jünglinge erleuchtet und erquickt hinausgezogen, welche den Namen des Städtleins Tharand ehrend durch Europa getragen haben. Denn wo man heut’ in deutschen Landen, und weit über dessen Grenzen hinaus, eine intelligente, edle und nutzbringende Pflege des Waldes findet, kann man in vielen Fällen getrost behaupten, daß die Pfleger an Tharands befruchtendem Quell gesessen und daß es der Segen der Tharander Forstakademie ist, der sich hier auf so erfreuliche Weise kundgiebt. Und wer ist der Schöpfer dieses so schönen und fruchtbringenden Instituts? Es ist jener Mann, der von sich selbst sagt: „Ich bin ein Kind des Waldes. Kein schirmend Dach überdeckte die Stelle, wo ich geboren wurde. Alte Eichen und Buchen umschatteten den Ort. Den ersten Gesang hörte ich von den Vögeln des Waldes. So bezeichnete bereits die Geburt meinen Beruf für den Wald.“
Wie auf dem Gebiete des deutschen Büchermarktes der Name „Cotta“ weit über ein halbes Jahrhundert als Stern erster Größe leuchtet, in noch reicherem Glanze erscheint der Name „Cotta“ auf dem Gebiete des rauschenden Waldes. Heinrich Cotta, geboren am 30. October des Jahres 1763 auf einsamem Jagdhause, unweit Meiningen, wo sein Vater Unterförster war, erhielt von Letzterem selbst den ersten Unterricht im Forstwesen. Später besuchte er die Universität Jena als Student der Cameralwissenschaft und Mathematik. Seine erste Anstellung im Forstfache verdankte er einem persönlichen Zusammentreffen mit dem damaligen Herzog von Weimar, der ihn auf einer Inspectionsreise als tüchtigen Fußgänger hatte kennen lernen. Heinrich Cotta ward Forstläufer mit zwölf Thalern jährlichen Gehalts.
Bereits in seinen Jünglingsjahren sammelte er eine Anzahl Schüler um sich, die er in Mathematik und im Forstwesen unterrichtete, und als er die Stelle seines Vaters erhalten hatte, gründete er auf einem herzoglichen Jagdschlosse, das ihm zu diesem Behufe eingeräumt worden, eine Lehranstalt für Forstleute. Es war dies die Pflanzschule der weltberühmten Tharander Forstakademie. Der Ruf seiner Tüchtigkeit überschritt bald die Grenzen seines kleinen Heimathlandes, und so ward er 1810 nach dem Königreiche Sachsen zur Vermessung der dasigen Staatsforsten berufen.
Cotta siedelte mit seiner Lehranstalt nach Tharand über, deren hohe Wichtigkeit die Regierung nur zu bald erkannte. Bereits im Jahre 1816 wurde sie zur Staatsanstalt erhoben, mit hinreichenden Mitteln ausgestattet und mit tüchtigen Lehrkräften versehen. Der Stifter und Director selbst – der frühere Forstläufer mit zwölf Thalern Jahresgehalt – erhielt den Titel Oberforstrath. Von jetzt an begann erst die wahrhaft segensreiche Wirksamkeit dieses vortrefflichen Mannes. Vom Jahre 1811 bis 1831 wurden unter seiner einsichtsvollen Leitung die Staatsforsten des Königreichs Sachsen, welche ein Capital von achtzehn Millionen Thalern repräsentiren, vermessen, abgeschätzt und der zweckmäßigsten Bewirthschaftung unterworfen. Nur wer mit dieser Riesenarbeit näher vertraut ist, vermag sich einen Begriff zu machen von dem Fleiße und der Mühe, die sie erfordert, von der Ausdauer und Genauigkeit, mit der sie ausgeführt worden ist.
Im Jahre 1830 erhielt die Forstakademie Tharand eine wahlverwandte Schwester-Anstalt in der Akademie für Landwirthschaft, welche unter die besondere Leitung des Dr. Schweitzer, eines der vortrefflichsten Schüler Thaer’s, gestellt wurde, und seit jener Zeit blühen und gedeihen beide Anstalten fröhlich neben einander.
Ein anderes schönes Denkmal, welches sich der schöpferische Geist Cotta’s gesetzt hat, ist der botanische oder sogenannte Forst-Garten, welcher in unmittelbarer Nähe der Schloßruine einen Flächenraum von über zwanzig Ackern einnimmt und in seiner forst- wie landwirthschaftlichen Abtheilung die interessanteste Sammlung forstlich wichtiger Holzarten und Anpflanzungen enthält.
Cotta war aber nicht blos ein geborner Director und praktischer Forstmann, sondern auch ein geborner Lehrer; denn die Natur hatte ihn ausgestattet mit einem scharfen Blick und hellem Verstande und mit dem liebevollsten Gemüth. Schlicht und lichtvoll war sein Vortrag. Wie verstand er es, seine Zuhörer zu fesseln, nicht sowohl durch glänzende Worte, sondern durch kernige, geistvolle und dabei stets auf das Praktische gerichtete Reden und Regeln! Dabei besaß er eine hohe, Achtung gebietende Persönlichkeit, ein kluges, freundliches Auge und ein heiteres, mildes Antlitz. Alles, was er that und sprach, zeugte von dem Adel seiner Seele. Sein Erscheinen verbreitete gleichsam eine Weihe, und seine Schüler waren zugleich seine Freunde. Und derselbe lichtvolle Geist, derselbe praktische Sinn, der sich bei Cotta aussprach auf dem akademischen Lehrstuhl oder als Forstmann im Walde, er durchweht auch seine zahlreichen Schriften, die sich durch Klarheit und Bündigkeit auszeichnen und eine sehr bevorzugte Stelle auf dem Gebiete der forstwissenschaftlichen Literatur einnehmen. So wirkte dieser mit reichem Geiste und dem edelsten Herzen begabte Mann – das Musterbild eines echten deutschen Forstmannes – in ununterbrochener reformatorischer, schöpferischer und gemeinnütziger Thätigkeit weit über ein halbes Jahrhundert hinaus, bis er sich an einem Spätherbsttage, „wo sich der Wald thut färben“, schlafen legte unter die achtzig Eichen, die man ihm ein Jahr zuvor zu Ehren seines achtzigsten Geburtstags gepflanzt hatte.
„So lange unsere Wälder grünen,“ heißt es in einem politischen Blatte, dem wir in unserer Lebensskizze zum Theil gefolgt sind, „so lange wird auch das Andenken Heinrich Cotta’s währen und in Ehren genannt werden, das Andenken dessen, der sich selbst ein Kind des Waldes nannte und dem Walde treu geblieben ist von der Wiege bis zum Grabe. Mitten im Walde ward er geboren – mitten im Walde ruht seine Asche!“ – und wir fügen hinzu: So lange der waldgrüne Name „Tharand“ genannt wird, wird darin auch leuchtend verflochten sein der Name „Heinrich Cotta“.