Ein Künstler-Bild (Bogumil Dawison)

Textdaten
<<< >>>
Autor: A.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Künstler-Bild
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 592–595
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Der Schauspieler Bogumil Dawison
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[592]

Ein Künstler-Bild.

Die Donner der letzten polnischen Revolution verhallten in Warschau, und zitterten noch nach durch das Herz eines kaum zwölfjährigen Knaben, der in dem ärmlichen Zimmer eines ärmlichen Hauses der Vorstadt saß, feuchten Auges, und mit zitternden Händen ein Thürschild bemalend. Neben ihm lagen Schulbücher des Lyceums, aber mit Staub bedeckt und in einen Lederriemen eingeschnallt. Ach, auch des Knaben Seele war eingeschnürt in dem eisernen Reifen der Noth und der Nothwendigkeit! Die Revolution hatte auch in sein junges Leben schreckbar eingegriffen. Seine Aeltern hatten vorher beschlossen, die schon früh sich zeigenden Talente des Knaben, mit Aufopferung des wenigen letzten Vermögens, in wissenschaftlichen Studium heranbilden zu lassen; der Knabe hatte schon eine erste Klasse im Lyceum betreten. Da kam die Revolution, sie nahm den Aeltern das für diese Ausbildung Bestimmte, und er mußte nun seine goldenen Träume von Bildung und Wissenschaft verfliegen lassen; er mußte Brot verdienen. Seine schon sehr schöne und sichere Handschrift ließ ihn zunächst Thür- und Schilderaufschriften ausmalen. Aber er hatte bereits gekostet vom Baume der Erkenntniß; die Segnungen und Beglückungen des Wissens ahnen gelernt, er strebte danach mit brennender Begier, – und er saß nun da: hungrig und kalt, wehmüthig und trotzig, jetzt auf die eingeschnallten Bücher, dann auf das farbenbeschmierte Bret blickend.

Seine schöne Handschrift auf den Thüren und Schildern zog ihm indessen schon bald die Aufmerksamkeit eines Sequestrators und eine Stelle als Schreiber bei demselben zu. Dort lernte ihn der Redakteur der Warschauer Gazette, Professor Kruzski kennen; beobachtete seine schon recht hübschen Schulkenntnisse und seine unermüdliche Wißbegier und nahm ihn dann als Schreiber auf sein Bureau. Er gab ihm Bücher, und guten Rath: wie dieselben am Besten zu benützen; er ließ ihn Sprachen lernen und des Knaben ungemeine Empfänglichkeit und Phantasie, bei eiserner Consequenz des Fleißes, ließen ihn schon mach zwei Jahren fertig Deutsch und Französisch sprechen und das Englische bis zum Lesen bringen. Nun wurde er aus einem Schreiber ein Uebersetzer; – aber immer fühlte er sich unglücklich, zerrissen bis zum tiefsten Grund seiner Seele; er strebte nach einem Besonderen, noch aber ihm Unbewußten; er strebte nach Wirken, That, Ehre, nach Schönem und Großem, er strebte eben wie jedes junge Genie strebt: „in dunklem Drange.“ Da auf einmal wurde dieser dunkle Drang ein klarer, lichtvoller; das Unnennbare, Unbewußte ein Bestimmtes, ein Ziel: er sah, wahrscheinlich zum ersten Male, ein großes Schauspiel auf dem ausgezeichneten ersten Theater seiner Vaterstadt, er sah darin den hochgefeierten Kudlicz, den ersten Schauspieler seines Landes, und da war es bestimmt in ihm:

„Schauspieler werden! Ein großer Schauspieler, ein zweiter Kudlicz!“

Rasch und energisch wie immer, ging er schon andern Tages zu Kudlicz hin, seine Wünsche und alle seine Verhältnisse mit lebendigen, frischen Farben der Leidenschaft ihm vortragend. Daraus allein schon glaubte Kudlicz sein Talent ahnen zu können; der Jüngling hatte ihn sofort gewonnen und der edle Künstler, der zugleich Professor war an der ausgezeichneten Theaterschule, womit das sogenannte „rohe“ Polen das sogenannte „gebildete“ Deutschland noch immer beschämt, bewirkte seine Aufnahme in dieselbe. So wurde er, im Jahre 1835, und 18 Jahre alt, academischer Schüler seiner Kunst. Schon nach zwei Jahren, nach glücklich abgelegter Probe, debütirte er als wirkliches Mitglied des ersten Theaters zu Warschau, mit 15 Thalern Monatsgage und natürlich noch als sehr untergeordnetes Mitglied. Aber er fühlte seine Kraft wachsen und wachsen; er wollte spielen, viel spielen, jeden Tag; und nicht ein Fach, sondern Alles; d. h. er wollte Menschen, nur Menschen, kein Rollenfach darstellen. Er ging deshalb schon bald zu einem kleineren Theater, nach Wilna. Hier [593] konnte er seinem Drange voll Genüge thun und Alles spielen was er wollte. Er spielte hier zwei Jahre lang die größten und kleinsten, die jüngsten und ältesten, die liebevollsten und teuflischsten Rollen. Hier machte er eigentlich die hohe Schule seiner Kunst durch, gewann er die außerordentliche Vielseitigkeit, die man jetzt an ihm bewundert, wie sie seit Garrik kein zweiter gehabt hat.

Dawison.

Nun bekam er schon einen ehrenvollen Ruf an das große polnische Theater zu Lemberg, wo er sich hauptsächlich dem Heldenfache zuwenden mußte, worin er bald ein gefeierter Schauspieler wurde. Bald wurde ihm auch vom Besitzer des Theaters, dem Grafen Skarbeck, die Oberregie anvertraut. Und dem polnischen Theater in Lemberg verdankt Deutschland seinen größten Schauspieler. Neben jenem befindet sich dort auch noch ein deutsches Theater; untergeordneten Ranges zwar, doch mit bedeutenden Mitteln versehen: gewinnt es häufig Gastspiele berühmter deutscher Schauspieler, namentlich der Koryphäen des kaiserlichen Burg-Theaters in Wien. Und Diese sah der Pole dort spielen, sah durch sie die ersten Meisterwerke deutscher Dichtung zum ersten Male Deutsch aufgeführt, und wie er an jenem Abend im Theater zu Warschau gerufen hatte: „Ich muß Schauspieler werden!“ so rief er jetzt aus: „Ich muß deutscher Schauspieler werden. Ich muß Lessing, Schiller , Goethe und den deutsch gewordenen Shakespeare Deutsch und in Deutschland spielen!“

Mit derselben Energie, womit der Knabe damals jenen Vorsatz ausgeführt, verfolgte der Mann nun diesen, und der erste Held und Oberregisseur, der schon gefeierte und theuer bezahlte Künstler am polnischen Theater verließ das Alles und wurde ein unbekannter, schlecht bezahlter, von den deutschen Schauspielern und dem deutschen Publikum seiner noch accentvollen Aussprache wegen oft verhöhnter und ausgelachter Anfänger. Das konnte eben nur ein echtes Genie, das als solches auch ein großer Charakter war. – Aber als solches konnte er auch nicht lange Anfänger in der neuen Laufbahn sein; bald schon war er als deutscher Schauspieler eine bedeutsame, wenn auch immer noch fremdartige Erscheinung. Der schon genannte Graf Skarbeck, dem auch das deutsche Theater gehörte, nahm nun diesen merkwürdigen Mann in immer höhere Gunst; er gewährte ihm Mittel zu einer großen und langen Reise durch Deutschland und nach Paris, um die deutsche und [594] französische Kunst gründlich kennen zu lernen. Und der Künstler that dies; einige Zeit kämpfte er zwischen deutscher und französischer Kunst. Den Polen zog zwar die Liebenswürdigkeit, die Feinheit und der Glanz der Letzteren besonders an, aber seinem tieferen Wesen, seiner unendlichen Natürlichkeit auch für die höchste Tragödie, seinem keuschen, sittlichen Kunstsinn trat die deutsche Kunst doch viel näher; sie gewann den Sieg über ihn. – Nun nach Lemberg zurück; dort noch tüchtig gespielt, den polnischen Accent bemeistert, ein Dutzend großer Rollen klassischer Werke einstudirt, traurigen und doch hoffnungsglücklichen Abschied von einer geliebten Braut (einer liebenswürdigen feinen Schauspielerin am polnischen Theater zu Lemberg) – und nun hinaus in das Land seiner Sehnsucht, nach Deutschland. – Er kam zuerst nach Breslau. Der große, knochigstarke Mann mit dem gewaltigen Kopfe, den scharfen, leidenschaftlichen Zügen, den unruhigen, eckigen Bewegungen und dem noch immer fremdartigen Accent, der Mann ohne alle die nothwendigen Requisiten von blauem Frack mit blanken Knöpfen, goldener Uhrkette, großem Siegelring, gelben Glacéhandschuhen, Empfehlungsschreiben, fuchsschwänzelnden und einschmeichelnden Redensarten, sondern eben nur jene herbe, spröde, fremdartige Erscheinung, mit dem einfachen Worte: „Ich bin Pole, habe aber in Lemberg schon Deutsch gespielt und möchte das auch hier thun“ – bekam als Antwort ein höhnisch freundliches Achselzucken.

Fünf Jahre später stand dieser Mann auf demselben Platze, als der hochgefeierte Gast vom kaiserlichen Burgtheater in Wien. Denn jener vor Frost und Hunger und Seelenschmerz weinende Knabe vor dem farbenbeschmierten Brette im armen Zimmer der Vorstadt Warschaus: er ist jetzt der größte, gefeiertste Schauspieler der Gegenwart, die erste Zierde am edelsten und schönsten deutschen Theater; in Farbe und Marmor schon verewigt, und der Centralpunkt von intelligenter Bewunderung und Liebe in der intelligenten Hauptstadt Sachsens, – es ist Bogomil Dawison in Dresden. – Von Breslau ging der Abgewiesene tiefgekränkt, doch nicht entmuthigt, hinweg. Um die scharfen Züge, mit dem Sarkasmus des Genies durchzückt, mag da wohl ein stolz-ironisches Lächeln der Bitterkeit und des Selbstbewußtseins gespielt haben. – Und so noch oft, denn noch oft wurde der fremdartige Mann, – manchmal wohl mit einem gewissen unheimlichen Gefühle solch trotziger Kraft gegenüber, – abgewiesen. Er litt viel! Innerlich und äußerlich. Aber das waren eben nur die formenden, härtenden Hammerschläge des Geschicks. – Einer derselben und eigentlich der letzte der schweren, hätte ihn bald vernichtet: er kam nach Berlin und sein erster Eintritt war eigentlich kein solcher, sondern ein Niedersturz, der eine gefährliche und höchst schmerzliche Verrenkung eines Beins bewirkte. Der arme, kranke, fiebernde Mann wurde in das Krankenhaus gebracht. Hier lag er drei Monate. Sein erster Ausgang galt dem ungeschwächt festgehaltenen Ziel: er ging zu Louis Schneider, dem damals noch sehr beliebten Schauspieler am königlichen Theater, dem geist- und kenntnißreichen Schriftsteller und liebenswürdigen Baudeville-Dichter. Dieser hatte ihn schon in Warschau kennen gelernt und ihm seine künstlerische Aufmerksamkeit zugewendet. Jetzt gab er ihm einen warmen Empfehlungsbrief an seinen Freund, dem Director des damals noch neuen und vortrefflichen Thalia-Theaters in Hamburg, Herrn Maurice, und Dawison kam im Winter 1847 nach Hamburg. – Hier war die Grenze seiner Leiden, der Anfang seines Ruhmes. Er trat zuerst auf als Hans Gürge in Holtei’s: „Die Perlenschnur“ und als Czsolsky im Maltitzschen: „Der alte Student.“, Ein paar junge schwärmerische Dichter fanden sofort „das Genie“ heraus; der göttliche Instinct im anfangs stutzigen, dann frappirten, zuletzt electrisirten Publikum fühlte unbewußt dasselbe und während einige alte Kritiker und Recensenten auf den Corridoren sich noch herumstritten: ob der neue Gast wirklich Talent habe, hatte ihn der sichre und praktisch schauende Director Maurice schon zu 32 Gastrollen engagirt. – Nach 14 Tagen war Dawison schon „der Löwe des Tages“ und das Thalia-Theater durch ihn angefüllt wie sonst selten. – Noch einige Zeit – und er war mit bedeutendem Gehalte auf zwei oder drei Jahre engagirt. Nun reiste er nach Lemberg und holte seine theure Braut als liebes, junges Weib in die neue Heimath.

Das war der erste Abschnitt seines neuen Lebens.

Sein Ruf ging nun schon durch die deutsche Theaterwelt. Gutzkow, damals Dramaturg am dresdner Hoftheater, suchte ihn unter glänzenden Anerbietungen für dasselbe zu gewinnen; desgleichen der General-Intendant von Küstner, für das Hoftheater in Berlin; Beide aber unter der Bedingung, daß Dawison sich nach seinem ersten Gastspiel engagiren lassen müsse, wenn er gefalle; Dawison aber in seiner freien, echt künstlerischen Weise, wollte auch eine ähnliche Bedingung für sich haben.

„Ich soll zeigen ob ich gefalle, – nun, so will ich denn auch sehen, ob es mir gefällt; habt Ihr Eure Freiheit mich nicht zu engagiren, wenn ich Euch nicht gefalle: so will ich auch die Freiheit haben, mich nicht engagiren zu lassen, wenn es mir bei Euch nicht gefällt.“

Diese echt künstlerische, aber bei einem noch nicht „berühmten“ Schauspieler ganz unerhörte Bedingung, wurde nicht angenommen und Dawison blieb noch in Hamburg, bis Herr von Holbein, damals noch Intendant des kaiserl. Burgtheaters in Wien, sie annahm und ihn 1849 zu Engagements-Gastrollen auf gegenseitiges Gefallen einladete. Des Letzteren war Dawison so sicher, daß er seine Familie, die sich um einen reizenden Knaben vermehrt hatte, gleich mit nach Wien nahm. – Seine Sicherheit wurde so glänzend gerechtfertigt, daß er gleich nach den ersten Rollen auf mehrere Jahre und mit dem bedeutendsten Gehalte der ersten Koryphäen daselbst engagirt wurde. Bald zählte man auch ihn dazu. Nun wurde sein Ruf immer größer, seine Gastspiele in den ersten Städten Oesterreichs zündeten überall in selten erlebter Gewalt; dann kam er nach Breslau. Wo man ihn damals mit höhnischem Achselzucken nach Brieg und Ohlau verwiesen hatte, flogen ihm jetzt Lorbeerkränze entgegen. – Aber für das allgemeine Deutschland war er noch kein „berühmter“ Name. Erst der eifrig-künstlerischen Intendanz, dem lebendig empfänglichen und gebildeten Publikum und der warmen und geistvollen Kritik und Intelligenz Dresdens war es vorbehalten: von hier aus Dawison’s Name durch das ganze Vaterland tragen zu lassen und seinem großen Genius die vollste Anerkennung und Geltendmachung zu verschaffen.

Im Sommer 1852 gastirte Dawison zum ersten Male in Dresden, als hier noch nicht bekannter Name, in seiner ersten Rolle vor leerem Hause; in der zweiten schon vor weit vollerem, in der dritten vor gedrückt vollem Hause und mit den übrigen bewirkend, was Roger und Demoiselle Rachel nicht vermochten: bei peinigend schwüler Sommerhitze alle Räume des Hauses über und über zu füllen. Das war die Macht des Genies, das sich in wenigen Tagen eine große Stadt gewann. Freilich gehörten zu solchem Siege auch die übrigen oben berührten Elemente in dieser Stadt. Sie machten dieselbe dem Künstler auch unendlich lieb und schätzenswerth und mit demselben Eifer, womit ihm schon bald wieder ein zweites Gastspiel dort angeboten und von hoher Seite her ermittelt wurde, nahm er es an. So kam Dawison im Dezember 1852 zum zweiten Male nach Dresden und was seit Jahren bei einem Schauspieler nicht erlebt war: sein Gastspiel wurde mit erhöhten Preisen angekündigt und dennoch bei stets vollem Hause, unter dem donnernden Jubelrufe des Publikums, unter der höchsten und allgemeinsten Anerkennung der Kritik ausgeführt.

Dem armen, vor Frost, Hunger und sehnsüchtigem Geistesdrange weinenden Polenknaben vor dem farbenbeschmierten Thürschilde, gaben die Koryphäen der Intelligenz und Kunst der Hauptstadt Feste, als dem größten Schauspieler der Gegenwart; er wurde zu den Majestäten nach Hofe geladen und kehrte ruhmgekrönt zu seiner glänzenden Stellung in der Kaiserstadt zurück, wo Statuen und Bilder ihn verewigten, wo er mit dem größten Gehalte aller dortigen ersten Größen aufs Neue für viele Jahre gewonnen wurde.

Doch „der Mensch versuche die Götter nicht!“ So auf dem Gipfel seines äußeren Ruhmes und Glückes, sollte er doch nicht völlig glücklich sein. Die feine Organisation seiner Frau, begann an der wiener Luft zu kränkeln: es zeigte sich die Nothwendigkeit, die zarte, liebe Pflanze in ein helleres, frischeres Licht zu bringen und Dawison, der erst Gatte und Vater und dann erst Künstler sein wollte, sah die Nothwendigkeit ein, seine große und glänzende Stellung am kaiserlichen Theater zu verlassen. Er bat um Entlassung, – dringender und dringender; – man versprach, man wies ab und versprach wieder. Aber der heißblütigen und rasch energischen Natur Dawison’s, so wie seiner auch wohl zu ängstlichen Gattensorge, war solches Zaudern und Hin und Her unerträglich und führte dann, in Verbindung mit Direktor Laube’s [595] bekanntem Wesen leider zu jener Scene zwischen Beiden, die von den Journalen weidlich genug ausgebeutet wurde, um sie hier noch weiter zu verfolgen. Das Resultat war natürlich der Sieg der Macht. Dawison bekam die Weisung, vorläufig das Theater nicht wieder zu betreten, dessen Vorstand er so scharf verletzt hatte; seine Entlassung aber erhielt er nicht. Das war nun wohl die schrecklichste Lage, in die der gewaltige Wirkungsdrang des Genies gerathen kann. Durch die Gnade des Kaisers aber, gefördert durch den rastlosen Eifer der dresdner Intendanz, durch die Macht der öffentlichen Stimme, durch den feinen künstlerischen Blick des Kaisers auf die Genialität seines Künstlers, wurde derselbe doch schon bald aus jener Lage befreit. Er kam nach Dresden, wo er eine neue Epoche dieses herrlichen Theaters und seines eigenen Lebens begann.

Nach dieser raschen Ueberschau seines Lebens, wollen wir nun noch einen Blick auf das eigentliche Wesen seines Schaffens werfen und darzulegen suchen, worin die seltene Macht desselben besteht. Ein Verzeichniß seiner Hauptrollen mag zuerst den weiten Kreis seines Wirkens bezeichnen: Carlos in „Clavigo,“ Alba in „Egmont,“ Marinelli in „Emilie Galotti,“ Burleigh in „Maria Stuart,“ Hamlet, Marc Anton in „Julius Cäsar,“ Richard III., Franz Moor in „die Räuber;“ von neuen Rollen: Holofernes in Hebbel’s „Judith,“ Mephisto in „Faust,“ Shyllock in „der Kaufmann von Venedig,“ Muley Hassan in „Fiesko,“ Fox in Gottschall’s „Pitt und Fox,“ Benedict in „Viel Lärmen um Nichts;“ in Vorbereitung: Othello. Von Genrebildern: Bonjour in „die Wiener in Paris,“ Spielwaarenhändler, Riccaut in „Minna von Barnhelm,“ Hans Jürge in „die Perlenschnur“ u. a.

Diesen so beschriebenen Kreis beherrscht er nun mit hinreißender Gewalt der höchsten Leidenschaft, mit bannender Macht keuschester und einfachster Natur, Wahrheit und Gesundheit und mit tiefster Erfassung, Durchdringung und Entwickelung des Gegenstandes durch seine große Intelligenz, seinen scharfen, scheidenden Verstand und sein geistreiches, tief psychologisches Eindringen in die innerste Werkstätte, in das feinste Räderwerk der Menschennatur. Jede einzelne dieser großen Gaben hat schon bedeutende Schauspieler gebildet; in Dawison vereinigt, haben sie ihn zum Bedeutendsten gemacht, wenn auch andere große Schauspieler wieder andere Gaben besitzen, die er nicht hat, wenigstens nicht so vollkommen wie jene. – In ihm vereinigt, reißt er uns hin, elektrisch durchzuckt, bis zum heftigsten Sturm und Donner der Leidenschaft, bis zum höchsten, kühnsten Schwung des Ideals; läßt er uns dabei doch stets die Beruhigung maßvoller Beherrschung zurück, läßt er uns stets auf gesundem, concretem Boden der Wahrheit stehen; führt er uns der Menschennatur tiefste und geheimste Laute in allen Tinten und Tönen ihrer ewigen Wechselwirkung vor. Da ist nirgends Willkür, Planlosigkeit, sondern überall tiefste Berechnung bei größter Unmittelbarkeit. Da ist kein Einzelnspiel, kein Kunststückchen, kein effectberechneter „Abgang,“ sondern immer nur ein Ganzes, Volles, Rundes. Da ist kein Machen, sondern ein Werden, ein organisches Wachsthum nach innerster Naturnothwendigkeit.

Das ist das Leben und die Charakteristik des Künstlers Dawison. Der prächtige, frische, kühne Mensch Dawison wird aus Jenem leicht zu erkennen sein. Das Motto zu ihm dürfte heißen: „Wär’ ich bedächtig, hieß ich nicht der Tell!“

A.